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eiLcrge zu Ar. 147 des KnzthüL'ers.

Neuenbürg, Donnerstag den 21. September 1893.

Was will Frankreich?

Die Wahlen des 20. August und 3. Sept, haben der gemäßigten Republik eine Mehrheit verschafft, wie nie zuvor. Ob diese Mehrheit dauernd unter einen Hut zu bringen sein wird, ob dieselbe bei stetiger Resormarbeit auszuharren gedenkt, ist eine Frage der Zukunft; die Folge hat aber das Ergebnis der Deputiertenwahlen schon bis heute gehabt, daß Rußland aus seiner bisher beobachteten Zurückhaltung heraustritt und den von den Franzosen seit Jahr und Tag heiß ersehnten Flottenbesuch an der Küste Frank­reichs zur Ausführung bringt, denn Rußland hat sich endlich davon überzeugen lassen, daß die Regierung der Republik an Bündnisfähig­keiten bedeutend gewonnen hat. Frankreich gerät in einen Taumel des Entzückens. Der Präsident Carnot wird, begleitet vom russischen Botschafter v. Mohrenheim, vom Ministerpräsidenten Dupuy, vom Kriegsminister und dem Finanzminister, nach Toulon gehen, um das Geschwader des mächtigen Freundes zu begrüßen. Die bloße platonische Freude über den Besuch in Toulon ist cs jedoch unmöglich allein, welche Frankreich in einem Meere von Wonne schwimmen läßt. Man will dort drüben etwas von den Russen, welche bisher für alles Wetlkricchen vor dem Zaren nun freundliche Redensarten fH'r die Franzosen übrig gehabt haben, sonst nichts! Greifbares hat die Visite von Kronstadt nicht eingcbracht. Frankreich will aber nicht umsonst dem Gegner von 1812 und dem Besiegten des Krimkrieges zu Füßen gelegen haben, cs wird ungeduldig und wünscht klipp und klar ein rechtsverbindliches, öffentliches Vertragsdokument, welches Frankreich das Bündnis Rußlands für alle Fälle sichert. Das ist es, was man jenseits der Vogesen fieberhaft erwartet. Um den Zaren williger hierfür zu stimmen, hat man in Frank­reich keinen Anstand genommen, der nordischen Großmacht einen französischen Mittelmeerhafcn zur Verfügung zu stellen für die in der Bildung begriffene russische Mittclmeerflotte. Es mag auch heute noch billig zu bezweifeln sein, ob Rußland das Flehen Frankreichs erhört. Was sollte Rußland dazu zwingen? Seine Ziele sind die Ausdehnung in Asien nach Süden hin, um endlich einmal dort einen Küstenstreifen am offenen Ozean zu gewinnen. Das Petersburger Kabinet ist gerade jetzt ungemein thätig, in Persien vorerst nur handelspolitisch bedeutenden Einfluß zu gewinnen. Rußlands Ausdehnungs- besserungen sind indessen keineswegs so eng Umrissen; in Armenien, in Syrien, in Abessinien ist das orthodoxe Kaisertum beflissen, Anknüpf­ungspunkte zu finden, selbst auf Kosten seiner Freunde, der Franzosen, die seit dem heiligen Ludwig das Schutzrecht über die Christen des Orients in Anspruch nehmen. Das steht jedoch fest, hat erst Rußland mit französischer Beihilfe einen Stützpunkt im westlichen Mittelmeer ge­nommen, so ist sein dortiges Geschwader eine sehr ernst zu nehmende Bedrohung für Italien und damit indirekt für den Dreibund wie für England. Und nach dieser Richtung verheißen die unfreundliche Haltung der Regierung in Petersburg gegen Italien, wie die Gehässigkeit, mit welcher die russische Presse die Teilnahme des italienischen Kronprinzen an den deutschen Kaisermanövern beurteilt, nichts Gutes. Frank­reich hat vor kurzem zweierlei sich klar gemacht, erstens, daß Deutschland durch Genehmigung der letzten Militärvorlage seitens des Reichstages den westlichen Nachbar auch numerisch von 3ahr zu Jahr beträchtlich überflügeln muß, zweitens, daß die Rcichslande Elsaß'Lothringen sich allmählich in die durch den Frankfurter Frieden geschaffenen Verhältnisse hineiugelebt haben und daß die früher in den Reichslanden unstreitig vorhandene Sympathie für Frankreich verblaßt ist. Will Frankreich je die 1871 ver­lorenen Provinzen wieder gewinnen, will es nicht umsonst seit 22 Jahren sich die größten Opfer auferlegt haben, so muß es sich beeilen;

