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man nie eine Spur an ihm. Die Ehe, in welcher er seit zwei Jahren lebte, war eine sehr glückliche. Besondere Krankheitserscheinungen waren bei ihm nicht wahrzunehmen. Gestern nacht, also kurz vor der That, hatte er mit seiner Frau noch an der Hochzeit eines Kameraden teilgenommen, wobei er in bester Laune gewesen sein soll. Am 1. Dezember wollte er aus dem Militärdienst ausscheiden, da er diesen Sommer ein Examen für den Eisenbahndienst bestanden hatte und ihm in Frankfurt a. M. eine Stelle an- geboten war.
— Ueber die Umstände, unter denen der zur Handelsmarine übergetretene Reserveoffizier der Marine Emil Rettich aus Löchgau bei dem Schiffsunglück des Hamburger Dreimastschoners Vera-Cruz das Leben verloren hat, wird dem „Neck. u. Enzb." berichtet: Auf der Heimreise von Mexiko strandete das Schiff Mitte Oktober; ein amerikanischer Dampfer kam zu Hilfe, um Kapitän und Mannschaft zu retten, und bereits war auch Steuermann Rettich gerettet und in einem Boot geborgen, als er seinen Obersteuermann noch mit den Wellen kämpfen sah. Rasch entschlossen sprang er über Bord, um diesen zu retten, mußte aber leider mit ihm untersinken und starb so als Opfer seiner Berufstreue und Nächstenliebe. — Bei dem Bombenattentat in Barcelona ist auch der Vertreter der Geislinger Metallwarenfabrik, M. Wicke, schwer verwundet worden und liegt nun in Barcelona mit bedenklichen Verletzungen im Spital. Doch hofft man, denselben am Leben zu erhalten.
— Der Eisenbahn-Reformverein in Pforzheim hat in einer Versammlung den Beschluß-gefaßt, bei der württ. Generaldirektion bezüglich einer wünschenswerten Abänderung des Fahrplans der Enz- und Nagoldbahn für den Sommerdienst vorstellig zu werden. Die Frühzüge von hier nach Wildbad und Calw, sowie umgekehrt, sollen zeitiger abgehen bezw. eintreffen; auch soll der letzte Zug von Rottweil und Horb nicht nur bis Calw, sondern nach Pforzheim geführt werden. Ferner soll ersucht werden, von Stuttgart 4 Uhr 20 Min. früh einen etwa um 6 Uhr hier ankommenden Zug abgehen zu lassen, der bei richtigem Anschluß einen zeitigen Verkehr mit dem Enz- und Nagoldthal ermöglicht. Schließlich soll auch noch um die Einführung sog. Sonntagsbillette, sowie um die Wiedereinführung der Badekarten nach Wildbad gebeten werden. Für die letztere Neuerung soll eine wirksame Propaganda unternommen werden, und zwar durch Sammlung von Unterschriften der in Betracht kommenden Enzthal-Gemeinden.
Freiburg, 19. Nov. Der praktische Arzt S. in Jhringen am Kaiserstuhl, welcher am Freitag Nachmittag seine junge Frau nach nur achtwöchentlicher Ehe durch Cyankali getötet hat, wurde auf Verfügung der Gerichtsbehörde vorläufig in die hiesige Jrrenklinik verbracht. Er scheint die That in einem Anfall von Geistesstörung begangen zu haben.
— Die Frankfurter Zeitung meldet aus Paris: Wie aus Cherbourg gemeldet wird, ist der deutsche Dreimaster Corrientes gescheitert und völlig zerstört. Von 14 Mann Besatzung wurden nur 9 gerettet.
Straßburg, 20. Nov. Seit einigen Tagen giebt die im ganzen deutschen Reich bekannte Seiltänzerfamilie Knie auf dem freien Platz Steinring-Trompetergasse Vorstellungen auf dem niederen und hohen Seil. Gestern Nachmittag hatte sich zu dieser Vorstellung eine große Zuschauermenge eingefunden, die mit sichtlichem Vergnügen der Schaustellung folgte. Der 80 Jahre alte Knie zeigte auf dem niederen Seil seine Künste und sein Sohn ging und lief auf dem zwischen den Eckhäusern Steinring und Trompetergasse gespannten „turmhohen" Seile, legte sich daraus hin, bewegte sich überhaupt in der schwindelnden Höhe als wäre er auf festem Boden. Sein größtes Kunststück besteht aber in dem Rückwärtsschreiten auf dem straff angezogenen Seile. Nun ereignete sich gestern bei diesem Kunststück, daß der Seiltänzer fehltrat, schwankte und seitwärts stürzte. Ein allgemeiner Angstschrei durchzitterte die Luft, als die Menge den Mann fallen sah. Die Balancierstange fiel zwischen die Menge, der Seiltänzer aber hatte bei seinem Sturz in die Tiefe die Geistesgegenwart, sich an einem der Seile anzuklammern, welche zum Anziehen des Hauptseiles dienen. An diesem Hilfsseile ließ er sich zur Erde nieder, um bald unter dem Zujauchzen des Publikums auf dem hohen Seile wieder zu erscheinen und sein Kunststück zu vollenden.
