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Lüttich, 2. Mai. Letzte Nacht wurden mehrere Anarchisten verhaftet, darunter ein Schneiderge­selle, der verdächtig ist, der Urheber der Explosion an der Kirche Saint-Martin zu sein.

Lüttich, 3. Mai. Ein neues Dynamit­attentat wurde gestern Abend 9 Uhr gegen das Palais des Grafen Oulghaie auf dem Boulevard Sauvenisre verübt. Hausgang, Marmortreppe, Treppenhaus bis zum ersten Stock und Holzeinrich­tungen sind zerstört. In dem gegenüber liegenden Haus des Bürgergardegenerals Londot wurde alles Mobiliar und die Fenster zertrümmert. In sämtlichen Häusern innerhalb 200 Meter Entfernung sind die Fenster zertrümmert. Der Artilleriehauptmann erklärt, nicht Dynamit sondern Forcit sei benutzt. Ein im Augenblick der Explosion flüchtender Deutscher wurde verhaftet. Seine Schuld ist nicht nachgewiesen.

Paris, 1. Mai. In der aus dreitausend Köpfen bestehenden Versammlung in der Salle Farns verdammte der Sozialist Lavy unter lebhaftem Bei­fall energisch die Dynamitattentate.

Paris, 2. Mai. Der Abend und die Nacht sind bei Schnee- und Regenwetter verlaufen, ebenso traurig und öde wie der ganze Sonntag. Nirgends reges Leben. Selbst die Theater veröden, welche alle zusammen nicht so viel Einnahme erzielten als sonst eine einzige Premiere der Oper. Der Polizeipräfekt konnte Carnot spät abends berichten, daß die Haupt­stadt vollständig ruhig und daß nicht eine einzige Ver­haftung habe stattsinden können. Gleich daraus er­hielten die Truppen Befehl, in die Kasernen zurück­zukehren, um sich zur Ruhe zu begeben. Ein einziger unbedeutender Zwischenfall. In Marseille hatten sich die Anarchisten des Bureaus der Maifeier-Ver­sammlung, noch ehe diese begann, bemächtigt, aber die Sozialisten waren entschlossen, es nicht zur Unord­nung kommen zu lassen, und zogen es vor die Ver­sammlung ganz fallen zu lassen. In bester Ordnung verließen sie den Saal, so daß die Anarchisten un­verrichteter Sache gleichfalls abziehen mußten. In St. Etienne, wo man besondere Unruhen befürchtet, war die Beteiligung so schwach, daß von zwei ange­sagten Versammlungen nur eine stattfinden konnte. Das Wetter war schauderhaft, die Stadt in ein Schnee­tuch gehüllt.

Permischtes.

Zur Jäger'schen Defraudation. Den M. N. N." wird aus Brüssel, 1. Mai, geschrieben: Gegen Ende der vorigen Woche erhielt die Brüsseler Polizei seitens der Frankfurter Polizei die Verständig­ung, daß der Rothschild'sche Kassierer sich vermutlich in Begleitung seiner Geliebten, einer gewissen Louise Kahle, nach Belgien gewendet habe. Die hiesige Polizei stellte daraufhin eifrige Nachforschungen an, die thatsächlich zu dem Ergebnisse führten, daß eine Frauensperson Namens Louise Kahle in der Rubens­

straße (Vorstadt Schaerbeck) ein möbliertes Zimmer gemietet hatte. Gestern erschienen mehrere Brüsseler Geheimpolizisten in der Wohnung der Kahle und nahmen Hausdurchsuchung vor, welche zur Beschlag­nahme des Briefwechsels zwischen ihr und Rudolf Jäger führte. An einer Wand des Zimmers hing ein blumenbekränztcs Bild Jägers mit der Aufschrift: Willkommen bei mir." Im ersten Verhöre erklärte Louise Kahle, sie sei von Italien nach Brüssel ge­kommen und habe von den Veruntreuungen Jägers erst aus den Zeitungen Kunde erhalten. Später ge­stand sie, daß sie allerdings die Reise nach Belgien von Frankfurt a. M. aus angetreten hatte, leug­nete aber entschieden jede Mitschuld an dem Jäger zur Last gelegten Verbrechen. Sie behauptet auch, den gegenwärtigen Aufenthaltsort Jägers nicht zu kennen und die in ihrem Besitze gefundenen Briefe des Defraudanten rühren von der Zeit vor dem be­gangenen Millionen-Diebstahl her, so daß sie eine ernste Handhabe gegen die Kahle nicht bieten. Da diese krank ist, so wurde (wie schon telegraphisch ge­meldet) an Stelle der Verhaftung vorläufig eine poli­zeiliche Bewachung angeordnet. Der Bruder der Kahle ist bei ihr hier auf Besuch gewesen, aber nach unbe­kannter Richtung abgereist. Die hiesige Polizei mißt den Angaben der Person keinen Glauben bei, ist viel­mehr der Meinung, daß diese gleichzeitig mit Jäger Frankfurt verlassen hat und den gegenwärtigen Auf­enthaltsort des Letzteren wohl kennt. Man nimmt an, daß Jäger sich hier versteckt hält, und die Polizei setzt deshalb die Nachforschungen eifrig fort. Mehrere deutsche Geheimpolizisten sind zur Unterstützung der Polizei in Brüssel eingetroffen.