denn die Verhältnisse ändern sich mit jedem Jahre mehr zu seinen Ungunsten. Allein wagt es nicht, den Kampf auf Tod und Leben mit uns zu beginnen. deshalb soll Rußland dazu jetzt veranlaßt werden, Farbe zu bekennen. Wird Rußland diesem Liebeswerben widerstehen? Das ist eine Frage, deren Beantwortung der kommende Winter bringen wird. Die Festtage von Toulon und Paris bergen auch verhängnis­volle Loose für Rußland. Und wir? Der Bericht­erstatter desGaulois" über die deutschen Kaiser­manöver in Lothringen sieht sich zu folgendem Zugeständnis gezwungen:Die Deutschen fühlen sich stark, und das zeigen sie. Aber zugleich zeigen sie sich ruhig und sicher in ihrer Kraft."

Unterhaltender Heil.

Verloren und Gewonnen.

Novelle von C. Martin.

(Fortsetzung)

(Nachdruck verboten.)

Frau Werner hielt erschöpft inne. Ihre großen, blauen Augen blickten wehmütig auf ein Kinderbild, welches über dem Sopha hing. Dann fuhr sie fort:Nach langer, schwerer Krankheit nahm mir Gott auch meinen kleinen Liebling. Dieses Kind, welches in mir seine Mutter verehrte mich durch seinen Frohsinn aufrichtete in den Stunden der bittersten Seelen­not ging dahin und ließ mich allein! Bruno hatte die kleine Hedwig nie gern gehabt, er sah in ihr die unschuldige Ursache des Todes seiner Frau. Nun sie zu der ging, die er schmerzlich betrauerte, ward auch er bewegt.

Aber völlig ratlos stand er meinem Schmerze gegenüber, ihn erschreckte die Leidenschaft des­selben, er konnte es nicht fassen, daß das Kind einer Fremden so ganz mein Herz besessen! Da in der Fassungslosigkeit, die mich ergriffen, sprang der künstliche Bann, der meine Gefühle eingedämmt schluchzend mich noch einmal über die kleine Leiche werfend, rief ich:Es ist auch Dein Kind, Bruno!"

Mit Deinen Augen sah mich mein süßer Liebling an die Farbe seiner Locken war die Deines Haares!" Entsetzt hielt ich inne! Was hatte ich gethan? Ich richtete mich jäh auf und sah zu Bruno hinüber. Sein Gesicht war bleich, aber unendlich milde. Halb ohn­mächtig sank ich zu seinen Füßen nieder, sanft hob er mich auf und küßte meine Stirn."

Wir wollen nun vereint um die teuren Toten weinen", sprach er.Habe Dank für Deine Liebe und vergieb mir meine selbstsüchtige Trauer. Fortan leben wir ein neues Leben."

So bin ich ein glückliches Weib geworden".

Mela drückte heftig die zarte Hand, die in der Ihrigen ruhte.

Dank, Dank für Ihre Erzählung! Ich wußte bis jetzt nicht, daß cs so viel Kummer in der Welt giebt. Mir erschien das Leben stets lachend und sonnig. Man sieht es den Menschen selten an, wie sie ringen, wie ihr lächelnder Blick nur Maske!

Auch ich will versuchen, die Last auf mich zu nehmen, die mir Gott zu tragen gab. Ich will stark sein, wie Sie stark waren ! was ich beginnen werde, weiß ich noch nicht, ich denke, eine angestrengte Thätigkeit hilft am Besten überwinden!"

Da haben Sie das Rechte getroffen, Mela!" sprach Frau Werner, das junge Mädchen sanft an sich ziehend. Die Arbeit war auch mir eine Trösterin in den ersten schweren Jahren meiner Ehe! Glauben Sie auch noch nicht an ein Ende wenn Rodach ihre Reue sieht, wird er früher oder später zu Ihnen zurückkehren."

Ja er muß!" Mela sprang leidenschaft­lich auf.Wo er auch immer weilen möge, meine Gedanken werden bei ihm sein, meine Gebete werden ihn zu mir zurückführen. Nur mit^dieser Hoffnung haßt sich weiter leben.

