Württemberg.

Stuttgart. 27. Febr. Der Orient- erpreßzug (Paris-Wien), welcher um 7 Uhr 42 Mm. heute früh hier eintreffen sollte, ist. wie schon m der letzten Nr. berichtet, zwischen Großsachsenheim und Bietigheim, nächst der erst­genannten Station, entgleist. Präs. v. Balz hat sich sofort persönlich an den Ort des Un­glücks begeben. Von den im Zug befindlichen 20 Reisenden ist niemand, vom Zugspersonal nur der Lokomotivführer, und zwar unbedeutend, ver­letzt. Wir erfahren über den verhältnismäßig sehr gut abgelausenen Eisenbahnunfall noch folgende Details: Die Maschine ist eine ziem­lich hohe Böschung hinuntergefallen und es wird mehrerer Tage bedürfen, bis sie wieder auf das Geleise geschafft wird. Der Lokomotivführer und Heizer flogen in weitem Bogen auf das Feld, ivobei nur ersterer eine leichte Beschädig­ung an der Stirne erlitt. Der Packwagen ist umgefallen und fiel zum größten Teil auf das nebenliegende Geleise. Alle übrigen Wägen des Zuges find gleichfalls aus dem Geleise gekom­men und haben sich. Dank ihres beträchtlichen Gewichts von 27 Tonnen pro Wagen, bis an die Achse in das Erdreich des Bahndammes ein­gewühlt. Ganz besonders beschädigt ist auch der Restaurationswagen, und im Innern des­selben liegt alles Tisch- und Küchengeräte, was nicht niet- und nagelfest war, in Scherben zer­trümmert. Den ganzen Tag über mußte an der Unfallstätte umgestiegen werden und die Güierzüge mußten ganz ausfallen. Die Entsteh­ungsursache wird auf einen Schienenbruch zurück- gesührt. Etwa '/« Minute vor der Entgleisung kreuzten sich unterwegs die beiden Expreßzüge.

Stuttgart, 27. Febr. Heute fand bei der hies. Eisenbahndirektion eine Submission über 120000 Tonnen Kohlen für unsere Staatsbahnen statt. Der Zuschlag erfolgt morgen. Obgleich das rheinisch-westfälische Kohlenverkaufssyndikat erst mit dem 1. März in Kraft tritt, diese Sub­missionen also noch außerhalb desselben statt­fanden, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit in Aussicht zu nehmen, daß unsere Bahnverwaltung gegenüber der letzten Submission vom vorigen Herbst etwas höhere Preise wird bewilligen müssen, da auch die badische Eisenbahndirektion für den Doppelwaggon Kohlen 2 ^ mehr zahlen mußte als im Oktober vorigen Jahres.

Stuttgart. 28. Febr. Heute ist die Entscheidung über die gestern erwähnte Sub­mission auf 120 000 Tonnen prima Ruhrkohlen seitens der Kgl. Eisenbahnverwaltung erfolgt. Das niedrigste Offert betrug 13 ^ pro Tonne loco Mannheim. Unsere Eisenbahnverwaltung hat gleich der badischen sämtliche Offerte zurück­gewiesen, weil sie fürs erste noch auf einige Monate mit Kohlen gedeckt ist und weil außer­dem unsere Eisenbahnverwaltung bei der im Sommer erfolgenden regelmäßigen Submission auf entschieden billigere Preise rechnen zu können glaubt. Offenbar standen die diesmaligen Offeren­ten schon unter dem Einfluß des Kohlensyndikats, das sich aber diesmal gleich verrechnet hat.

Stuttgart, 27. Febr. Gestern abend wurden auf dem Bahnhof zwei Fräulein in demselben Moment sestgenommen, als sie mit dem Bahnzug weiter reisen wollten. Dieselben sind von einer auswärtigen Gerichtsbehörde wegen Kindsmords verfolgt. Beweismittel wur­den beigebracht, auch ein Geständnis haben sie abgelegt.

Cannstatt, 27. Febr. Cannstatt wird in diesem Jahre eine Bezirks-Gewerbe-Ausstellung haben, zum ersten Mal wieder seit 1864. In einer gestern Nachmittag vom hiesigen Gewerbe- Verein einberufenen Versammlung wurden alle Fragen besprochen und definitive Beschlüsse ge­faßt, nachdem der Vereinsvorstand, Maschinen­fabrikant Bausch von hier über den Stand der «?ache eingehenden Bericht erstattet harte. Hie- nach wird die von der Stadt zu erbauende Turnhalle mit einem Flächenraum von 900 Quadratmeter, nebst angrenzendem Areal der Ausstellung Zur Verfügung stehen, für die hier fo bedeutende Maschinen-Jndustrie wird eine be- '°"°bre Halle von 1000 gm Bodenfläche errichtet , erden, da die Turnhalle schon am 1. Juni d. I. >