Ein g r a u e n v o l le s Fam i liendrama hat die Bewohner von Laufenburg im Kanton Aargau in ungeheure Aufregung versetzt. Der N. Züricher Z. schreibt man darüber: Vor kaum Jahresfrist verehelichte sich die Witwe B. mit einem 63jährigen Witwer B . . r. Die Eheleute führten den bekannten Gasthof zum Pfauen in Laufenburg. Aus der ersten Ehe der Wittwe B. lebten 5, aus der ersten Ehe des Br. 3 Kinder. Der neue Ehe­bund war kein glücklicher, insbesondere beklagte sich die Frau B. über brutale Behandlung von Seiten ihres Mannes und beschwerte sich ihren Kindern gegenüber über die Haltung desStiefvaters". Der älteste Sohn der Frau B. faßte schließlich, aufgeregt und angespornt durch die beständigen Klagen der Mutter, den Entschluß, den Stiefvater zu beseitigen. Am Abend der 27. Nov. letzten Jahres äußerte er seiner Mutter gegenüber den Vorsatz, die Befreiungs- that auszuführen. Während der Stiefvater im Keller hantirte, folgte ihm der Sohn, nachdem er sich zuvor Mut angetrunken hatte, nach und zertrümmerte ihm mit den WortenNun mußt du sterben" den Schädel. Mutter und Sohn beratschlagten sodann, was weiter zu thun sei. Sie kamen schließlich überein, einen Unglücksfall" zu präparieren; sie schleppten den Er­

bedeckten Winter- und Sommersaatfelder wird nicht» befürchtet. Dagegen sind teilweise die Luzernenfelder von der Schneelast niedergedrückt und dürften Schaden genommen haben. In den Weinbergen sieht es zwar nicht infolge des Schnees, wohl aber infolge des galten Winters 1890 traurig aus. Ein großer Teil der Weinberge mußte, weil abgestorben, ausgehauen werden und einem weiteren Teil steht dasselbe Los im nächsten Jahre bevor. Die Weinberge sind von dem kalten Winter her bis tief hinunter an den Wurzeln erfroren, kränkeln und sind größtenteils im Absterben begriffen. Daß auch die Blattfallkrankheit schädlich gewirkt hat, wird angenommen; sicher ist aber, daß die erfrorenen Rebstöcke von der Blattfall­krankheit stärker geschädigt wurden, als die unerfrorenen, wie überhaupt kränkelnde und ungesunde Organe von einer neu hinzutretenden Krankheit schwerer heimge­sucht werden und eher unterliegen als ursprünglich gesunde. Das hat auch die Influenza gezeigt.

_ Schw. M.

München, 2. Mai. Das Landgericht verur­teilte den früheren Direktor des Stuttgarter Südd. Verlagsinstituts Emil Hänselmann wegen zahl­reicher Kautionsschwindeleien zu sieben Jahren Gefängnis.

Nordenham, 30. April. Der Kaiser, Prinz Heinrich und der Erbgroßherzog von Oldenburg sind auf dem PanzerschiffBeowulf" von Helgoland um 1 Uhr mittags in Nordenham eingetroffen; die LloyddampferElbe,"Spree" undGera" lagen zur Besichtigung bereit. Da die Zeit knapp geworden war, ließ der Kaiser dieElbe" langsam vorbeifahren und besichtigte dann die Pläne der Nordenhamer Hafenanlagen. Der Kaiser fuhr 3'/« Uhr nach Berlin ab und ließ dem Lloyd für seine Bemühungen danken.

Berlin, 2. Mai. Der Kaiser reist am 10. Mai nach Stettin, später nach Danzig, sodann nach Schloß Rominten in der Provinz Ostpreußen und kehrt Ende Mai zur Berliner Frühjahrsparade zurück.

Berlin, 2. Mai. Die Maifeier ist hier ruhig verlaufen bei kaltem regnerischem Wetter. Die Lokale, wo Versammlungen angekündigt, waren überall dicht gefüllt. Für den Abend waren zahlreiche Tanzunter­haltungen angekündigt, daneben die großen Versamm­lungen, wo die sozialistischen Reichstagsführer Reden hielten. Keinerlei Ruhestörungen liegen vor; aus allen Provinzen kamen ruhige Nachrichten.

