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sich das Erstaunen der Braut und ihrer Verwandten über den Aufzug. Trotzdem ging die Trauung ungestört von statten. Ob aber der junge Ehemann nicht in kurzer Zeit noch manches erleben wird, stehet dahin.
Rüankerg, U- Mai. Di« vereinigten bayerischen Spiegelglas-Fabriken werden wegen Abnahme deF Exportes nach Amerika auf vier Wochen den Betrieb einstellen.
> Frankfurt a. M., 1. Mai. Der Kassier eines hiesigen Bankhauses wurde wegen großer Unterschlagungen -(ca. 70000 »^) verhaftet.
Trier, 1. Mai. Der heilige Rock, das ungenähte angebliche Gewand Christi, wird von Dienstag, 18. August, ab auf drei Monate im hiesigen Dom ausgestellt werden. — Die Bevölkerung wird den dadurch veranlaßten Fremdenzufluß sicherlich nicht unangenehm empfinden.
Essen, 1. Mai. Die Gesamtzahl der Nicht- anfahrenden war 7327. Der Streik ist seit gestern auf 16 Gruben beendet. Neu ist im Ausstand „Recklinghausen II." Der 1. Mai hat keinerlei Störung gebracht. Damit ist das Schicksal des Streiks entschieden: derselbe wird nächster Tage im Sande verlaufen. — In der Bochumer Gegend sind, laut der „Rh.-Westf. Ztg.", die nicht zurückgekehrten Arbeiter der Zechen „Hannover" und „Holland" entlassen worden.
Geestemünde, 2. Mai. (Reichstagsstichwahl.) Gesamtergebnis: Fürst Bismarck 10544, Schmalfeld 5486 St.
Lyon, 2. Mai. Bei den im Laufe des Abends in der Nähe der Arbeiterbörse stattgehabten Straßenkundgebungen kam es zu wiederholten Zusammenstößen zwischen der Menge, aus deren Mitte einige Revolverschüsse abgefeuert wurden und einer einschreitenden Abteilung Kürassiere. Von letzteren wurden zwei leicht verwundet. Die Zahl der im Laufe des gestrigen Tages verhafteten Personen ist etwa 60. Von dem Polizeipersonal und den Soldaten wurden 10 leicht verwundet.
Petersburg, 24. April. Ganz Petersburg spricht von einem Mord, der gestern gegen 3 Uhr morgens in einem der beliebtesten Restaurants der Residenz, bei Palkin auf dem Newski-Prospekt, verübt wurde. Dort saßen seit 1 Uhr zwei größere Gesellschaften, die eine aus 5, die andere aus 10 Herren bestehend, an zwei verschiedenen Tischen. Die jüngeren 5 Herren, die wohl sämtlich des Guten zuviel gethan, sangen und lärmten in so ungebührlicher Weise, daß die andere Partie, meist gesetztere, ältere Leute, bald sich Ruhe ausbaten. Es kam darüber zu immer schärferen Erörterungen und schließlich zu Handgreiflichkeiten. Plötzlich zog einer der Lärmmacher, der Sohn des Revaler Papierfabrikanten Eugen Johannson, einen Revolver aus der Tasche, stürzte auf den Edelmann Braschkewitsch zu und feuerte mit ! den Worten: „Du hast mich geschlagen!" blitzschnell !
hintereinander drei Schüsse ab. Eine Kugel ging dem B. durch den Mund, die zweite in die Achsel, die dritte durchschlug die Lunge; blutüberströmt stürzte der Getroffene nieder und verschied in wenigen Minuten. Die Festnahme des Mörders erfolgte sofort. Der Schlag, der Johannson in Wut versetzte, soll von einem anderen Herrn als dem Ermordeten geführt worden sein. Johannson war erst Tags zuvor von Reval in Petersburg angekommen. Befragt, weshalb er einen geladenen Revolver bei sich führe, erklärte er, es sei ihm bei mancher Rauferei schlecht ergangen.
