502

Reisemarschall Frhrn. v. Brüsselle und dem Kgl. Flügeladjutanten Rittmeister Bieber.

Stuttgart, 17. Okt. I. Mas. die Königin- Witwe empfing in den letzten Tagen Se. K. Hoh. den Erbgroßherzog von Mecklenburg- Strelitz und Se. Hoh- den Herzog Franz von Teck, sowie die Abordnung des Kais. rust. Drag.Reg. von Nischni- Nowgorod, dessen Inhaber Seine Maj. der höchstselige König war. Ferner hatten die Angehörigen des früh­eren Hofstaats Ihrer K. Majestäten die Ehre, von der Königin-Witwe empfangen zu werden.

Stuttgart, 17. Okt. An dem Sarge Sr. Majestät des hochseligen Königs Karl wurden Freitag nachmittag zwei weitere prächtige Riesenkränze nieder­gelegt. Der eine mit schwarzer Atlasschleife ist von den Großfürsten Michael Nikolajewitsch, der zweite mit Chamois-Schleife stammt vom Offizierskorps des russischen Dragoner-Regiments Nischny Nowgorod Nr. 16, dessen Chef der verstorbene König war.

Stuttgart, 14. Okt. Eine tragikomische Geschichte konnte man am letzten Montag im Gast­hausz. L." in Kirchheim u. T. beobachten. Eine Menge von Leute es mochten gegen 150 Landleute jeglichen Alters sein füllten die Lokalitäten des Gasthausesz. L." Alle waren, wie auf den ersten Blick zu erkennen war, mit irgend einer Krankheit oder emem Gebrechen behaftet. Der eine hatte einen Kropf, der andere hatte das Gesicht faustdick verbunden, kurz es war eine Gesellschaft, die der Menschheit ganzen Jammer herausforderte. Plötzlich kam Leben unter die Leute;er kommt", flüsterte einer dem andern zu.Wer kommt?"Der Wunderdoktor", lautete geheimnisvoll die Antwort. Er kam wirklich;

ein Schäfer, mit einer gewaltigen Schippe bewaffnet, den sammtverbrämten Schäfermantel mit allerlei höchst zauberhaft gearbeiteten Knöpfen bedeckt, erschien unter dem Portal, um sich, ehrfurchtsvoll von der um­stehenden Menge begrüßt, in ein in der Nähe liegen­des Empfangszimmer zu begeben. Aber der Wunder­doktor war kaum etliche Minutenim Amte", als ein anderer" kam, aber kein Wunderdoktor, sondern der Herr Oberamtmann, welcher dem Wunderdoktor aufs energischste bedeutete, daß er seine Wunderkuren

Sympathie hieß das Stichwort seiner Kunst an seinen weißen Schäflein anwenden möge. Aerger- lich über diese unliebsame Störung ging derLaien- homöopathiepraktikant", wie der Titel auch statt Wunder­doktor zuweilen lautete, mit seiner Schippe, gefolgt von einem Teil der Gebrechlichen, von dannen, auf die Behörde keine Segenswünsche ausstoßend.

Cannstatt, 16. Okt. Gestern nachmittag fand in der Rose der sogenannte Herbstsatz statt und wurde von den Vertretern der 13 weinbautreibenden Gemeinden des Oberamtsbezirks Cannstatt, sowie den Gemeinden Eßlingen mit Filialen, Feuerbach und Degerloch beschlossen, mit der allgemeinen Lese am Montag, den 26. Okt., zu beginnen. Das Gesamt­erzeugnis von diesen Gemeinden wurde zu 7000 Hek­toliter (gegen 34,000 Hektoliter im Vorjahr), das von Cannstatt bei einer Fläche von 700 Morgen ^ Hl- zus. zu 1050 Hl. veranschlagt. Da hier überall und fleißig bespritzt wurde, ist der Stand der Belaubung der Weinberge ein schöner und ist dank der guten Witterung in den letzten Monaten mit Sicherheit auf einen guten Wein zu rechnen.