Lüttich, 2. Mai. Gestern abends 8'/, Uhr fanden zwei Explosionen statt bei dem Senator Deselys und dessen Sohn. Der Materialschaden ist beträcht­lich, aber niemand wurde verletzt. Um 10 Uhr er­folgte eine dritte Explosion in der Kirche Saint Martin. Wertvolle Chorfenster wurden zerstört, auf 300 Meter zersprangen die Fenster der Häuser. Eine Patrone mit brennender Lunte wurde noch vernichtet. In der Stadt herrscht große Beunruhigung.

Am untersten Ende der Tafel wurden die Stühle gerückt.

Ein Herr und zwei Damen, eine jüngere und eine ältere, erhoben sich und verließen den Saal. Der Herr reichte der jüngeren den Arm, hingegen die Ältere, eine Frau in den Sechzigern, etwas verlegen, unsicher dem Paare nachfolgte.

Welches ungleiche Paar!" bemerkte Frau Karsten.Er sieht wie ein kolleriger Truthahn und sie wie eine Maiblume aus. Wie ist die Frau zu dem Mann gekommen ?"

Wer sagt denn, daß er ihr Mann ist? Er kann ja ebenso gut ihr Vater sein," meinte der Fabrikant.

Eins scheint mir so ungewiß, wie das Andere," entschied der Rechtsanwalt. Vielleicht sind es nur Vormund und Mündel."

Unwillkürlich bückte Graf Fabrik bei der etwas in lautem Tone geführten Unterhaltung nach dem Paare hin. Er stutzte und sah äußerst überrascht aus. Er hatte eine Frage auf den Lippen, unterdrückte sie aber und horchte nur auf, als Frau Karsten ein älteres Fräulein in ihrer Nähe fragte, ob ihr der Name des seltsam ungleichen Paares bekannt sei.

Die Angeredete, welche da» lebendige Lexion von S . . . war, erwiderte, daß sie denselben noch nicht in der Kurliste gelesen, sie höre aber, daß er reicher Schiffs­rheder und seine Frau ein Mädchen von obskurer Herkunft sein solle. Sie hätten die Villa zu dm drei Linden gemietet und schienen dort ohne jedm Verkehr ganz M und zurückgezogen leben zu wollen.

Was wir von un» nicht behaupten können, Frauchen." neckt« der Rechtsan­walt seine junge Frau.

Dazu sind wir doch auch nicht hierher gekommen," erklärte jm« lebhaft. Wenn Jeder, der in» Seebad kommt, dm Menschenscheuen spielen oder sich allein nur genügm und keinen Verkehr mit Andern suchen wollte, würde ich e» bald recht unbehaglich finden."

Das behaupte ich auch," stimmte ihr der warmherzige Fabrikant bei.Wer weiß auch," setzte er mit einem vielsagenden Lächeln hinzu,weshalb jene» Paar so gmäckgezo-rn leben will."

Während dieser Unterhaltung hatte Graf Fabrik dem Kellner sein Diner be­richtigt, sich erhoben und mit einem förmlichen Gruß von dem Fabrikanten und seinen Tischnachbarn verabschiedet.

Die Frau des Rechtsanwalt» sah jetzt nach dem Exklusiven hinüber, welche den Mittelpunkt der langen Tafel einahmen und das laute Sprechen und Lachen der munteren Frau äußerstshoking" fanden.Sehen Sie," flüsterte sie dem Fabrikanten zu,wie gelangweilt die feine Gesellschaft vor lauter Feinheit aussieht. Sie sprechen zusammen, als hätten sie sich nur Staatsgeheimnisse mitzuteilen, und ein lautes Wort wäre Hochverrat. Am meisten bedaure ich Signor Campella, welcher die Ehre hat, neben der Baronin zu sitzen, die ihn äiit ihrer Würde und Grandezza fast erdrückt."

Nun, er sieht durchaus nicht aus, als wenn er sich so leicht erdrücken lassen könnte," spottete der Fabrikant mit einer Anspielung auf seine mächtige Gestalt.

Aber Sir müssen doch zugrbm," wandt« Frau Karsten ein,daß Frau Baronin Mutter auf ihn für ihre Tochter spekuliert!'

Da sollte mir die Tochter leid thun. Campella könnte ja mindesten» ihr Vater sein!"

Indessen stand Graf Fabrik im Garten und überlegte, welchen Weg er ein- schlagen sollte. Kurz entschlossen nahm er den Weg über die Wiesen, dem Strande zu. Al» er au» dem Dorf hinau»trat, da» er erst zu passieren hatte, sah er da» besprochene Paar, ohne ihre Begleiterin, denselben Weg nehmen. Die junge Frau hatte den Arm de« Herrn loSgelossen und ging neben ihm.

Wie gebannt hingen de» Grafen Blicke an der schlanken, biegsamen Gestalt» die leicht und frei über die Wiesen dahinschwrbtr. Ein kostbarer, persischer Shawl hing los, über ihren Arm und da» goldblonde Haar quoll in schweren, glänzenden Locken unter dem mndrn Schäferhut hervor, dm rin Kranz zarter Maiblumen schmückte»

(Fortsetzung folgt.)