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macht lebendig. Geistvoll war es jedenfalls nicht, den Wagen am diesseitigen Ufer so lange halten zu lassen, bis eine Tragbahre für de» verunglückten Soldaten herbeigeschafft war. Wäre der SamtätS- wagen über die Brücke gefahren, so wäre es viel bälder wieder nach Stuttgart gekommen, als es that- sächlich der Fall war.
Cannstatt, 29. März. Gestern abend kurz vor 7 Uhr erlitt ein verheirateter Eisenbahntaglöhner auf dem hiesigen Güterbahnhof dadurch einen schweren Knöchelbruch, daß ihm beim Verladen ein 7 Zentner schweres eisernes Schwungrad auf den Fuß fiel. Der Bedauernswerte wurde mittels Sanitätswagens in seine Wohnung verbracht.
Eßlingen, 29. März. Gestern abend verunglückte Fuhrmann Baierle von Stuttgart in der Nähe des benachbarten Zell dadurch, daß er von der Deichsel seines Möbelwagens, auf der er wahrscheinlich schlief, herab und unter die Räder des beladenen Wagens fiel. Hiebei wurde ihm ein Fuß vollständig abgedrückt, so daß ihm dieser im hiesigen Krankenhaus sofort abgenommen werden mußte.
Großsachsenheim, 29. März. Am Sonntag nacht 27. März, wurde in Großglattbach O.A. Vaihingen im Lamm der verheiratete Zimn,ermann Dick von dort von dem ledigen 24 Jahre alten Steinhauer Wilhelm Kolb von Oetisheim mit einem Messer gefährlich in den Unterleib gestochen. Kolb ist festgenommen und ans Amtsgericht Vaihingen eingelisfert worden.
Heilbronn, 28. März. Wie vor einigen Tagen gemeldet wurde, ist hier ein Bäckerlehrling festgenommcn worden, der ein Portemonnaie mit größerem Inhalt gestohlen hatte, jedoch nicht gestand, wohin er dasselbe gebracht habe. Vorgestern wurde nun die Schwester des Burschen wegen Hehlerei fest- genommcn, weil man bei dieser das Portemonnaie mit Inhalt vorfand. Sie war schon im Besitz desselben, als ihr Bruder verhaftet wurde und wußte auch, wo dieser dasselbe her hatte.
Mergentheim, 29. März. Eine schwere Heimsuchung erfuhr die Familie Streng in Adolzhausen. Im Walde wollte der Sohn Streu holen und fuhren seine zwei Schwestern mit. An einem Baumklotze kippte der Wagen um und eine 13jährige Tochter wurde derart getroffen, daß sie augenblicklich tot war.
Bremerhaven, 26. März. Die gestrige Fahrt, die der Kaiser an Bord des Lloyddampfers .Kaiser Wilhelm der Große" in See machte, verlief bestens trotz hohen Seegangs. Beim Diner brachte der Lloydpräsident Plate das Kaiserhoch aus. Der Kaiser erwiderte, nachdem er für die Begrüßung gedankt und seine Freude über das herrliche Schiff ausgesprochen hatte, das ein Werk vaterländischen Fleißes sei: „Sie gedachten meiner Thätigkeit für die Erhaltung des Friedens. Wenn mir vergönnt war, während meiner ganzen Regierungszeit dem Vaterlande den Frieden zu erhalten, so schweift mein Blick zur Heldengestalt des ersten deutschen Kaisers aus dem Hohenzollerngeschlccht zurück, der mit Aufopferung seiner ganzen Persönlichkeit in unserem Heere das feste Bollwerk schuf, daS uns bis heute den Frieden
erhalten hat: denn nur unter den Segnungen des Friedens kann ein Volk sich entwickeln. Wir könnten diese frohen Stunden an Bord dieses Schiffes ohne diese Erhaltung des Friedens nicht verleben. Ich freue mich, gerade hier auszusprechen, daß wir in wenigen Stunden dem Abschlüsse eines großen Werkes entgegensetzen dürfen, das beitragen wird zur weiteren Entwicklung und Größe Deutschlands. Möge es dem aufstrebenden Deutschland vergönnt sein, seinen Handel und seine Schifffahrt in voller Blüte zu entfalten. Möge es dem Lloyd vergönnt sein, an erster Stelle mitzuwirken an diesem Ziele." Der Kaiser schloß mit einem Hoch auf den Lloyd und die gute alte Stadt Bremen. — Alsbald erhob sich der Kaiser wiederum und sagte: „Es geziemt sich für uns, die auf einem deutschen Schiffe, das den Namen „Kaiser Wilhelm der Große" trägt, auf einem deutschen Meer« schwimmen, an diesem Tage auch eines Mannes zu gedenken, der meinem Hochseligen Großvater in oft schweren Zeiten seines Königtums ein so treuer Diener gewesen ist. In dankbarer Erinnerung seiner Verdienste um das deutsche Vaterland bringen wir auch dem Fürsten Bismarck, der heute sein sechzigjähriges Militärdienstjubiläum begeht, ein volles Glas. Seine Durchlaucht Fürst Bismarck Hurrah!" Die Abreise des Kaisers erfolgt heute Nachmittag halb 4 Uhr.
