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Politischen Parteien waren unter einander selbst un­eins. Eine weitere protestantische Schwäche ist die große Spaltung der Anschauungen in Glaubenssachen; es finden sich Orthodoxe. Altlutheraner; der Prote­stantenverein glaubt z. B. nicht an die Wunder, an die Auferstehung Christi rc. und sucht statt Dogmen (kirchlichen Lehrmeinungen, Lehrsätzen) Vernunft­anschauungen zur Geltung zu bringen. Besonders die sogenannte Mtttelpartei soll ein großes Uebel sein. Im Volk selbst hat Religionslosigkeit und Gleichgiltig­keit eingerissen. Die katholische Kirche dagegen ist mächtig, einig, organisiert durch die Orden. Diese leicht bewegliche Truppe der katholischen Kirche kann, weil unverheiratet, überall hingeschickt werden. Ihrer Macht gegenüber sind unsere Kirchen im Nachteil. In der protestantischen Kirche sollte auch solche Einig­keit, solche feste Ueberzeugung des Protestantismus sein, dann könnte man die Jesuiten einlassen; man dürfte ihren Einflüsterungen nur kein Gehör schenken. Daß die Protestanten gegen die Jesuiten auftreten, widerspricht dem Grundsatz der Glaubens- und Ge­wissensfreiheit, welche Luther wollte, ist eine Abweich­ung vom protestantischen Grundsatz. Mit Petitionen an den Reichstag wird die Gefahr noch lange nicht unschädlich gemacht. Die Kraft und Stärke des Prote­stantismus muß wieder hervorgeholt werden; sie be­steht in einer lebendigen Auffassung des Worts Gottes und der Bibel. Im protestantischen Volk sind Bibel und Christentum in Mißkredit gekommen; es ist gleich- giltig, ja feindselig gegen Bibel, Christentum und Religion. Es thut not, einen festen und gewissen Standpunkt zu bekommen, ob Zweifel an der Bibel gerechtfertigt sind. Die Bibel hat Gedanken, welche gegen die Ungläubigen nicht fallen, Gedanken über die Bestimmung und Aufgabe des Menschen. Die Menschen sollen sich entwickeln aufwärts, ihre göttliche Bestimmung erreichen und die Bibel nicht auf vie Seite werfen. Das Königreich Gottes muß auf Erden aufgerichtet werden. Die Weiterentwicklung der reformatorischen Gedanken ist das beste Mittel gegen die Katholiken, wir müssen weiter reformieren. Das ist unsere Pflicht in dieser Zeit der geistigen Kämpfe. Mit größter Aufmerksamkeit folgten die sehr zahlreichen Anwesenden dem Vortrag. Das Ur­teil über die ausgesprochenen Gedanken bleibe den werten Lesern überlassen.

In Loffenau, O.A. Neuenbürg, ist am 6. d. M. ein Brand ausgebrochen, durch welchen ein Wohn- und Oekonomiegebäude vollständig zerstört wurde. Die Entstehungsursache ist nicht bekannt.

Stuttgart, 7. Jan. Im Festsaal der Lieder­halle feierte der deutsche KriegervereinKönigin Olga" sein 19. Stiftungsfest mit Weihnachtsbaum. Das Fest beehrten mit ihrer Anwesenheit S. Hoh. Prinz H errmgnn zu Sachsen-Weimar, Hofmarschall Frhr. v. Wöllwarth, Präsident des württ. Kriegerbundes nebst mehreren Präsidialmitgliedern, der Kommandant von Stuttgart, General v. Gleich und viele Offiziere des aktiven Heeres und der Landwehr. Der Festred­ner Roth schloß mit einem Hoch auf Ihre Majestäten den König und die Königin. Ein zweiter Toast galt dem Ehrenpräsidenten des württembergischen Kriegerbundes, Seiner Hoheit Prinz Herrmann zu Sachsen-Weimar, welcher hiefür dankte und dem KriegervereinKönigin Olga" die Glückwünsche zu

seinem 19. Stiftungsfeste darbrachte. Weitere Toaste wurden ausgebracht auf die Erzieherinnen der Jugend, die Frauen von Frhrn. v. Ellrichshausen, auf die Armee von Dettling. Oberstlieutenant v. Hiller brachte sein Hoch Sr. Majestät dem deutschen Kaiser. Hof­prediger Dr. Braun hielt eine Ansprache an die

Kinder, welche unter dem Weihnachtsbaum Lieder

sangen. Das Fest verlief in schönster Weise, wozu

die Kapelle des GrenadierregimentsKönigin Olga" das ihrige beitrug.