Petersburg, 30. April. Die Haltung, welche viele russische Kreise seit einiger Zeit gegenüber der in Moskau zu veranstaltenden französischen Ausstellung annehmen, bietet ein ganz eigentümliches Schauspiel. Die Verstimmung über dieses Unternehmen wächst nämlich beständig und macht sich mitunter in so franzosenfeindlichen Aeußerungen Luft, wie man sie am allerwenigsten aus russischem Munde erwarten würde. Der Plan zur Veranstaltung einer großen französischen Kunst- und Industrie-Ausstellung in Moskau wurde vor ungefähr zwei Jahren in fran- cophilen russischen Kreisen angeregt und fand in Petersburg sofort lebhaften Anklang. Man ging von der Erwägung aus, daß ein solches Unternehmen zur Kräftigung der französisch-russischen Beziehungen beitragen, in Deutschland Aerger Hervorrufen und die deutschen Handelsinteressen schädigen dürfte und jedenfalls Hunderttausende von Besuchern und viele Millionen Rubel nach Moskau bringen werde. Je näher aber der Plan seiner Verwirklichung rückte, um so mehr mußte die anfängliche Begeisterung für denselben einer nüchternen Auffassung Platz machen. Es ist vorauszusehen, daß die Ausstellung ein prächtiges und hochinteressantes Schauspiel bieten wird, und es steht auch außer allem Zweifel, daß Besucher aus allen Teilen des Reiches nach Moskau strömen werden. Nun drängt sich aber die Frage auf, wem j dieser großartige Fremdenverkehr in erster Linie zu ! statten kommen wird. Die Hoteliers, sowie auch jene ! Privatfannlien, welche sich für die Beherbergung von Fremden einrichten, werden allerdings einen Gewinn einheimsen; der größte Teil der vielen Millionen Rubel, welche die auswärtigen Besucher der Ausstellung ausgeben werden, wird aber sicherlich in die Taschen der Franzosen fließen. Wer im Laufe dieses Sommers nach Moskau kommt, um Einkäufe zu machen, wird ganz bestimmt nicht in den russischen Läden kaufen, was er in der französischen Ausstellung hübscher, besser und billiger haben kann, und die Franzosen werden sich gewiß mit geringerem Gewinn begnügen, als die russischen Kaufleute, welche bei ihren Waren einen Gewinn von siebzig bis hundert Prozent zu beanspruchen pflegen. In der kaufmännischen Welt Rußlands und speziell Moskaus sieht man daher der französischen Ausstellung mit tiefem Mißvergnügen entgegen, und man erkennt, aus politisch-nationalem
Enthusiasmus- einen Mißgriff begangen zu haben, dessen Folgen sich auf wirtschaftlichem Gebiete sehr empfindlich machen dürften. Die Reue kommt jedoch zu spät, denn jetzt bleibt den Moskauern doch nichts Anderes übrig, als die Franzosen, die sie so unbedachter Weise zu sich ins Haus geladen haben, mit gastfreundlichen Mienen zu empfangen.
— Infolge der Trauer, in welche der großherzoglich badische Hof durch das Hinscheiden der Großfürstin Olga, geborene Prinzessin Cäcilie von Baden, versetzt wurde, ist die Absicht des Kaisers, von Karlsruhe aus der Landeshauptstadt Straß- bürg einen kurzen Besuch zu machen, vereitelt worden. Trotzdem ist ein Ausflug des Kaisers in das Reichsland für die nächste Zeit wohl möglich. Wie man aus gewohnter Quelle hört, ist es nämlich wahrscheinlich, daß der Kaiser bei der Weiterfahrt von Bonn seiner lothringischen Besitzung Schloß Urville einen Besuch abstattet. Der letztere würde den 8. Mai zu erwarten sein.
— Der verstorbene KaiserWilhem rühmte sich, Moltke entdeckt zu haben. Er erzählte das, wie die „Börsen-Ztg." in Erinnerung bringt, einmal in einem Gespräche zu einem Diplomaten: „Ich erinnere in ich, es war in den zwanziger Jahren, als ich einmal bei der Revue über ein brandenburgisches Regiment den Kommandeur nach dem Namen eines spindeldürren Offiziers fragte, bei dem mich der geistige Ausdruck der Physiognomie frappiert hatte. „Das ist ein junger Herr von Molke", war die Antwort, „der aus Dänemark zu uns herüber gekommen ist." Wenige Monate darauf wurden mir zur Prüfung die Offiziersarbeiten aus jenem Regiment vorgelegt, und ich fand darunter eine Abhandlung über die Verteidigung von Kopenhagen, deren fein durchdachte Ausführungen mich ungemein wohlthuend berührten. Als ich nach dem Autornamen sah, fand ich den Namen Hellmuth v. Moltke unter der Arbeit verzeichnet, und ich erinnerte mich sofort, daß mir dieser Mann bereits bei der Parade aufgefallen sei. Ich studierte nun seine Arbeit aufmerksamer und überreichte sie mit einem eigenhändigen Vermerk dem Chef des Generalstabes, der sich auf meinen Hinweis veranlaßt sah, den jungen Mann aus der Linie, in welcher er stand, in den Generalstab zu berufen. Und so bin ich es denn gewesen, der dem späteren Feldmarschall die ersten Schritte auf seiner großartigen Laufbahn zu ebnen in der Lage war."
Vom Grafen Moltke. Eine kleine Erinnerung aus dem parlamentarischen Leben des General- seldmarschalls Moltke gewinnt erst nach dessen Tode eine größere Bedeutung. Es war am Donnerstag, dem Tage vor seinem Hinscheiden. Im Reichstage wurde das Arbeiterschutzgesetz verhandelt und Stadthagen hielt gerade eine sehr lange Rede, die Moltke etwas nervös zu machen schien. Unruhig war er mehrere Male auf- und abgegangen, hatte sich zeit-
schmeich-ln, sein Geld im englischen Klub zu verspielen u. s. w. Nicht wahr, so spricht man?"
