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Leilage M Nr 53 -es Crythiilers.

Neuenbürg, Donnerstag den 3. April 1890.

Kronik.

Deutschland.

Die Abreise des Fürsten Bismarck von Berlin.

Berlin, 2:. März. Fürst Bismarck hat Berlin heute nachmittag verlassen. Der Abschied, den ihm Berlin bereitet hat, war ergreifend. Das Schauspiel mußte jeden, der es sehen konnte, auf's Tiefste bewegen. Den ganzen Tag hindurch war das Reichs­kanzlerpalais von einer Menschenmenge, zumeist Personen aus den besseren Gesell­schaftsklassen. umgeben. Gegen nachmittag waren es nicht mehr Hunderte, sondern viele Tausende, und vom Palais die ganze Wilhelmstraße entlang bis zum Brandenburger Thor dehnte sich ein un­geheures Spalier von Wartenden. Als endlich der offene Wagen beim Portal vor­fuhr und Fürst Bismarck im Vorgarten des Palais erschien, brach die Menge in dröhnende Hurrarufe aus und kaum, daß der Wagen aus dem Borgarten auf die Straße heraus gelangt war, hatte man auch schon die Spaliere durchbrochen und alles stürmte unter Hurrahgeschrei, Hüte und Tücher schwenkend auf den Fürsten zu. Anfangs war er beinahe erschreckt durch den auf ihn eindringenden Begeister­ungssturm, bald aber leuchteten seine Augen vor Freude über die wahrhaft rührende Szene, und die innere Bewegung spiegelte sich in seinem Antlitz wieder. Ihm zur Seite saß Graf Herbert. Im nächsten Wagen, ebenfalls ein offener Zweispänner, befand sich die Fürstin mit dem Grafen Wilhelm und dessen Frau, dann folgte Reichskanzler von Caprivi mit seinem Adjutanten und weiter Minister von Bötticher mit Frau. Nur langsam konnte sich dieser Wagcnzug durch die Wilhelmstraße fortbewegen, denn in einer Aufregung, die jeder Beschreibung spottet, umringt die Menge immer wieder den Wagen des Fürsten, unbekümmert um die einher sprengenden berittenen Schutzleute, die dem Wagen freie Bahn zu schaffen suchten. Wir erinnern uns nicht, in Berlin jemals Aehnliches ge­sehen zu haben. Bon den Fenstern und aus der Menge heraus wurden Blumen­sträuße in den Wagen geworfen und unauf­hörlich donnerten die Hurrahrufe. Man sah viele Personen weinen, man hörte oft rufen:Auf Wiedersehen!" Auf dem Bahnhofe erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt. Es ist unmöglich wiederzu­geben, mit welcher Gewalt die Empfind­ungen dieser nach Tausenden zählenden Menge, die alle Plätze in der Umgebung des Bahnhofes und diesen selbst besetzt hatte, hervorbrachen. Ein kleiner Raum des Bahnsteiges war abgesperrt. Hier hatte auf Befehl des Kaisers eine Schwa­dron Kürassiere als Ehrenwache Aufstell­ung genommen. Zwei Mann standen als Ehrenposten an der Treppe des Wagens. Während Fürst Bismarck die Front ab­schritt, spielte die Regimentskapelle eine

Fanfare. Plötzlich trat feierliche Stille ein, und die Klänge derWacht am Rhein", von allen Anwesenden gesungen, erbrauste durch die Halle. Hochaufgerichtet stand Fürst Bismarck da, und mit tiefernstem Ausdruck vernahm er diesen Abschiedsgruß, der alle Herzen bewegte. Auf Befehl des Kaisers waren sämtliche Flügeladjutanten auf dem Bahnhof erschienen; ebenso waren viele Generäle, Botschafter, Gesandte und andere Diplomaten anwesend; auch alle oberen Beamten der Ministerien, deren Chef Bismarck gewesen. Endlich wurde das Abfahrtssignal gegeben. Der Fürst begann sich von jedem Einzelnen zu ver­abschieden. Als er die Treppe zum Coups hinanschritt, sang die Menge:Deutschland, Deutschland, über alles." Mit immer neuer Kraft erschollen die Rufe: Hoch Bismarck, auf Wiedersehen, Wiederkommen! Die Re­gimentskapelle setzte wieder ein. Fürst Bismarck erschien am Fenster des Wagens und dankte mit Kopfnicken und Handbe­wegungen fortwährend, dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung und führte den großen Kanzler auf seinen einsamen Landsitz nach Friedrichsruh.