Rothau, 20. Nov. Aus Anlaß des letzten Grenzzwischenfalles, wie man den neulichen Vorfall zwischen französischen Wilddieben und einem deutschen Forstbeamten zu nennen liebt, hat die französische Regierung eine vertrauliche Mitteilung an die Bürgermeister der im Grenzbezirk liegenden Ortschaften gelangen lassen, daß die Bürgermeister durch Belehrung und in sonstiger geeigneter Form eine Ueberschreitung der Grenze durch französische Jäger oder Wilddiebe bei Ausübung der Jagd möglichst zu verhindern suchen sollen. Diese höchst taktvolle Maßregel ist um so mehr als eine dankenswerte anzuerkennen, als ja von anderer französischer, nicht offizieller Seite der Fall in sehr unschöner Weise ausgebeutet wurde. Zu der Entlassung deutscher Staatsangehöriger, welche sämtlich nur französisch sprechende Arbeiter aus Champenen und Sauleurs waren, aus der Fabrik in Harcholet ist übrigens nachzutragen, daß der Fabrikherr gewissermaßen dazu gezwungen war. Es hat sich da mehr um eine im ersten Augenblick der Erregung stattgefundene „Revanche" der Kameraden der erschaffenen Wilderer gehandelt, als um eine Sache von weittragender Bedeutung. Der Fabrikherr setzte seinen Arbeitern das Unvernünftige ihres Verlangens auseinander, unschuldige Leute büßen zu lassen für Dinge, welche sie gar nichts angingen,
allein die Arbeiter wollten nun nicht anders, als die „Preußen" hinaus haben. Daß die ganze Angelegenheit, wenn ja auch kein Gedanke an einen Grenzvorfall im eigentlichen Sinne vorhanden ist, dennoch mit der peinlichsten Genauigkeit und Unparteilichkeit geführt wird, beweisen die fortgesetzten Untersuchungen seitens des deutschen Gerichts, da man französischerseits an der Version festhält, daß die französischen Wilderer nur zu zweien gewesen seien und daß der eine von hinten geschossen sei, was letzteres angesichts des Sektionsergebnisses absolutunrichtig ist. Ferner hat man in weiteren Kreisen diesseits und jenseits der Grenze mit großer Genugthuung vernommen, daß der kaiserliche Statthalter vorgestern selbst an Ort und Stelle war, um persönlich den Thatort in Augenschein zu nehmen, von dem man sich allerdings durch das Bild und durch die Beschreibung infolge seiner Eigenart kaum eine rechte Vorstellung machen kann.
Hamburg, 21. Novbr. Unweit Helgoland ging der englische Dampfer Electro unter. Die ganze Mannschaft wurde gerettet.
— Aus den Veränderungen der Bundesratsausschüsse an der Weinsteuer wird mitgeteilt: Den Kleinhändlern und Herstellern von Kunstwein soll die Steuer für eine Frist bis zu 6 Monaten gestundet werden. Die Ermächtigung des Bundesrats, Erleichterungen in den Kontrolvorschristen eintreten zu lassen, ist aufgehoben; dafür soll jedoch der Bundesrat ermächtigt werden, alle im Interesse der Ausführung des Gesetzes notwendigen Erleichterungen anzuordnen. Die am 1. Aug. 1894 im Zollgebiet vorhandenen Weinhändler und Hersteller von Schaumwein oder Kunstwein, welche den Verkauf von Wein weiter betreiben wollen, haben bis zum 15. August 1894 der Steuerbehörde ihres Bezirks hievon Anzeige zu machen und dabei die vorgeschriebene Nachweisung einzureichen- — So die Berl. Pol. Nachr.; die Franks. Z. will wissen: „Der Bundesrat hat an den Steuersätzen des Weinsteuergesetzes und auch an der Wert- grenze von 50 ^ pro Hektoliter, von der ab die Besteuerung eintritt, trotz der bekannten Wünsche der süddeutschen Staaten nichts geändert, und es liegt daher die Vermutung nahe, daß die süddeutschen Staaten schließlich gegen den ganzen Entwurf gestimmt haben, und daß er nur durch Mehrheitsbeschluß angenommen worden ist."
Aus Wien, 20. Nov., meldet man der Frkf. Ztg.: Der östreichische Ingenieur- und Architektenverein beschloß einstimmig, ein Modell der von dem Brünner Prof. Wellner erfundenen Segelflugmaschine herzustellen, nachdem die Professoren Radinger und Hausse erklärt hatten, daß nach dem Vortrage Wellners dieser Augenblick ein geschichtlicher genannt werden müsse, da anzunehmen sei, daß das Problem der Luftschifffahrt gelöst sei. Die Kosten des Modells betragen 5000 fl.
