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obgleich die Armeeorganisation ihre volle Wirkung noch gar nicht halte üben können und obgleich die Preußen namentlich in Westdeutschland mit großer Uebermacht zu kämpfen hatten. Es ist ein wahres Wort: Junge Soldaten, geführt von jungen Offizieren, haben im Anfänge unseres Jahrhunderts alles Bestehende über den Haufen geworfen; junge Soldaten, von jungen Offi­zieren befehligt, haben Deutschlands Eiligkeit erfochten.

Die preußische Verpflichtung zu dreijähriger Präsenz bei der Fahne für alle dienstfähigen Mannschaften ist dann in die Reichsverfassung übergegangen. Bis heute aber ist die allgemeine Wehrpflicht im deutschen Reiche und in Preußen noch nicht durchgeführt. Alljährlich kommen viele junge Leute zur Ersatzreserve oder bleiben überzählig, die zum größeren Teil vollkommen kriegstauglich sind; in den Jahren 1890 und 1891 schwankte ihre Zahl zwischen 90 000 und 100 000. Im Mobilmachungsfalle gehen die Kräfte der Kriegstauglichen unter ihnen der Feldarmee verloren, weil sie gar nicht oder nicht genügend ausgebildet sind, während ältere, durch Beruf, sitzende Lebensweise, Familiensorgen, kampf- und wegemüde Leute die Kriegsforma­tionen ausfüllen helfen und die ersten Entschei­dungsschlachten mit schlagen müssen. Wieder tritt also wie vor dreißig Jahren der Gesichts­punkt hervor, daß es im militärischen In­teresse dringend erwünscht sei, die Feldarmee jünger und damit schlagfertiger zu machen. Die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht ist aber auch ein politisches Gebot der Selbst­erhaltung. Für das deutsche Reich steht gewiß noch Größeres auf dem Spiel als damals für Preußen. In unserer politisch-geographischen Lage können wir zu Kriegen genötigt sein, welche die größte Anspannung aller Kräfte ein möglichst tüchtiges Heer für die Entscheidungs­schlachten, große Massen zur Aufstellung an verschiedenen Grenzen erfordern.

Württemberg.

Mit Ermächtigung Sr. Maj. des Königs ist Regierungspräsident v. Luz in Reutlingen seinem Ansuchen entsprechend von der Funktion des Vorsitzenden des Schiedsgerichts für die landw. Berufsgenossenschaft für den Schwarz­waldkreis entbunden und der Reg.-Rat. Höll- dampf in Reutlingen zum Vorsitzenden dieses Schiedsgerichts, sowie der Reg.-Assessor Ober­amtmann Seitz ebendaselbst zum Stellvertreter des Vorsitzenden bestellt worden.

«Stuttgart, 20. Mai. Die Landesver­sammlung des Evang. Bundes in Württem­berg, die auf 13. u. 14. Juni in Kirchheim u. T. festgesetzt war, muß wegen der am 15. Juni stattfindenden Reichstagswahlen bis auf weiteres verschoben werden.

In der badischen Irrenanstalt Illen au ist der frühere Leibarzt des Königs und Vorstand der med.-gynäk. Abteilung des Ludwigsspitals Dr. Julius v. Teuffel gestorben. Auf be­sonderen Wunsch des Verstorbenen fand Feuer­bestattung in Heidelberg statt.

Der Württ. Schutzverein für Handel und Gewerbe nimmt nun gleichfalls Stellung zu den bevorstehenden Reichstagswahlen, indem er folgenden Aufruf ergehen läßt: Nachdem der Reichstag wegen Ablehnung der Militärvorlage in der Form des Antrags Huene aufgelöst wor­den, ist zu befürchten, daß bei den bevorstehen­den Reichstagswahlen gerade die Militärvorlage so sehr in den Vordergrund gedrängt wird, daß die Stellung zu derselben das einzige Motiv bilden wird, nach dem die Abstimmungen sich richten. Der Reichstag wird aber nicht nur wegen der Militärvorlage gewählt; er hat eine gesetzliche Dauer von 5 Jahren, innerhalb welcher eine große Anzahl von wirtschaftlichen Fragen, die in unser Erwerbsleben tief einschneiden, zur Erledigung gelangen werden. Es ist für den Mittelstand zu beklagen, daß seither die Stellung­nahme zu solchen Fragen viel zu sehr in den Hintergrund gestellt wurde und daß unsere Standesgenossen dem Appell der politischen Par­teien ohne Rücksicht auf die eigenen Interessen viel zu willig gefolgt sind; so lange die Partei­