F ü rst Bismarck hat vor seiner Ab­reise alle Diener empfangen, welche zum l. Mai, oder richtiger, schon jetzt ihre Stellung verlassen. Alle, bis hinunter zum letzten Pferdeknecht, erhielten außer dem vollen Jahresgehalt noch reiche Ge­schenke. Nur drei Personen von der großen Dienerschaft werden den Fürsten nach dem freundlichen Landsitz im Sachscnwalde be­gleiten und dort auch ferner in seinem Dienste verbleiben. Es war eine ergreifende Szene, als der Fürst, sichtlich bewegt, für immer von den Treuen sich verab­schiedete. Wie uns versichert wird, erhalten einige Mitglieder des Hauspersonals vom Fürsten nicht unbeträchtliche Pensionen, so daß sie in beschaulicher Ruhe ihre Tage beschließen können.

Die größeren französischen Blätter bringen über die Abreise des Fürsten Bimarck von Berlin ausführliche tele- grahische Berichte, welche zum Teil im wärmsten Tone gehalten sind. Die Halt­ung der Franzosen bei dem denkwürdigen Rücktritt Bismarcks überhaupt und bei dem ergreifenden Schauspiel des letzten Sams­tags im Besonderen wollen wir ihnen nicht vergessen; sie war fast durchgehends eine wahrhaft wohlthuende.

Hamburg, 31. März. Der Fackel­zug der Hamburger Bürger geht heute nach Friedrichsruh ab. Derselbe verspricht großartig zu werden. Nicht weniger als 3000 Teilnehmer sind eingezeichnet und Hunderte mußten zurückgewiesen werden. Zahllose Zuschauer werden erwartet.

Lübeck, 31. März. Die Lohnbe­wegung der Holzarbeiter führte heute zur Entlassung von 600 Arbeitern. Die Arbeitgeber hatten die verlangte Lohn­erhöhung bewilligt, beanspruchten jedoch die Duldung von Nichtmitgliedern des

Holzarbeitervereins. was die Arbeiter verweigerten. Der Betrieb auf den großen Holzplätzen und Sägmühlen hat nahezu aufgehört; die nicht streikenden Arbeiter werden polizeilich beschützt.

Kaiserslautern. 31. März. Der gestrigen Bismarckfeier wohnten die pfälzi­schen Abgeordneten bei, ein zahlreiches Publikum nahm teil. Miguel hielt die Festrede, er gedachte in längerer begeisteter Rede der unvergleichlichen Verdienste Bis­marcks um Kaiser und Reich. Die Feier verlief aufs glänzendste.

Würzburg, 29. März. Durch die Hafenpolizei ist die weitere Anfuhr von Langholz auf vier Tage wegen Ueberfüll- ung sistiert.

Württemberg.

Am 1. April wechseln das III. Ba­taillon 3. Württ. Infanterieregiments Nr. 121 und das III. Bataillon 4. Württ. Jnfanterit-Regiments Nr. 122 die Garni­sonen Gmünd und Ludwigsburg.

Stuttgart. 1. April. Heute früh haben im Schlachthaus hier zwei Metzger­knechte mit einander Streit bekommen. Beide haben um eine Blutpfanne gestritten. Einer hatte ein Messer in der Hand, der andere hatte sich in dieses Messer gestoßen und hiebei 3 Fingev abgeschnitten. Der Verletzte wurde ins Katharinenhospital verbracht.

Aus Ulm wird geschrieben:Da S. Mas. der deutsche Kaiser Ende Juni nach den bereits getroffenen Dispositionen in Norwegen verweilen wird, so wird das hiesige Münster fest voraussichtlich um 3 Wochen verschoben werden, um Sr. Maj. dem Kaiser die Anwesenheit bei demselben zu ermöglichen.

Oberndorf, 26. März. Eine epi­demische Krankheit herrscht seit einiger Zeit in hiesiger Gemeinde unter dem Ge­flügel. Die Hühner werden hauptsächlich davon befallen. Dieselben verenden, ohne nur im geringsten etwas von einer Krank­heit zu merken, plötzlich. Auch viele Enten und Gänse sind dieser Epidemie zum Opfer gefallen. Die Krankheit hat ihren Haupt­sitz in der Luftröhre und verenden die Tiere nur durch Ersticken. Man befürchtet, wenn die Krankheit nicht bald inne hält, daß der ganze Geflügelstand vernichtet werde.

Münsingen, 26. Mürz. Gestern nachmittag wurde uns durch die Aufführung vonSchillers Glocke" von Romberg seitens des Kirchenchors und weiterer hiesiger musikalischer Kräfte ein hoher Ge­nuß zu teil. Die Aufführung gelang in allen Teilen vortrefflich und lieferte den Beweis, daß unsere Stadt Kräfte birgt, die derartigen Tonstücken gewachsen sind.

Ausland.

Brasilien. Nach einer in Paris eingegangenen Depesche aus Rio de Janeiro soll die brasilianische Regierung die Ge­sandten und das Personal der diplomatischen Vertretung in Europa abgesetzt haben.