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Beilage MlEnztHaler" Nro. 144.

Samstag, den 19 . November 1870 .

K r o n i k.

Württemberg.

Mitbürger!

(Fortsetzung.)

Daß dies die Meinung des württembergischen Volkes ist, hat es in den vergangenen Wochen unzweideutig an den Tag gelegt. In Hunderten von Adressen hat es den Beitritt zu den Be­schlüssen der Stuttgarter Volksversammlung vom 3. September erklärt. Kein Bezirk, keine Stadt, ja fast keine Gemeinde wollte Zurückbleiben, um es als den Wunsch des Landes auszusprechen, daß diesen Krieg ein glücklicher und dauernder Friede beendigen möge, der die Grenze sichert und dem Vaterland die Einheit schafft. Heute, wo dieKraft des norddeutschen Bundes, seine Kriegsverfassung, seine Staatsleitung so glänzend und selbst dem Ungläubigsten sichtbar sich bewährt hat, war auch darüber kein Zwiespalt mehr, daß die Einheit sich nur vollziehen könne durch den Anschluß an die 30 Millionen Deutscher, die bereits im norddeutschen Bund geeinigt sind. Nicht den Bund auszulösen, sondern zu erweitern und zu vollenden ist heute die Aufgabe; nicht einem Gut nachzujagen gilt es, sondern das bewährte Gut auch uns anzueignen.

Das Ergebniß der Verhandlungen die im Hauptquartier zu Versailles gepflogen worden, wird unfern Ständen zur Genehmigung vorgelegt werden. Zu dieser Zustimmung ist in beiden Kammern eine Zweidrittelsmehrheit erforderlich. Es springt in die Augen, von welcher Wichtigkeit unter diesen Umständen die Wahlen sind. Bist du für den Anschluß an den norddeut­schen Bund? Bist du dafür, daß uns der Krieg mit seinen kostbaren Opfern die Einheit bringt? das ist die erste und Hauptfrage, die das Volk an die Bewerber um ein Abgeordneten­mandat zu stellen hat.

Die Regierung hat die bisherige Kammer aufgelöst, weil es ihr zweifelhaft schien, ob diese unter andern Umständen gewählte Versamm­lung das in Aussicht stehende deutsche Verfas­sungswerk gutheißen werde. In der Thal konnte diese Frage nicht einer Kammer vorgelegt wer­den, in welcher Parteien die Mehrheit besaßen, die bisher bei jeder Gelegenheit gegen den An­schluß an den norddeutschen Bund sich aussprachen, ja welche sogar jenes Maß der Einheit, das in­zwischen die Verträge gewährten, hartnäckig be­kämpften und zu verringern trachtete». Diese Parteien wollten die lockere Verbindung Würt­tembergs mit Deutschland noch mehr lockern. Jeder Versuch, die im Jahr 1866 abgerissenen Fäden wieder anzuknüpfen, sah sie als Gegner. Unter dem Vorwand, daß sie das Volk über­mäßig belaste, sollte die neue Kriegsverfassung wieder abgeschafft werden, die unsere Söhne zu Gliedern des deutschen Heeres erzog und allein ihnen ermöglichte, ebenbürtig an der Seite ihrer deutschen Brüder zu kämpfen. Die Waffenge­meinschaft, die heute der Stolz unseres Volkes I

ist, sie wäre unmöglich gewesen, wenn die Plane dieser Parteien durchgedrungen wären. Heute ermißt das Volk die ganze Gefahr, welche ihm von einer Seite drohte, die unfern Staat wehr« los machen wollte. Vom Anschluß Württembergs an Preußen prophezeiten sie den Untergang un­seres Landes, und er ist dessen Rettung gewesen. Der heutige Krieg zeigt, daß sie falsche Rath­geber gewesen sind. Ihr Rath wird auch für die künftige Verfassung Deutschlands zu ent­behren sein.

Wenn die Regierung noch Zweifel gehabt hätte, ob die Kammerauflösung gerechtst sei, so mußten sie durch die beiden motivirten Abstim­mungen vollends zerstreut werden, welche die meisten Mitglieder der Volkspartei sowie der großdeutschen Partei in der Kammersitzung vom 22. Oktober Unterzeichneten. Noch in dieser ver- hängnißvollen Stunde, da die Vollendung der deutschen Einheit, wie wir hoffen, nahe ist, brachten diese Abgeordneten es über sich, gegen die An­nahme der norddeutschen Bundesverfassung Ver­wahrung einzulegen. Zwar im Allgemeinen reden auch sie jetzt von der bundesstaatlichen Vereini­gung mit dem Norden, doch in demselben Athem nehmen sie ihr Wort zurück, indem die Einen, die von der Volkspartei, überhaupt von dem Eintritt in den Bund nichts wissen wollen, die Andern unbestimmte Vorbehalte machen und wesentliche Aenderungen an der Bundesverfassung verlangen. Aber jetzt gilt cs nicht mit kleinen Bedenken und grundlosen Befürchtungen gegen das Eine, was Noth thut, sich zn sperren. Der unfruchtbaren Krittelei ist unser Volk in dieser erhebenden Zeit müde geworden. Mit Freudig­keit will das große Ziel erfaßt sein. So hat das Volk es erfaßt, indem es in den einmüthi- gen Kundgebungen der letzen Wochen sich für den Anschluß an den norddeutschen Bund aus­sprach. Jetzt ist es an ihm, die Gesinnung, zu der es sich feierlich bekannte, auch durch die Wahl der rechten Abgeordneten zu bethätigen.

Lang genug hat in unserem Land die Herr­schaft der Parteien gedauert, welche den Zug nach Einigung im deutschen Volk bekämpfte», die selbst nichts schaffen, nur verderben konnten, die geflissentlich den Haß gegen deutsche Bruderstämme nährten, mit welchen uns heute ruhmvolle Waffen- gemeinschast verbindet. Lange genug haben sie unser Land durch immer neue Schlagworte auf­geregt, die darauf berechnet waren, Deutsche von Deutschen zu trennen. Unsere Kammer bedarf endlich einer andern Mehrheit, einer Mehrheit von erprobten Männern deutscher Ge­sinnung. Darunter verstehen wir nicht aus­schließlich Solche, die schon bisher zu dem jetzt der Verwirklichung entgegengehenden Programm der Deutschen Partei sich bekannten. Der Krieg hat überall eine wesentliche Läuterung der Ansichten bewirkt, hartnäckige Vorurtheile durch handgreif­liche Thalsachen zerstört, den Kreis national denkender Männer im Lande namhaft verstärkt. Auch an den Adressen für das nationale Ziel