Stuttgart, 7. Jan. Die württ. Volks­partei hielt gestern ihre Landesversammlung im

Bürgermuseum oahier ab. Die Präsenzliste enthielt 534 Teilnehmer, darunter 146 aus Stuttgart. Den Vorsitz führte Fabrikant Gabler von Schorndorf. Der Reichstagsabg. Payer führte aus, daß der neu­gewählte Reichstag bisher weniger gehalten, als er (im demokratischen Sinne) versprochen. Das sei der Haltung des Zentrums zuzuschreiben, welches damit starke Gegenleistungen erzwingen wolle. Allein wenn das Zentrum von der Regierungzu Tode gefüttert" und nach Erfüllung seiner Ansprüche klaglos gestellt sem werde, so werde damit auch seine Existenzberech­tigung aufhören. Betreffs des Jesuitengesetzes er­klärte sich Payer auZ dem Gesichtspunkt des gemeinen Rechts für Beseitigung jedes Ausnahmegesetzes. An­ders stehe er zu der Frage der Wiederzulassung des Jesuitenordens, welche der Kompetenz der Einzelstaaten unterstehe. Wie er die Notwendigkeit der Orden überhaupt bestreite, so treffe dies bei dem Jesuiten­orden um so mehr zu, als derselbe das ihm von der öffentlichen Moral entgegengebrachte Mißtrauen rein selbst verschuldet habe. Als weitere Nevner traten in der Versammlung auf die Rechtsanwälte C. und F. Haußmann, Kapp und Schickler, sowie der Abg. Schnaidt (Ludwigsburg). In Sachen der Ver­waltungsreform stimmte die Versammlung der sog. Göppinger Resolution bei.

Ludwigsburg, 8. Jan. Heber den Unfall, der heute früh dem Orientexpreßzug zustieß, wird dem Schiv. M. von Ludwigsburg nachträglich telefoniert: Der Hintere Teil des Zuges kam durch die Entgleisung auf das Beihinger Geleise und in diesem Augenblick kam der Beihinger Zug eingefahren, der dann auf die abgelösten Wagen des Orientexpreß­zugs stieß. Die Maschine des Beihinger Zugs wurde auf die Böschung hinausgedrückt. Menschen wurden nicht verletzt. Der Schaden an Material ist nicht be­deutend. An der Fahrbarmachung des Geleises wird jetzt noch (4 Uhr Nachm.) gearbeitet. In Folge dieser Störung haben sämtliche Züge Verspätung. Es ist ein wahres Wunder zu nennen, daß Niemand verletzt wurde, denn der Zug von Beihingen war voll mit Arbeitern besetzt; auch in den abgelösten Wagen des Orientexpreßzugs befanden sich Fahrgäste.

Geislingen, 7. Jan. Der als Handlanger in der Spinnerei in Altenstadt beschäftigte Israel Heimerdinger war am Sonntag in Oberböhringen, verfehlte aber auf dem nächtlichen Heimgang den Weg und stürzte über hohe Felsen herab, wobei er einen Fuß brach. Obschon Leute, welche am andern Morgen von Ueberkingen nach Altenstadt gingen, seine Hilferufe hörten, konnten sie ihn dennoch nirgends ent­decken. Erst nach langem Suchen seitens einiger

Altenstädter Männer fanden diese den Verunglückten^ welcher Dank der etwas milder gewordenen Tempe­ratur in jener Nacht nicht erfroren war und ver- brachten ihn ins Krankenhaus.

Altbach, 7. Jan. In den letzten 14 Tagen sind noch 2 Kinder der Halsbräune erlegen und 10 neue Erkrankungen an Bräune oder Masern kamen zur Anzeige. Beide Schulklassen konnten heute wieder eröffnet werden. Von 85 Schülern sind 14 gesund geblieben, 71 krank gewesen, 2 gestorben, 51 heute wieder erschienen, 32 fehlen noch als noch nicht ge­nesen. Die Seuche ist demnach zwar nicht als er­loschen, aber als in entschiedener Abnahme begriffen zu betrachten.