So gehen Sie mit Gott, Mela! Er wird Sie ans Ziel führen, wenn Sie treu bleiben und ausharren. Was Sie auch beschließen mögen, ordnen Sie Ihre Wünsche den seinen unter. Gewiß findet sich auch hier eine passende Thätigkeit für Sie. Ihre Schwägerin ist leider zu oberflächlich ein gutes Vorbild kann sie Ihnen nicht sein. Sie wird immer wieder Ihre Weltlust rege machen, Sie neuen Triumphen zuführen wollen.

Bleiben Sie fest bei diesen Lockungen! Ro­dach .wird Sie beobachten lassen, und wichen Sie auch nur noch ainmal ab von seinen Grund- sätzen die Trennung müßte eine ewige sein."

Ich will Ihnen in Allem folgen, verehrte Frau! Lassen Sie mich nur manchmal Her­kommen, um mich aufzurichten, wenn ich schwach werde!"

Ach, hätte ich jenen Eislauf mit Blumen­reich nicht gewagt, so wäre ich heute seine Ver­lobte! Nun will ich denken, er habe das bin­dende Wort schon gesprochen ich will seine Braut bleiben, bis er mich heimholt bis ich sterbe!"

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Melanie berichtete am folgenden Abend ihren Geschwistern, daß sie am Morgen bei Fräulein Amthor gewesen, um dieselbe zu bitten, ihr die Sprachstunden in ihrem Pensionat zu gewähren. Sie war mit Freuden angenommen worden, sollte auch in den oberen Klassen der Mädchen­schule unterrichten, da die Französin im Begriff sei nach Paris zurückzukehren.

Frau Leonie saß wie erstarrt.

Das thust Du uns an?" rief sie endlich und eine Flut von Vorwürfen folgte.

Du mußt zurücktreten, Mela, hörst Du? Benno untersage doch einfach Mela. solch unpassenden Schritt zu thun! Sie zerstört ihre ganze Zukunft! Wird Blumenreich noch um sie werben! Werden die Offiziere noch mit einer Lehrerin tanzen? Es ist zu absurd."

Ich habe nicht die Absicht, Bälle noch zu besuchen, ich fühle mich zu alt zum Tanzen", sprach Mela.

Ihr Bruder lachte laut auf.

Lieb' Schwesterchen, ich finde es zwar durchaus nicht passend, daß Du zu Fräulein Amthor gegangen bist, ohne Dich vorher mit mir, als Deinem natürlichen Beistand zu beraten, aber ich sehe Dir in Deiner jetzigen Gemüts­verfassung manches nach. Das Verlangen nach einer gewissen Selbständigkeit und die Ueber- reizung der Nerven haben Dich zu dem Ent­schlüsse gebracht.

Nächsten Winter hoffe ich meine kluge Mela wieder in der Gesellschaft glänzen zu sehen, und sollte auch Blumenreich nicht Dein Gatte werden, der Rechte wird schon kommen, der Dich von Deiner Lehrerinnen-Manie heilt."

Du erlaubst es wirklich?" Leonie erhob sich aufgeregt.

Ich hätte nicht gedacht, daß meine Wünsche so wenig Berücksichtigung finden." Empört verließ sie das Zimmer.

Herr von Rosen wollte seiner Frau Nach­eilen, doch Mela hielt ihn zurück:

Ein Wort noch, Benno! Ich will Euer Haus verlassen, wenn Leonie sich nicht in meinen Lebensplan schicken kann. Unfrieden zwischen Euch kann ich nicht stiften!"

Du bleibst!" fuhr der Bruder heftig auf. Leonie wird sich fügen, auch Du wirst schnell anderen Sinnes werden. Es ist eine Laune von Dir, weiter nichts." Damit ging er.

Mela schlug die Hände vor's Gesicht.

Eine neue Laune", wiederholte sie bitter.

So wird auch Rodach sprechen!"

Die nächsten Wochen vergingen Mela in strenger Thätigkeit. Rodach ward nie erwähnt, ein Wiedersehen war den Beiden nicht geworden. Ob der Graf es absichtlich vemied, Melanie zu treffen?

> Er hatte in jenen Regentagen seine Stief-