Eßlingen, 15. Okt. Gestern Nacht 10 Uhr wurde ein hies. Kaufmannslehrling von einem Küfer­gehilfen in der Fabrikstraße dadurch bedroht, daß er ihm in den Weg trat, ihm den mit sechs scharfen Patronen geladenen Revolver vor die Brust hielt und mit den Worten anfuhr:Komm her du Lausbub, ich schieße dich nieder wie einen Hund. Ein hinzuge- kommener Arbeiter der Rep.-Werkstätte übergab den Burschen der Polizei, welche ihn dem Gericht über­wiesen hat.

Winnenden, 16. Okt. Gestern abend feuerte auf der Heimkehr vom Unterweifsacher Markt der Sohn eines hiesigen Schuhmachermeisters zwei Pistolen­schüsse auf den eigenen Vater ab, ohne zum Glück zu treffen. Er wurde in Haft genommen. Den Anlaß zu seiner frevelhaften That soll Haß gegen den von der Familie getrennt lebenden Vater gegeben haben.

Kirchheim u. T., 15. Okt. Der Ankauf von Simmenthaler Zuchtvieh war in diesem Herbst schwieriger, als in früheren Jahren, weil dasselbe mehr und mehr gesucht und für entferntere Gegenden angekauft wird. Trotzdem ist es der Kommission, welche im Auftrag des landw. Vereins Zuchtvieh im Simmenthal einkaufte, gelungen, so billig und gut einzukaufen, daß bei der Versteigerung des aufgekauf­ten Zuchtviehs kein Verlust herauskam. Die genaue Berechnung hat das kleine Defizit von 16 ^ ergeben. Demgemäß ist die irrtümliche Angabe, welche in unseren Zeitungen zu lesen war, daß das Defizit 250 ^ betragen habe, zu berichtigen.

Reutlingen, 16. Okt. Diesen Abend ver­unglückte in der Nähe der Villa Majer ein bei dem Bau der Echatzthalbahn als Bremser thätiger, aus Bayern gebürtiger Arbeiter. Derselbe wurde aus einem im Gang begriffenen Zuge vom Rollwagen ab­geworfen und überfahren. Dem Unglücklichen wurden einige Rippen und das Schulterblatt eingedrückt; außerdem erlitten seine Lungen durch Knochensplitter schwere Verletzungen, welche das Aufkommen des Be­dauernswerten, dem Oberamtsarzt vr. Steinbrück die erste Hilfe brachte, fraglich erscheinen lassen.

Auf die von dem Reichstagsabg. Frhrn. v. Münch gegen die Württ. Vereinsbank erhobene Anklage wegen Schädigung infolge höher als dem limitierten Betrag ausgebotener Stammaktien der Ludwigsburger Brauerei, ist nun von dem Direktor der Württ. Vereinsbank, Geh. Hosrat Colin, in be­sonderem Beiblatt desStaatsanz." eine Erklärung erschienen, in welcher derselbe die Anschuldigung der Bank zurückweist und gegen die in der Broschüre enthaltene Beleidigung seiner Person Klage androht. Hrn. v. Münch sei von ihm wegen einer andern früher zugefügten Beleidigung verklagt, da derselbe jedoch als Reichstagsabgeordnetsr nicht verfolgt werden könne, so ruht die Klage.

Heidenheim, 14. Okt. Im Herbstmanöver wurde durch Ueberfahren, Ueberreiten von Kartoffel-, Rüben- und Kleeäckern, sodann durch Aufwerfen von Schanzgräben, durch Biwakieren auf mancher Markung Schaden verursacht. Die Entschädigung beträgt auf sieben Markungen in 52 Fällen 495 66 -A In

50 Fällen wurde dieselbe durch Einigung, in 2 Fällen durch Schätzung festgestellt. Die vom Schaden Be­troffenen sind mit der Entschädigung vollkommen zu­

frieden. Manche Oekonomen haben kleinere Schäden» gar nicht zur Anzeige gebracht.

Saulgau, 14. Okt. In Hoßkirch stürzte das Gerüst ein, welches an der Spitze der Kirche errichtet war, um einen hohen Helm auf den Turm zu setzen. Die Trümmer des Gerüstes zerschlugen teils das Kirchdach, teils fielen sie auf den Friedhof, wo viele Grabsteine beschädigt wurden. Ganz kurz vor der Katastrophe hatten 10 Handwerksleute das Gerüst verlassen.