„So ungefähr, ja."
„Das sind die Stimmen von Kaufleuten und Börsenspekulanten, die der Ansicht sind, — daß jedes Kapital, ob es nun im Kopf, im Adelstitel oder in der Geldkaffe stecke, doch nutzbringend angelegt werden müsse."
„Und hat dieser Satz keine Geltung?"
„Für Sie ja, für mich nicht. Ich sehe nicht ein, für wen ich jenes Kapital auf Zinsen legen soll, das Sie in meinen angeblichen Vorzügen erblicken. Für mich? Glauben Sie, ich würde mich als Gardekapitän oder Gesandtschaftsattachee m Berlin wobler fühlen, als jetzt ? Eme derartige Karriere entspricht durchaus nicht meinen Neigungen, folglich trägt sie nichts zu meinem persönlichen Glücke bei. Oder für den Staat und für die Gesellschaft? Für diesen Staat und diese Gesellschaft? Wir leben in Rußland, mein Herr."
„Sie meinen?"
„Ich meine, daß ich. wenn der Zufall meiner Geburt mich z. B. nach England geworfen hätte, sicher eine Arena vorgefunden hätte, in der ich meine Kräfte und meine Talente hätte erproben können. Ich wäre in Oxford wahrscheinlich Mitglied eines Rednerklubs geworden, hätte dann einige Reisen auf den Kontinent gemacht. um meine Welt- und Menschenkenntnisse zu bereichern und zugleich die Institutionen aller Kulturnationen mehr aus der Nähe zu studieren, und würde mich jetzt aus meine politische Thätigkeit im Oberhause vorbereiten. Aber was habe ich in Rußland zu suchen, was die Mühe der redlichen Arbeit lohnt? Welches Ziel winkt hier dem Ehrgeiz der Jugend, das des Schweißes der Edlen wert ist? Das Leben genießen und es gelangweilt von sich zu werfen, wenn das Geschäft die Kosten nicht mehr deckt, das ist die einzig richtige Philosophie für Diejenigen, die man zu der Blüte der russischen Jugend rechnet."
„Das sind recht düstere Ansichten, die Sie äußern," bemerkte Herr Goluboff nach einer kurzen Piuse, „aber ich verkenne nicht, daß in Ihren Worten viel Wahres enthalten ist."
„Der Fürst lehnte sich in seinen Stuhl zurück und ließ den Rauch seiner Cigarrette in die Höhe steigen. „Haben Sie, mein werter Freund," fragte er dann, „jemals davon gehört, wie mein Vater gestorben ist?"
„Er fiel durch Mörderhand, soviel ich weiß, durch die Hand eines Irrsinnigen?"
„So ganz verrückt war der Mann nicht, der die Pistole auf die Brust meines Vaters richtete, obgleich er Jemanden tötete, den er nicht kannte, den er nie zuvor gesehen und der ihm nichts zu Leide gethan hatte. Wenn es Sie nicht langweilt, so will ich Ihnen die näheren Umstände jenes entsetzlichen Ereignisses mitteilen, das seinen dmklen Schatten auf meine Kindheit warf und in gewissem Sinne bestimmend auf mein Leben cinwirkte, da es meinen Gedanken und meinen Ansichten eine Richtung gab, die von derjenigen abwich, die ihnen durch meine Geburt vorgezeichnet war."
„Ich bitte Sie darum."
„Ich erinnere mich meines Vaters noch sehr genau, obwohl ich erst fünf Jahre art war, als ihn ein so plötzlicher und schrecklicher Tod seiner Familie entriß. Er war eine Persönlichkeit, die Niemand so leicht vergessen konnte, der ihr einmal nahe gestanden war. Ein Aristokrat mit ganzem Selbstgefühl seines Standes, aber auch von jener Noblesse der Denkart, die nun einmal — das ist der einzige Vorzug, den ich ihm einräume — in unserem Stande häufiger zu finden ist als in jedem anderen. Er war oft hochfahrend und rücksichtslos gegen diejenigen, die auf der socialen Leiter ein paar Stufen tiefer standen als er, und sein Stolz mag nicht Wenige verletzt haben. Niemand aber konnte ihm das Zeugnis versagen, daß er der redlichste Mann in seinen Absichten und der ehrlichste in seiner Handlungsweise war, und ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl war vielleicht der hervorstechendste Zug seines Charakters. Und gerade dieser Mann mußte das Opfer der russischen Bureaukratie werden, deren Eigennutz nur noch von ihrer Unredlichkeit übertroffen wird."
(Fortsetzung folgt).