Berlin, 28. März. (Reichstag) Eine Reihe von Rechnungssachen wird erledigt. Es folgt di« 3. Beratung des Gesetzentwurfs betr. die Entschädigung unschuldig Verurteilter auf Grund der vom Reichstag in der zweiten Beratung unverändert angenommenen Kommissionsbeschlüsse. Stadthagen (Sozialist) legt nochmals die Wünsche seiner Partei bezüglich der Entschädigung unschuldig in Untersuchungshaft gesessener Personen dar. v. Busch ka (kons.) weist auf die in der 2. Lesung angenommene Resolution bezügl. der in Untersuchungshaft befindlichen Personen hin, der auch seine Partei zugestimmt habe. Beckh (fr. Vp) bemerkt, durch di« Resolution sei wenigstens erreicht worden, daß die Regierung zu der Frage Stellung nehmen müsse. Nach einer weiteren Bemerkung Stadthagens wird das Gesitz im Einzelnen und in der Gesamtheit ohne Erörterung gegen die Stimmen der Sozialdemokratie angenommen und dis dazu gehörigen Petitionen erledigt. Es folgt die 3. Beratung des Gesetzentwurfs betr. anderweitige Festsetzung des Gesammtkontingents der Brennereien, die auf Grund der in der 2 Beratung unverändert angenommenen Kommissionsbeschlüsse angenommen wird. Die Petitionen werden ebenfalls erledigt. Es folgt die 3. Beratung des Flottengesetzes. In der Generaldebatte weist Enneccerus (n.l.) auf die Bedeutung der Flotte für die Wissenschaft hin. Staatssekretär Tirpitz bemerkt, bisher habe England gewissermaßen das Bionopol auch für wissenschaftliche Erforschung besessen. Es sei nun die Absicht der Marineverwaltung, soweit die Mittel reichen, alle Zweige der Wissenschaft, die mit der Marine zu» sammenhängen, nachhaltig zu unterstützen. Lieb ermann v. Sonnenberg (Antisemit): Ich freue mich, endlich in 3. Lesung zum Wort zu kommen, um den Standpunkt meiner Partei darzulegen. (Heiterkeit.) Das Flottengesetz ist eine Notwendigkeit. Es ist mit der großen Armeeorganisation zu vergleichen. Die
würde der größere Teil davon abgehen. Redner versucht dann nachzuweisen, daß durch die Aufhebung der Stichwahlen das Zentrum und die Sozialdemokratie Vorteile haben würde. Egger (Ztr.) spricht für die Abschaffung der Stichwahlen. Prälat v.
Sandberger empfiehlt einen Versuch mit der relativen Mehrheit bei den Wahlen zu machen. Ob daraus Vorteile für unser politisches Leben erwachsen würden, müsse man der Zukunft überlassen. Abg. v. Geß (D. P) erachtet die Stellungnahme der Volkspartei zu dieser Frage als einen ganz richtigen Entschluß. Min. v. Pischek erklärt, nachdem Abg.