Wiesbaden, 15. Okt. Der Sultan, welcher dem z. Z. hier weilenden Major Steffen, dem Vorschläge des Kaisers entsprechend, die Stelle als Instrukteur der türkischen Artillerie (artilleristischer Beirat des Sultans) übertragen hat, ließ den Major Steffen telegraphisch ersuchen, seinen Posten so bald als möglich anzutreten. Wie man hört, wünscht der Sultan den baldigsten Eintritt des Majors, da wich­tige orgÄstisatorische Fragen in der türkischen Artillerie vorliegen und da insbesondere auch die Frage der Befestigung des Bosporus und der Dardanellen, bezw. ihrer Ausrüstung mit neuerem Material eine akute ist. Major Steffen wird seinen neuen Posten zu An­fang des Monats November antreten, nachdem ihm inzwischen durch kaiserliche Kabinettsordre vorläufig, d. h. bis zur Einreichung seines endgiltigen Ent­lassungsgesuches, ein 3monatlicher Urlaub behufs seines Uebertritts in türkische Dienste bewilligt worden ist.

Berlin, 17. Okt. Der heute in der Kapelle des kgl. Domstifts veranstalteten Trauerfeier für König Karl von Württemberg wohnten der Reichskanzler v. Caprivi, Minister v. Bötticher, Staats­sekretär Frhr. v. Marschall, Kriegsminister v. Kalten­born, Vertreter des Bundesrats, des diplomatischen Korps, zahlreiche Offiziere und Gelehrte bei. Die Gedächtnisrede hielt Hofprediger Frommel; derselbe schilderte die Vorzüge des Heimgegangenen. Mit, Gebet des Hilfspredigers Nsudörffer schloß die er­hebende Feier.

Vermischtes.

Vor einigen Tagen erhängte sich in einem, Hause der Zimmerstraße in Berlin ein Handwerker., Die Hausbewohner und die Ehefrau desselben waren kurz vor dem Selbstmorde mit dem Lebensmüden noch auf dem Hofe beisammen gewesen. Die Ehefrau hatte wenige Minuten vorher mit ihrem Manne einen Wortwechsel gehabt und eilte, als er sich entfernt hatte, plötzlich von Ahnungen erfüllt, nach dem Boden, wo in der That ihr Mann sich eben aufgeknüpft hatte.. Auf den Hilferuf der Frau kamen die Hausbewohner zum Thatorte herbei, und eine beherzte Frau ergriff ein Messer, um den Körper, aus welchem das Leben, noch nicht entflohen war, abzuschneiden. Diesem Vor­haben widersetzten sich aber insofern die übrigen Hausbewohner, als sie es klingt fast unglaublich der Frau begreiflich machten, daß sie vier Monate Gefängnis zu erwarten habe, wenn sie den Selbstmörder abschneide, da hierzu nur die Polizei berechtigt wäre!! Und so geschah denn das kaum. Denkbare: Man ließ den Mann hängen bis die Polizei zur Stelle war. Die irrige Meinung, daß man einen Selbstmörder an der Stelle liegen lassem müsse, bis die Polizei erscheint, hat in diesem Falle die noch mögliche Rettung eines Menschen verhindert.

Aber was für Verrichtungen konnte denn Ihr Bekannter außer seinen Studien zu besorgen haben?"