fertig sein muß, so soll die Installation schon vom 1. Juli an begonnen werden. Die Er­öffnung der Ausstellung soll zufolge gestrigen Beschlusses am Sonntag den 6. August d. I. stattfinden und diese bis Ende September währen. Eine Restauration mit 1000 Sitzplätzen, viel­leicht mit Theater, außerdem eine Wein-Restau- ration und dergl. ist vorgesehen. Zur finanziellen Sicherung des Unternehmens werden Garantie­scheine zu 50 ^, insgesamt in Höhe von 20 000 ^ gezeichnet. Auf Vorschlag des Vor­sitzenden wurde Oberbürgermeister Nast von hier einstimmig zum Ehrenpräsidenten der Ausstellung designiert. Bereits haben etwa 200 Aussteller die Beschickung zugesagt, an deren günstigem Erfolg nicht zu zweifeln ist.

Ulm. 27. Febr. Gestern Mittag wurde die 41jährige Tochter des verst. hiesigen Professors Reuß auf einem Promenadewege in unmittelbarer Nähe der Stadt Ulm ermordet und der Uhr und Geldbörse beraubt aufgefunden. Die Leiche zeigt Stiche am Hals und in die Brust. Der durch die Brust in die Lunge bei­gebrachte Stich hatte den Tod zur Folge. Der Raubmord muß in ganz verwegener Weise aus­geführt worden sein. Bei dem herrlichen Früh- lingswetler war eine Menge Spaziergänger vor den Thoren. Fräulein Reuß ging nach dem Vormittagsgottesdienst dem Alber zu spazieren und bog dort von der Landstraße in den Fuß­weg ein. der zu dem sonnigen Plätzchen unter der Linde des Safranberges führt. Hinter ihr ging auf der Chaussee der Wirt vom Alber, der gleichfalls von der Kirche kam. Zwei Herren, die dann in den Alber eintraten, begegneten ihr noch 10 Min.. bevor die That begangen worden sein muß. Auch nicht wenige sonstige Spaziergänger waren in der Gegend. Eine Ladenjungfer will einen verdächtigen Kerl am Safranberg gesehen haben, was sie veranlaßte, umzukehren und in die Stadt zurückzugehen. Etwa um */,12 Uhr sah ein vorübergehender Herr auf dem Acker neben dem Fußweg, fast in der Mitte zwischen dem Alber und der Linde die Leiche. Am Ort der That waren Fußspuren eines Mannes und der Abdruck eines Knies sichtbar, ferner fand sich ein wollener blutbefleckter Handschuh vor. Wie es sich herausstellt, hat der Mörder längere Zeit in einem benachbarten Gartenhäuschen zugebracht. In Eßlingen wurde ein des Mordes an Frl. Selma Reuß verdächtiges Individuum angehalten. Polizei­inspektor Mack von Ulm ist dorthin gereist in Begleitung der Ladenjungfer, die am Sonntag einen Strolch am Thatorte umherschleichen sah.

Bietigheim, 22. Febr. Schon seit Jahren bemühen sich die in Württemberg lebenden An­verwandten des im Jahr 1803 mit 600 An­hängern nach Amerika ausgewanderten Rapp aus Iptingen, der 1847 als 90jähriger Greis starb, das auf Millionen veranschlagte Erbe des­selben zu erlangen. Ihre Hoffnung setzen sie vor allem auf den am 25. Dezember v. I. er­folgten Tod des Vaters Jakob Henrici, bis­herigen Oberhauptes der Rappisten. An eine Auflösung der Gemeinde ist jedoch, dem lutheri­schen Kirchenblatt zu Philadelphia zufolge, nicht zu denken, da noch heute derselben beitreten kann, wer mit ihren Grundsätzen, durch die sich jedes Mitglied zu völliger Gütergemeinschaft und Ehelosigkeit verpflichtet, einverstanden ist, und Johann Duß, welcher vor 6 Jahren der Ge­meinde. die noch 500 Seelen zählt, beitrat, wahrscheinlich Nachfoiger Vater Henricis wird. Gegenwärtig soll das Vermögen der Rappisten 10 Millionen Dollars betragen, zumal ihre Be­sitzung durch die in der Nähe entdeckten Erdöl- quellen wertvoll wird und Dörfer und Städte entstanden sind, wo früher Urwald gewesen.

Vaihingen a. E., 27. Febr. Das Er­gebnis derStadtschultheißenwahl ist fol­gendes: Stimmberechtigte sind es 431. Abge­stimmt haben 405 (94 °/o). Stimmen erhielten: Arbeitshausverwalter Böhringer hier 200, Stadt­pfleger Steiff hier 198, Verwalter Hohl von Kirchheim u. T. 2, Schultheiß Fischer von Auen- stein 2, Gerichtsschreiber Weber von hier 1, ungültig 2.