interessen über die wirtschaftlichen Interessen des Mittelstandes gesetzt werden, wird dieser aus seiner Notlage nicht befreit werden. Bei den bevorstehenden Wahlen empfehlen wir da­her, jeden der Kandidaten, sei es durch eine be­sondere Deputation, sei cs durch öffentliche An­fragen in den Wahlversammlungen darüber zu interpellieren, wie sie sich zu unseren Forder­ungen stellen: 1)Einschränkung der Konsum- Vereine auf die Kreise, welche innerhalb der Grenze der sozialen Gesetzgebung sich befinden. (Einkommen bis 2000 vkL)". Desgleichen:Ver­bot der Beamten- und Offiziers-Vereine, welche den Zweck gemeinsamen Warenbezugs verfolgen." 2)Einschränkung des Hausiergewerbes auf ge­setzlichem Wege auf Grund der Bedürfnislage, Verbot des Detailreisens, der Wanderlager, der schwindelhaften Ausverkäufe. Gesetzliche Bestim­mungen gegen inloyale Konkurrenz nach Muster des französischen Gesetzes gegen eoneurrcucc äöloxalc". 3)Progressive Gewerbe- und Ein­kommenssteuer in der Weise, daß ein Großbe­trieb verhältnismäßig höheren Steuersatz zu leisten hat, als ein Gewerbetreibender mit einem den Lebensunterhalt kaum deckenden Ertrag seines Geschäfts".

Cannstatt, 21. Mai. Sicherem Ver­nehmen nach findet die Kaiserparade am 12. Sept. auf dem hiesigen Exerzierplätze statt.

Künzelsau, 22. Mai. Im Weinberge des Fr. Burkart in Criesbach fand man dieser Tage eine blühende Traube.

Aus Freuden st adt (VIII. Wahlkreis) wird mitgeteilt, daß, nachdem Kommerzienrat Mauser eine Kandidatur abgelehnt hat, die Vertrauensmänner der deutschen Partei in einer in Freudenstadt unter Vorsitz von Stadtschultheiß Hartranft abgehaltenen Versammlung einstimmig beschloßen, Redakteur Stockmayer in Stutt­gart als Kandidaten aufzustellen.

Nach der jetzt fertiggestellten Statistik der württembergischen Turnverein e befinden sich am 1. Jan. 1893 in 194 Orten 205 Turnver­eine mit 22 073 Turnern. 85 Gemeinde- oder Schulturnhallen sind bereitwillig den Bereins- turnern zu ihren Uebungen überlassen. 3 Ver­eine besitzen eigene Turnhallen, 33 eigene Turn­plätze, 71 Vereinen fehlt die Gelegenheit, im Winter üben zu können. Das Kreisturnfest in Schwäbisch Hall war von 3500 Turnern besucht. Neu eingesührt war auf demselben ein Wetr- turnen der Vereine, das sich gut bewährte. Der Kreis ist in 15 Gaue geteilt. Die Zunahme beträgt gegen das Vorjahr 11 Vereine und 802 Mitglieder. Die lebhafteste Beteiligung an der Turnsache finden wir in Stuttgart mit 3 Ver­einen und 1058 Mitgliedern, Eßlingen zwei Vereine und 750 Mitglieder, Heilbronn 500 Mitglieder, Ulm 2 Vereine uud 795 Mitglieder, Cannstatt 721 Mitglieder. Reutlingen 2 Vereine und 608 Mitglieder. Ueber 300 Mitglieder zählen 5 Vereine, über 200 9 Vereine, über 100 51 Vereine, alle übrigen 100 und darunter. Die Angelegenheiten des Kreises besorgt der Kreisausschuß, aus 7 Mitgliedern bestehend, welchem ein technischer Ausschuß mit 4 Mann beigeordnet ist.

Zustand.

Bern, 17. Mai. Es stellt sich heraus, daß der durch die außerordentliche Witterung verursachte Notstand in einzelnen Gegenden größer ist. als man angenommen hat, und daß namentlich der Viehzucht eine große Gefahr droht, indem die Bauern aus Mangel an Futter gezwungen sind, ihr Vieh massenweise zu ver­äußern. Die Viehzucht aber ist ja in verschie­denen Kantonen die Hauptquelle des Wohlstandes. Die Regierungen treffen denn auch Maßnahmen größeren Umfanges, und auch der Bundesrat wird sich zu Vorkehrungen entschließen.

Die Pariser Polizei muß sich wieder einmal mit anarchistischen Dynamitbolden ab­geben. Es ist von ihr ein ganzes Nest solcher unheimlichen Gesellen in der Umgebung von Paris aufgehoben worden, wobei zugleich fertige Sprengbomben, Sprengstoffe und Materialien zur Herstellung von Höllenmaschinen aufgefunden

wurden. Zweifellos waren von den Verhaftet-» neue Dynamitattentate beabsichtigt.

