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Beilage zum Enzthuler Nro. 8S.
Samstag den 22. Oktober 1864.
Miszellen.
Der verhängnißvolle Brief.
(Fortsetzung.)
Die Anwesenden, anfänglich etwa» ärgerlich über die immerwährenden, so unglücklichen Unterbrechungen des kleinen ManncS, wurden nun in der That aufs höchste erstaunt und der Richter, der seine ganze Würde fahren ließ, bat eben so neugierig wie die Uebrigen um Aufklärung.
„Hören Sie, was der Brief sagt," erwiederte voll stolzer Freude der kleine alte Herr, indem er sich hoch aufrichtete und mit triumphirenden Blicken Einen nach dem Anderen anschaute. «Hören Sic. Der Schreiber ist Herr Warrens, Kaufherr und Schiffsrheder in London und mein ehemaliger wackerer Schüler. Er schreibt mir, daß er vor einigen Monaten ein Schiff nach Nordamerika ervedirt, auf dem sich ein deutscher Kaufmann des Namens Spalding als Passagier befunden. Derselbe habe ihn kurz vor der Abfahrt aufgesucht und ihm mitgctheilt, daß ein Bankerott ihn gezwungen, seine Heimath zu verlassen. In diesen Bankerott habe er einen Geschäftsfreund verwickelt, der durch seinen Fall wohl vollständig ins Unglück gerathen sein möge. Er wolle sein begangenes Unrecht diesem Manne gegenüber so viel in seinen Kräften stehe wieder gut zu machen suchen und bäte ihn deßhalb, eine Hundert, p'undnote, die er Herrn Warrens übergab, nach Deutschland und an seinen ehemaligen Geschäftsfreund zu senden. Warrens muß die nähere Adresse nun nicht mehr recht gewußt haben, denn er fand es am geratensten, mir, seinem alten Lehrer und Freunde, das Geld zu schicken und mich zu beauftragen, dasselbe dem fraglichen Herrn zu übermitteln. — Und dieser Kaufmann, der durch den Bankerott Spalding's zu Fall, ins Unglück gebracht wurde, meine Herren, wißt Ihr, wer es ist? — Da steht er vor Euch; cs ist Herr Waldner! Hier ist der Brief, da könnt Ihr es lesen, daß ich die Wahrheit gesprochen!"
Waldner hatte mit steigendem Erstaunen diesen höchst merkwürrigen Bericht mit angehört. Er konnte das Gehörte kaum fassen, für möglich halten, und doch war cs also. Spalding war ja der Geschäftsfreund, der seine Gutheit nur zu sehr mißbraucht, der ihn vermocht hatte, die Wechsel zu accepiiren, die seinen Fall herdeigeführt- Doch Herr Waldheim ließ ihm keine Zeit zu weiterem Erstaunen; er eilte auf ihn zu, umarmte ihn ein- über das andere Mal, wäbrend die übrigen Herren, sichtlich und tief ergriffen, sich abermals an ihn drängten, um ihn zu bcglückwünichen, ihm als Zeichen der herzlichsten Theilnahme die Hand zu drücken.
Waldner war selig. Doch jetzt hielt cs ihn nicht mehr. „Laßt mich nach Hause, zu den Meinen!« stammelte er fast unter Thränen hervor. Doch Wald-
beim, der seine Gefühle wohl erratben haben mochte, reichte ihm schon einen Hut — wessen Kopfbedeckung er in der Eile in seinem Eifer ergriffen, ob die des Richters oder des Postdirektors, wußte er nicht; es war ihm auch vollständig gleich! — dann, nachdem er selbst Hut und Stock genommen, griff er dem Ueber- glücklichen unter den Arm und empfahl sich kmzweg den Herren allgesammt, Waldner mit sich zur Thüre hinauszichcnd. Die Zurückbleibenden ließen ihn lächelnd gewähren; sie kannten ja sein gutes, vortreffliches Herz, und räumten ihm gerne das schöne Recht ein, den Befreiten seiner Familie wieder zuzuführen.
Frau Waldner hatte mit den Kindern just das Abendgebet gesprochen, in das alle inbrünstig und aus tiefem Herzen den armen duldenden Vater mit ein« geschloffen, als es plötzlich draußen, noch auf der Treppe rief: „Ich bringe ihn! — Aufgemacht, Frau! — Er ist frei — unschuldig!"
Welch ein freudiges Echo weckten diese Worte in dem Herzen der armen Frau, und unbewußt, ahnungsvoll bei den beiden Kleinen! Frau Waldner hatte sofort die Stimme Waldhcim's erkannt. Vor freudigem Schreck vermochte sie Anfangs kaum sich zu erheben, doch schon öffnete sich die Thüre, und unter dem lauten Jubel der Kleinen stürzte Waldner herein und auf sein liebes, braves Weib zu, sie in seinen Armen auffangenv, an sein laut und heftig pochendes Herz drückend.
Welcher stille doch hohe Jubel herrschte in den Herzen der beiden wieder vereinten Gatten! Wie klammerten sich die Kleinen an den Vater an, ihn begrüßend und seine Grüße, seine Küsse empfangend! Es war eine rührende und gewiß tief ergreifende Scene. Dies fühlte auch der gute Herr Waldheim, der fast keuchend hinter Waldner eingeireten mar, und nun dastand und sich mit dem Taschentuche nicht allein den Schweiß abtrockncte, sondern auch die Tbränen, die reichlich seinen Augen entströmten. Er fühlte trotz aller Therlnahme, die er der Familie bezeigt, trotz ihres Dankes, dessen er gewiß war, daß er doch hier, in dieser Stunde überflüssig sei, uad schlich sich deßhalb auch nach einigen Augenblicken ganz stille und sachte wieder hinaus, die Glücklichen sich selbst überlassend, und in seinem Herzen, seinem Bewußtsein den Lohn vollständig findend, den sein wackeres, edles Thun verdient hatte. Noch lange hörte er draußen horchend uud im Hinabsteigen das Jubeln der Kinder, und wie der kleine Knabe einmal über das andere Mal rief: „Jetzt ist der liebe Papa wieder da, jetzt gibt's auch Osterkuchen !"
Ja, du sollst Osterkuchen haben, lieber Junge, dachte der Rentner bei sich und verließ freudig das Haus, um seiner Hälfte und dann auch allen guten Freunden, die es hören wollten, ja der ganzen Stadt zu erzählen, was Merkwürdiges sich mit ihm und dem unschuldig eiligckerkcrten Waldner ereignet habe.
Machen wir cs wie der gute, wackere Mann, und überlassen wir die Glücklichen ihrem Jubel, ihrer Zu-