Haußmann die Erklärung abgegeben habe, die V.-Partei werde an diesem Artikel die Verfassungsreform nicht scheitern lassen, sei das Schicksal desselben besiegelt.
Die Regierung gehe von dem Standpunkt aus, daß das Stichwahlprinzip keine innere Berechtigung habe, und daß die Aufhebung desselben unserm ungesunden politischen Leben förderlich sein werde. Abg. Kiene (Ztr.) begrüßt gleichfalls die Umkehr der Volkspartei in der Stichwahlfrage und polemisirt dann gegen Berichterstatter Haußmann, der in seinen Ausführungen der kathol. Geistlichkeit vorgeworfen habe, den Beichtstuhl als Agitationsort für Wahlen zu benützen.
Dagegen müsse er die kathol. Geistlichkeit energisch in Schutz nehmen. Haußmann-Gerabronn bemerkt dem Min. v. Pischek gegenüber, daß er eine Erklärung feiner Partei nicht abgegeben habe. Dem Vorredner Hab- er zu erwidern, daß er die Geistlichkeit nicht angegriffen habe. Er habe lediglich an den Satz angeknüpft, ein guter Katholik könne nicht anders als fürs Zentrum wählen, und daraus gefolgert, daß ein guter Katholik klopfenden Herzens zur Urne und zur Beichte gehe. Bei der Abstimmung wird Art.
11 mit allen gegen die Stimmen der VolkSpartei und die der Abg. Stockmayer und Spieß angenommen.
Die Art. 12, 13, 14, 15 und 16 werden nach kurzer Debatte in der Komm.-Fassung angenommen. Die Beratung des Art. 17 wird ausgesetzt und die Sitzung abgebrochen.
Stuttgart, 29. März. Gestern Nachmittag kam beim Exerzieren auf dem Cannstatter Wasen ein Soldat der Stuttgarter Garnison so unglücklich zu Fall, daß er einen Beinbruch erlitt. Der Bataillons- Kommandeur rcquirirte sofort den Stuttgarter Sanitätswagen. Derselbe durfte aber nach eine» allgemeinen polizeilichen Verordnung des Stuttgarter Polizeiamtes die Stuttgarter Markungsgrenze nicht verlassen, also auch die König Karls-Brücke nicht passieren. Dem Major, welcher beständig bei dem verunglückten Soldaten verblieb, war nun kein anderer Ausweg möglich, als ein« Tragbahre von Stuttgart zu requiriren. Auf dieser wurde nun der verunglückte Soldat, der nahezu 2 Stunden auf dem zur Zeit nicht eben warmen Boden hatte liegen müssen, über di« König Karls-Brücke getragen, in den auf Stuttgarter Markung haltenden Sanitätswagen eingeladen und dann in das hiesige Garnisonslazaret verbracht.
Im Prinzip hat die Stuttgarter Polizei wohl recht, wenn' sie nicht gestattet, daß der Stuttgarter Sanitätswagen, der bei der großen Bevölkerung der Landeshauptstadt sehr häufig in Anspruch genommen wird, die Stuttgarter Markungsgrenz« verläßt, aber im vorliegenden Fall dürste doch das bekannte Bibelwort gelten: Der Buchstabe tötet, der Geist aber
Gott sei gedankt! Ein Seufzer der Erleichterung hob Ottomars Brust. ^
„Später, gnädiges Fräulein, später! Sie sehen, höherer Befehl, wir müssen gehorchen." Damit schob er seinen Stuhl zurück und reichte Fräulein Malten den Arm, um sie in den Salon zu führen.
Eine kurze Verbeugung und er schob sich durch den immer mehr sich füllenden Raum nach dem Rauchzimmer hin. Er sollte von Elli Bodin erzählen I So angenehm ihm seine Nachbarin gewesen! Diese Zumutung veranlaßt« ihn, ihr soweit als möglich aus dem Wege zu gehen.