,O, da gab es allerleil DeS Morgens las er einem alten blinden Herrn zwei Stunden lang die Zeitungen vor, eine Leistung, für die er durchaus angemessen, das heißt, ungefähr nach dem Lohntarif eines Laufburschen honorirt wurde, und die ihm obendrein auf die denkbar angenehmste Art zur Kenntniß aller bemerkens­werten Weltereignisse verhalf. Das einzige Unangenehme dabei war nur, daß ihm der alte Herr jedesmal bei der Aushändigung der Bezahlung die Versicherung gab, er solle dieselbe mehr als eine Unterstützung, denn als einen wohlerworbenen Lohn betrachten, da Vorlesen eigentlich als eine wirkliche Beschäftigung nicht anzusehen sei. Am Nachmittag hatte er den vier ungezogenen und ziemlich beschränkten Rangen eines Zahlmeisters drei Stunden lang wissenschaftliche Nachhilfe zu Teil werden zu lasten, ein allerdings ziemlich trauriges und aufregendes Amt, das ihm indessen außer einem täglichen Salair von sechszig Pfennigen noch die großmütige Zugabe einer Tasse Kaffee einbrachte. Den Rest seiner Zeit aber verbrachte er in Ermangelung eines anderen e nträglichen Erwerbszweiges mit Abschriften für einen Theater-Agenten. Er bezog für jeden Bogen eine Entschädigung von zehn Pfennigen und hatte obendrein den Vorteil die neuesten Erzeugnisse der dramatischen Litteratur ohne Opferung der teuren Eintrittspreise zum Theater kennen zu lernen.

Aber das ist ja entsetzlich!" rief Nelly mit un geheuchelter Teilnahme aus. Und der arme Mensch ist nicht zu Grunde gegangen bei einem so erbärmlichen Leben?"

O nein, er hat es vielmehr ganz leidlich überstanden und obendrein manchen Vorteil für seine Zukunst daraus gezogen."

Etwa die Kunst, ohne jeden Lebensgenuß zu existieren? Nun darum wäre er wahrhaftig nicht zu beneiden!"

Auch diese Kunst ist nicht so ganz zu unterschätzen; aber ich denke, mein Bekannter hat noch etwas ungleich besseres gelernt. Er weiß, wie es dem Entbeh­

renden und Hungernden, dem Freudlosen und Einsamen, zu Mut ist; er kann sich in die Herzensstimmung des Verachteten und Niedrigen finden und nichts mensch­liches ist ihm fremd! Vielleicht wäre es besser für die Bedrängten und Leidenden, wenn man diese Kenntnis und Erfahrung von jedem Arzte, wie von jedem Richter und auch jedem Geistlichen verlangte!"

Eine kleine Pause folgte seinen mit großer Wärme gesprochenen Worten;, dann klang es zaghaft aus Nellys dunkler Ecke hervor;

Und nicht wahr. Sie selbst sind dieser Student gewesen? Sie haben alle diese Erfahrungen an sich selber machen müssen?"

Der Doktor antwortete nicht sogleich und ein unerwartetes Ereignis enthob ihn sodann der Notwendigkeit, Rede zu stehen. Der Wagen schien nämlich mit einem Rade in eine kleine Vertiefung des Weges geraten zu sein; denn er stieß heftiger als zuvor. Die Insassen waren auf die heftige Erschütterung eben so wenig vor­bereitet gewesen, daß der Doktor plötzlich Nellys Schulter an der seinen fühlte und daß eine weiche, warme Hand, die unwillkürlich nach einer Stütze suchte, die seinige berührte. Einer Eingebung folgend, über deren Kühnheit er sich selbstwohl kaum Rechen­schaft gab, bemächtigte sich der Doktor dieser weichen Hand und ob es nun eine Folge des Schreckens oder die Furcht vor Wiederholung ähnlicher Erschütterungen» war sie wurde ihm seltsamer Weise nicht wieder entzogen. Das Gespräch aber, das sich eben noch bis zu solcher Lebhaftigkeit gesteigert hatte, war wie mit einem Schlage abgeschnitten und Keiner machte einen Versuch, es wiever zu beleben. Außer Tante Dorettens tiefen Atemzügen war kein Laut vernehmlich und doch schienen sich die jungen Leute bei dieser Schweigsamkeit durchaus nicht zu langweilen. Nelly hatte ihre Stellung durchaus nicht verändert, und der Doktor der sonst mit so viel Ruhe und Ueberlegung zu handeln gewohnt war, saß da wie in einem Rausche wonnigen Entzückens, er dachte an Vergangenheit und Zukunft und hatte keinen, anderen Wunsch als den, daß die Fahrt noch lange kein Ende nehmen möchte.

(Fortsetzung folgt.)