Ulm. Am 19. Mai d. I. hatte dem Fabrik­arbeiter Z. in G. in der Vesperpause eine Fabrik­arbeiterin im Scherz ihr Strickzeug ins Gesicht ge­worfen. Eine Stricknadel ging dem Z. ins linke Auge, was dessen Verlust zur Folge hatte. Obschon der Unfall sich also nicht beim Betriebe der Fabrik ereignete, stellte Z. dem Inhaber und dem Werkxührer der Fabrik den Sachverhalt so dar, als ob er die Verletzung beim Packen eines Ballens, also bei einer Betriebs-Verrichtung erlitten habe, indem ein abgezwickter Draht ihm ins Auge geschnellt sei. Z. entstellte die Thatsache zu dem Zweck, um von der Berufsgenossenschaft für diese Verletzung eine Rente zu erhalten. Letztere erhielt indes von dem wahren Sachverhalt Kenntnis und stellte Strafantrag gegen Z., welcher von dem hiesigen Landgericht für diesen Betrugsversuch zu 7 Wochen Gefängnis ver­urteilt wurde.

Aus dem Hohenloheschen, 7. Jan. Seit drei Tagen ist der von unseren Gutsbesitzern so lang ersehnte Schnee nun endlich auch bei uns angekommen und hat unsere ganze Ebene mit einer Decke über­kleidet. Ein Vorschmack hievon hatten wir durch die strenge Kälte, die wohl schon seit vier Wochen bei völlig kahlem Erdboden herrschte, was den Landmann der Saaten wegen in großer Besorgnis erhielt; indeß war die gehegte Angst unbegründet, daß die Felder den Tag über nie auftauten und die jungen Frucht­schößlinge die niedere Temperatur gut aushielten. Ein Nachteil durch die kalte Witterung machte sich aber darin bemerklich, daß bei den herrschaftlichen Brennholzversteigerungen der Preis des Raummeters Hartholz um 11,5 in die Höhe ging, was dem

Geldbeutel des Taglöhners und der kleinen Leute empfindlich wehe thut. Die noch immer bei uns dahinten grassierende Maul- und Klauenseuche hat nun endlich ausgetobt und sucht nun die beiden Ober­ämter Mergentheim und Küntzelsau desto härter heim. In ersterem Bezirke mußte aller öffentliche Verkehr mit Rindvieh Schweinen und Schafen total eingestellt werden.

Konstanz, 5. Jan. Heute Morgen eilte die- Kunde von einem Mord durch die Stadt. Die etwa 45jährige Wwe. Schneckenburger, wurde hinter einem Lagerschopf auf der deutsch - schweizerischen Grenze mit 3 Stichen in der Brust als Leiche aufgefuuden.. Näheres ist bis jetzt noch nicht bekannt. Es hat den Anschein, als sei die Leiche erst nach der Ermordung an den Fundort verschleppt worden.

Ivo müßte es entgelten, daß sein Papa eine gute Partie ist, was schleppt er nicht an Bändern und Süßigkeiten in's Haus!

Johanna hatte ihm wiederholt erlaubt, sich die glänzenden Flitter, die ihm gefielen und die keinen Wert mehr hatten, nach Hause zu nehmen, auch einen und den andern Leckerbissen ließ sie dem kleinen Naschmäulchen zukommen. Kaum konnte sie ihre Thränen zurückhalten, aber als sie auf ihre Stube gelangte, weinte sie lange und schmerzlich. Die Alten hatten in einer Hinsicht Recht; Franz war ihr nicht gleichgültig geblieben; wie wäre dies auch möglich gewesen, da er der Erste' war, der dem alleinstehenden, verlassenen Mädchen mit menschlichem Anteil entgegen­gekommen, auch das Kind hatte sich ihr in's Herz gestohlen. Kaum wußte sie, ob sieden Vater um des Kindeswillen, oder das Kind wegen seines Vaters liebe. Aber eigennützige Berechnung, ja selbst der Gedanke, er könne sie einmal als seine Frau, als Mutter seines Kindes in das verwaiste Haus führen, waren ihr fremd ge° blieben. Was half ihr aber ihr reines Bewußtsein, wenn die bösen Alten, ja wenn vielleicht er selbst sie, für eine selbstsüchtige Männerjägerin hielten.