In Marklustenau bei Crailsheim ver- I gnügte sich ein Knabe mit Pfeilschießen, als ge­

rade ein Mädchen um die Ecke kam; er traf dasselbe so unglücklich ins Gesicht, daß ein Auge verloren ging.

Alten steig, 22. Febr. Als der Eisen­bahnzug Nr. 583 von der Station Berneck hier­her fuhr, wehte der Sturm eine Tanne um, welche auf's Geleise fiel. Der Bahnwärter, welcher glücklicherweise das Geschehene sah, holte schnell Hilfe. Die Tanne wurde abgesägt, so daß der Zug passieren konnte.

Ausland.

In Frankreich hat der unberechenbare Strom der Tagesereignisse plötzlich einen Mann auf die politische Bühne zurückgeführt, der von derselben lange Zeit so gut wie verschwunden war. Jules Ferry, den vielleicht bedeutend­sten französischen Staatsmann der Gegenwart. Den äußeren Anlaß zu diesem erneuten Hervor- treten Ferry's bildet die Neuwahl des Präsi­denten des Senats. Der bisherige Inhaber dieses Postens. Le Royer, ist aus noch nicht ganz aufgeklärten Ursachen, die indessen mit den Nackwirkungen des Panamaskandals in einem gewissen Zusammenhänge zu stehen scheinen, aus dem Amte geschieden. Da nun der Vorsitz im Senat den höchsten politischen Ehrenposten in Frankreich nächst der Präsidentschaft der Re­publik selbst darstellt, so war man allgemein gespannt, wem wohl die Nachfolgerschaft Le Royer's zufallen würde. Schon der Umstand, daß bei der von den vier republikanischen Gruppen des Senats vorgenommenen Probeabstimmung Jules Ferry die meisten Stimmen als Kandidat für den erledigten Präsidentenstuhl erhielt, deutete darauf hin, daß dieser Politiker wahrscheinlich bestimmt sein werde, künftig die Leitung der Senatgeschäite zu übernehmen. In der That hat denn auch der Senat bei der am Freitag stattgefundenen Wahl seines neuen Vorsitzenden Herrn Ferry mit 148 von 241 Stimmen zum ersten Präsidenten gewählt, ein Ereignis, welches bei der Bedeutung des genannten Staatsmannes und im Hinblik auf die gegenwärtigen inneren politischen Zustände Frankreichs bei allen fran­zösischen Parteien die lebhafteste Beachtung findet. Denn zweimal schon ruhte die Leitung der Ge­schicke der Republik in den Händen Jules Ferry's und während seiner wiederholten Ministerpräsi­dentschaft gelang es ihm, die Republik nach innen zu befestigen, nach außen aber ihr An­sehen zu erhöhen. Namentlich sind die Anbahn­ung eines freundlichen Verhältnisses Frankreichs zu Deutschland und die Gewinnung Tonkms als hervorragende Merkmale der Thätigkeit der zweimaligen Ministerien unter Ferry zu betrach­ten, gerade aber die deutschfreundliche Politik Ferry's und dann die Tonkinfrage veranlaßten schließlich den Sturz Ferry's im März 1885, denn seine Bemühungen, ein günstigeres Ver­hältnis zu Deutschland herzustellen, zogen ihm den bittersten Haß der französischen Chauvinisten zu, welche infolgedessen den damaligen leitenden Staatsmann grimmig befehdeten, und als nun im Frühjahr 1885 die Franzosen die bekannte große Niederlage in Tonkin gegenüber den Chi­nesen erlitten, da war das Schicksal Ferry's besiegelt, derPrussien" undTonkinese" mußte unter dem Drucke der aufwallenden nationalen Entrüstung im Lande am 30. März 1885 die Ministerpräsidentschaft zum zweiten Male nieder­legen. Nochmals trat dann Ferry in den Vorder­grund des politischen Interesses, bei der Neu­wahl des französischen Staatsoberhauptes anläßlich der Grevy-Krisis vom Jahre 1887, wo ihn die Opportunisten als Kandidaten für die Präsident­schaft der Republik aufgestellt hatten, aber die Radikalen, welche Ferry wegen seiner Energie auf's heftigste befehdeten, drohten mit einer förmlichen Revolution im Falle der Wahl Ferry's, und so mußte seine Kandidatur schließlich wieder zurückgezogen werden.

Paris, 27. Febr. ImFigaro" wird wiederum in einem mitViäi" Unterzeichneten Artikel behauptet, daß nach Aussagen Charles de Lesseps vor dem Untersuchungsrichter Frey- cinet, Floquet und Clemenceau von den Machen­schaften in der Panama-Angelegenheit genau unterrichtet gewesen seien, da sie im Jahre 1888 bei Ferdinand und Charles Lesseps sehr eifrig