Tralee (Irland). 23. Mai. Bei einem Eisenbahnzug, der mit Schweinen beladen war und zwei Passagierwagen mitführte, verlor der Lokomotivführer die Gewalt über die Brems­vorrichtung. Bei dem Ueberschreiten einer Brücke stürzten sieben Schweinewagen 40 Fuß hoch j den Fluß. Die zurückgebliebenen Wagen wor­den stark beschädigt. Der Lokomotivführer und zwei Heizer sind tot; 11 Passagiere schwer verlem Christiana, 23. Mai. Bei einem Erd­rutsch in Vardalen sind 119 Menschenmqe! kommen, 44 wurden gerettet. ^

Petersburg, 20. Mai. Gestern wurde ein Gesetz amtlich veröffentlicht, demzufolge die körperliche Züchtigung von Frauen, die zur Deportation verurteilt sind, abgeschafft wird.

Langsam, aber sicher reiht sich in der Spe­zialberatung der irischen Home-Rule-Bill für Gladstone ein Erfolg an den andern. Schon der grundlegende § 1 wurde vom Unlcrhause mit einer Mehrheit von ca. 50 Stimmen unver­ändert angenommen. Am Mittwoch ist nun der zweite Paragraph der Bill ebenfalls mit ver­hältnismäßig beträchtlicher Mehrheit, mit 287 gegen 225 Stimmen, genehmigt worden, ein­schließlich des von James beantragten Amende­ments, wonach die oberste Gewalt des Reichs- Parlaments ungeschmälert bleiben soll. Hierauf wurde die weitere Beratung der Home-Rule-Bill bis zum 30. d. M. vertagt.

Die Ausführung des Gesetzes, betr. die Ausweisung der in Nordamerika lebenden, nicht einregistrierten Chinesen aus der Union, ist fraglich geworden. Dies vor Allem aus finanziellen Gründen, denn die Maßregel würde einen Kostenaufwand von mindestens 5 Millionen Dollars verursachen, diese Gelder sind aber für den genannten Zweck so gut wie gar nicht vor­handen. Außerdem würde aber die chinesische Regierung die etwaige Vertreibung ihrer Staats- Angehörigen aus der Union zweifellos mit der Ausweisung der etwa 1000 Köpfe starken Ame­rikaner, die in China leben, beantworten, was für die meisten derselben gleichbedeutend mit ihrem wirtschaftlichen Ruin wäre.

Der endgiltige Sieg der Revolution in der südbrasilianischen Provinz Rio Grande do Sul wird immer wahrscheinlicher. Die Regier­ungstruppen unter General Teiles sollen bei Ponche Verde von den Insurgenten völlig zer­sprengt worden sein und die gesamte Artillerie verloren haben.

Wermischtes.

Auf dem Standesamt zu Mainz wurde am 17. ds. ein nach kurzer Ehe geschiedenes junges Paar zum zweitenmal getraut. Nach dem Locke civil war die Wiederverheiratung geschiedener Gatten unzulässig; durch" das Reichs­gesetz über die Eheschließung wurde dieses Ehe­hindernis beseitigt. Hoffentlich verstehen sich die^ jungen Leute jetzt besser.

Als Erinnerung an trockene Jahre und frühere Notstandsmaßregeln bringt das Luzerner Vaterland" nachstehende Mitteilung: JmZahre 1363 war der Sommer so heiß, daß alles Gras verdorrte und man den größten Teil des Viehes wegen Futtermangels schlachten mußte. Im Jahre 1586 fiel vom 28. April bis 12. Juli elf Wochen lang kein Regen. 1837 war eine solche Trockenheit und deswegen ein solcher Futtermangel, daß für den Zentner Heu 12 alte Franken (17 neue) bezahlt werden mußten. Da erbarmte sich die Obrigkeit von Zug der leidenden Tiere. Sie ließ ausspüren, wo noch Futter vorrätig sei, und befahl unter Buße, den Zentner nicht höher als um 8 alte Franken (11 neue) herzugeben.

(Druckfehlerteufel.) Für eine große Keilerei wird ein kräftiger Hausknecht gesucht, der ordent­lich zufaßt. Wasserspüler, Weinhändler.

(Scherzfrage.)Wer brachte den ersten Toast aus?" Herodes; denn er sprach: Mädchen sollen leben!"

Redaktion, Druck und Verlag von Chrn. Meeh in Neuenbürg.