Kaunr hatte er den gemütlichen Raum erreicht, in dem eine Anzahl von Tischen mit Rauchutensilien standen, an denen der Kaffee genommen werden sollte, als er sich von Jemand unter dem Arm gefaßt fühlte. Sich umblickend, sah er in das freundliche Gesicht von Geheimrat Lutzen. „Habe ich Sie wirklich einmal, lieber Professor? Jetzt entschlüpfen Sie mir nicht wieder. Lassen Sie uns gleich ein stilles Plätzchen mit Beschlag belegen, damit wir ungestört plaudern können."
Er zog Ottomar zu einem Erker, der ziemlich abgesondert in der That Einsamkeit versprach.
Ottomar fühlte sich auf's peinlichste berührt. Er ahnte, was kommen würde. Konnte er denn den alten Erinnerungen heute durchaus nicht entfliehen? Lutzen schob ihm Cigarren und das Licht zum Anzünden hin, und nachdem er sich selbst eine Cigarre angezündet hatte, lehnte er sich behaglich in seinen Stuhl zurück. „Wissen Sie denn, lieber Professor," begann er, lächelnd zu Ottomar hinblickend, daß ich Sie die ganzen sechs Jahre, die Sie abwesend waren, sehnlichst herbeigewünscht habe? Er war kein wohl überlegter Entschluß von Ihnen, so lange die Heimat zu fliehen. Ihre Anwesenheft hier hätte Manches verhindern. Manches zum Guten wenden können."
„Daß ich nicht wüßte," entgegnete Ottomar abweisend.
„Doch, doch. Lieber l Haben Ihre Eltern Ihnen denn nichts davon mil
geteilt, daß unsere Freundschaft bei der Testamentseiöffnung meines verewigten Freundes, Ihres Onkels, zum Scheitern gegangen ist?"
„Meine Mutter deutete mir so etwas an, ohne mir Genaueres darüber zu
sagen."
„So erfahren Sie denn von mir die volle Wahrheit! Ich habe lange auf den Augenblick gewartet, mit Ihnen diese unangenehme Angelegenheit, die so viel Staub aufgewirbelt hat, besprechen zu können. Denken Sie nicht, daß mir das Amt eines Testamentsvollstreckers unter den obwaltenden Verhältnissen ein sehr angenehmes gewesen wäre. Aber konnte ich es dem sterbenden Freunde ab- schlagen? Er versicherte mich, daß sein Wille unabänderlich sei, daß er Elli Bodin mehr verdanke, als ein Mensch ahne. Sie sei ihm der Born neuen Lebens geworden in der Einsamkeit des Herzens, in der er seit dem Tode der Seinen gelebt habe. Sind Natur wie er, fände in der Welt nur selten Verständnis, und besonders in einer Zeit, wie der heutigen, die allem, was über das materielle Bedürfnis, den materiellen Lebensgenuß hinausgehe, so abhold geworden. Aber auch Elli gehöre zu den Naturen, die dazu bestimmt wären, durch schwere Kämpfe hindurchzugehen, weil sie nur durch das Licht der eigenen Seele, Welt und Menschen betrachten und deshalb nicht erkennen, wie sie wirklich sind. Sie kennen die Welt nicht und werden daher auch von ihr verkannt. An der Not des Lebens gehen sie leichter zu Grunde als gewöhnlich veranlagte Naturen. So wäre natürlich der Wunsch in ihm aufgestiegen, das ihm so werte Mädchen, vor materieller Not und Sorge zu schützen. Das ungefähr sagte er mir, und ich konnte ihm nichts entgegcnhalten, als die Rücksicht auf seine Angehörigen. Der glaube er nachzukommen, entgegnete er, indeP er die Hälfte seines Vermögens unter seine Geschwister verteile. Außerdem, verzeihen Sie, wenn ich damü vielleicht eine schmerzhafte Seite bei Ihnen berühre, sagte er, daß Sie Elli heiraten würden —
(Fortsetzung folgt.)