Graz, 20. Nov. Aus Windsor langte eine
Stunden befunden, trat nun eine Rraction ein, gegen welche sich die Kraft seines Willens machtlos erwies. Laut aufschlauchzend brach er zusammen, und der Revolver, von dem er vergeblich seine Erlösung erwartet hatte, fiel unbeachtet zu Boden. Da» Entsetzen im Gesicht de» alten Männchens verwandelte sich in einen Ausdruck tiefsten Müleids. Er ließ sich an der Seüe de» jungen Malers nieder, legte mü beinahe liebevoller Zärtlichkeit den Arm um seinen Nacken und begann mü schlichten, ungekünstelten Worten der Ermutigung auf ihn einzusprechen, — unbekümmert darum, daß jener ihm eine lange Zeit hindurch nicht die geringste Aufmerksamkeit zuzuwenden schien.
IV.
Unter Donner und Blitz, und in strömendem Regen schritten eine Stunde später die beiden Männer deren erste Begegnung unter so ungewöhnlichen Umständen stattgefunden hatte, wieder durch die Straßen der Stadt. Martin war sehr bleich und die Züge seine» Antlitzes zeigten jene Abgespanntheit, die sich nach schweren körperlichen Krankheiten und gewaltigen seelischen Erregungen einzustellen pflegt; aber sein Gang war wieder fest und aufrecht. E» war ihm anzusehen, daß er den Bann jener Verzweiflung, die ihn zu seiner wahnwitzigen Handlung getrieben, von sich abgeschüttelt hatte. Der kleine Graukopf hatte sich an seinen Arm gehängt und führte die Unterhaltung noch immer sehr eifrig fort.
Martin hatte ihm, von der Aufrichtigkeit seiner Teilnahme und der Treuherzigkeit seine» Zuspruch« überwältigt, endlich sein ganze» Herz auSgeschüttet, und jener hatte mü äußerster Lebhaftigkeit seine beiden Hände ergriffen, um ihm die etwa» rätselhafte Versicherung zu geben, daß e» ein Meisterstück des Schicksal» gewesen sei, welche» keinen anderen al» gerade ihn im rechten Augenblick in da» Gehölz geführt habe. Weitere Aufklärungen war er bi» jetzt noch schuldig geblieben, und er hatte nur seine ganze Überrrdungikunst aufgeboten, um Martin zu bestimmen, ihn in seine Wohnung zu begleiten.
»Ich werde Ihnen da etwa» zeigm, da» viel besser al» hunderttausend schön«
Worte danach angethan ist, Sie von Ihrer thörichten Verzwe flung zu curieren," sagte er, „und außerdem bin ich der Meinung, daß Sie für den Rest dieses Tages nichts anderes so gut gebrauchen können, als ein wenig Zerstreuung und eine harmlos gemütliche Unterhaltung."
Nun hätte Martin allerdings viel lieber di« Einsamkeit ausgesucht, aber er fühlte, daß er seinem wackeren Begleiter zu viel zu danken habe, um ihn jetzt durch eine Absage zu kränken. In einer engen und ziemlich armseligen Straße traten sie in eines der himmelhohen, vierstöckigen Häuser ein, wie sie nur den weniger Bemittelten zur Zufluchtsstätte zu dienen pflegten. Aber es galt nicht, die stellen, unbequemen Stiegen zu erklimmen, sondern ihre Wanderung führt« über den langen, schlecht gepflasterten Hof in einen kleinen Garten, dessen Naturschönheiten freilich ausschließlich aus einer dürftigen Rasenfläche mit einem Blumenbeet in der Mitte und aus einigen kümmerlichen, mühselig um ihr Dasein kämpfenden Bäumchen bestand.
In diesem Garten nun lag ein winziger» altes und hinfälliges Haus, auf welche» der kleine Mann schon von weitem deutete, indem er mü einer unverkennbaren Empfindung des Stolzes auSrief:
„Das ist meine Wohnung und auch mein Atelier!"
Auf einem Porzellanschildchen neben der Thür war zu lesen: „Nikolaus Winterfell», Kupferstecher und Lithograph": was Martin aber am meisten überraschte, warrn zwei große Sandsteinfiguren, die an den Seiten der zur Schwelle emporführenden Stufen aufgestellt waren, sowie ein umfangreiches Relief aus demselben Material, da« die Thürbekrönung ausmacht,. Dieser künstlerische Schmuck in einer so dürftigen Umgebung mußte notwendig etwas Befremdliche» haben; aber Martin war nicht in der Stimmung, viele Fragen zu stellen. Auch wurde seine Aufmerksamkeit sogleich durch andere« abgezogen; denn Winterfeld hatte kaum di« Thür geöffnet al« ihn ein ganzer Schwarm jugendlicher Menschengestalten mit lautem. Hallo überfiel. Fünf rosige Buben und Mädchen, von denen der älteste etwa fünf»-