Sie hatte ihre Thränen kaum getrocknet, als ihre vierschrötige Hauswirtin an die Thüre klopfte, um sich über die Unordnung zu beklagen, welche die herum­fliegenden Fädchen und Läppchen von Johanna's Schneiderei im Hause verursachten. Sie kain ihr eben recht. Fort aus der Straße, fort aus dem Haufe, wo sie eine solche Verdächtigung, so bitteres Leid erfahren! Das war das Einzige, was ihr nach den Hornissenstichen des würdigen Paares übrig bliebe. Sie kündigte.

Kaum hatte die Hauswirtin das Zimmer verlassen, so fing sie an ihre Sachen zu packen. Mit höhnischem Deuten und Winken sahen sie die Alten drüben bei dem Geschäft; aber es wurde ihnen etwas weniger behaglich zu Mute, als Franz, auch heute ftüher als gewöhnlich heimkehrend, gleichfalls die offenen Koffer und das ge­schäftig hin und her eckende Mädchen sah. Ivo hatte sich beklagt, die Tante sei so schnell fortgegangcn, er bade ihr nicht einmal einen Kuß geben können. Und Franz wußte, daß die Alten irgend eine Mine gegraben. Er nahm seinen Hut und eilte, ohne ein Wort zu sprechen, hinüber. Johanna hatte die Herbstblätter, die sie mit '

Wachs überzogen, und in eine Vase gestellt, von dem Kaminsims herabgenommen Sie wollte sie wegwerfen; aber das Kind hatte ihr eine Freude machen wollen; es konnte nichts dafür, daß sie ihr vergiftet worden war. Sie wollte sie in den Koffer legen zum Andenken, daß sie glücklich gewesen und zwei Menschen von Herzen lieb gehabt. Da hörte sie Tritte auf der Treppe, die ihr das Blut ins Gesicht jagten, ein Pochen an der Thür, das ihrHerein" zitternd, kaum vernehmlich klingen ließ. Franz trat ein. Mit einem Blick hatte er die Sachlage erfaßt.

Ich habe von drüben recht gesehen," sagte er traurig,sie wollen uns ent­fliehen, meinem armen Knaben und mir?" Sie wollte etwas antworten, aber da hatte er schon ihre Hand gefaßt, und der wortkarge Mensch wurde förmlich beredtsam»

Gehen Sie nicht von uns, Johanna! Sie haben mich wieder das Leben schätzen, meinem Knaben die vorsorglich lenkende Mutterhand kennen gelehrt. Bleiben Sie bei uns!"

Sie stand fassungslos.

Jvo's Großeltern haben mir die Deutung gegeben, wie die Welt von meinem harmlosen Verkehr mit Ihnen und Ihrem Kinde denkt," sagte sie bitter. Sie wies auf die zusammengerollten Blätter.Sehen Sie, so ist mein Inneres. Vor einer Stunde war noch alles frisch und grün, aber nun hat die Wett einen Herbstschleier angelegt, und ich fürchte, ich könnte nicht mehr unbefangen mit Ihnen sprechen, es ist zu vieles in mir dürr und welk geworden."

Sie hatte nicht verstanden, was er mit seinen Worten gemeint.Vergessen Sie, daß die alten Leute Sie beleidigt. Sie sind grämlich, durch den Tod ihres einzigen Kindes verbittert. Aber Sie werden den Eltern von Jvo's Mutter, meiner Frau, die Achtung nicht versagen, und mit der Zeit, Johanna, gewinnst Du auch ihre Zuneigung. Ich war nicht besser als sie, da ich Dich kennen lernte und bin durch Dich verwandelt worden. So wird es, so muß es ihnen auch ergehen." Er faßte ihre Hand mit den Herbstblättern, die raschelnd und dürr zu Boden fielen, sie selber sank, erglühend wie eine Mairose, an seine Brust.

Ende.