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an ihm nicht sichtbar. Das Kind lag in einem am Fenster stehenden Bettlädchen; es stand in vorübergehender Abwesenheit der Mutter im Bettchen auf, öffnete das Fenster und stürzte hinaus.
— Eisenbahnunglück. Der von Stutt- art nach Mühlacker fahrende Güterzug 614 stieß eute Nacht nach 12 Uhr mit dem aus Mühlacker in der Richtung nach Illingen ausgefahrenen Güterzug 619 etwa 1'/, Kilom. vor Mühlacker zusammen. Der Zug 619 fuhr in Folge unterlassener Weichenbedienung statt auf dem rechten auf dem linken Geleise, auf welchem der Zug 614 auf der Fahrt von Stuttgart nach Mühlacker begriffen war. Von dem Personal der beiden Züge sind Zugmeister Hart- stern und Gepäckschaffner Späth getötet; Zugmeister Bezmann und Bremser Sch netz er, sowie ein weiter Bediensteter schwer verwundet; 4 Bedienstete sind leicht verwundet. Zwei Lokomotiven und fünf Güterwagen wurden stark beschädigt, die die Beschädigung der Bahn ist nicht bedeutend; eines der beiden Geleise wird im Laufe des Vormittags wieder fahrbar sein. Der Betnebsoberinspektor Finanzrat Hörner und der praktische Arzt I)r. Römer von Stuttgart begaben sich mit dem Nachtschnellzug Nr. 38 auf die Unfallstelle. Mit dem Werkstättehilfszug folgten der Oberfinanzrat Dopffel, Baudirektor v. Schlierholz, Obermaschinenmeister Fischer, Wagenmeister Glück und zwei weitere Stuttgarter Aerzte. Die Verwundeten trafen mit dem Orientexpreßzug um 9 Uhr vormittags in Stuttgart ein und wurden teils im Katharinenhospital, teils in der Privatklinik von vr. Zeller untergebracht.
Bebenhausen, 19. Juni. Seine Majestät der König traf heute vormittag 10.^, von der versammelten Menge mit anhaltendem Hochrufen begrüßt, mit Extrazug in Tübingen ein, nahm daselbst die Meldung des Bataillons-Kommandeurs Majors Stohrer entgegen und begab Sich sofort zu Wagen nach Bebenhausen. Seine Majestät traf in dem festlich geschmückten Ort gegen 11'/» Uhr ein und wurde von den Forstbeamten, dem Ortsgeistlichen und den bürgerlichen Kollegien mit begeistertem Hoch empfangen.
Oberndorf a. N., 19. Juni. Seitens der hiesigen Schützengesellschaft werden die Vorbereitungen zu der am 22. und 23. d. M. stattfindenden Feier der Einweihung des neuerbauten Schüzen- Hauses des Vereins mit Eifer betrieben. Besondere Einladung zu dem Fest, mit welchem ein Preisschießen verbunden wird, sind ergangen an sämtliche größeren Schüzengilden des Landes, und es ist bereits eine große Änzahl von Zusagen eingelaufen, so daß die Beteiligung eine ganz bedeutende zu werden verspricht. Insbesondere wird auch die Schützengilde in Stuttgart sehr stark vertreten sein. Schützenfreunde dürfte es interessieren zu erfahren, daß außer den bereits auf der Schießordnung verzeichneten Preisen mehrere sehr schöne Ehrengaben von bedeutendem Werte für das Preisschießen gestiftet worden sind. Das Schießhaus wurde im Laufe des letzten Sommers auf dem idyllisch an der sog. Barbarahalde gelegenen Schießplatz des festgebenden Vereins aufgebaut mit einem Kostenaufwand von etwa 14—15,000 die sämt
lich durch Aktien bei den 70—80 Mitgliedern der Schützengesellschaft aufgebracht worden sind. Ringsum von üppigen Tannenwäldern umgeben, bietet das in zwei Stockwerken aufgeführte Gebäude bereits ein beliebtes und stark besuchtes Ausflugziel der hiesigen Einwohnerschaft. Das Gebäude enthält außer der Schießhalle mit den 9 Schießständen einen Wirtschafssaal, sowie die Wohnung des Wirtes. Ein hübscher an das Schießhaus angebauter Aussichtsturm gewährt eine schöne Fernsicht in das am Fuße der Barbarahalde sich hinziehende Neckarthal und auf die am gegenüberliegenden Ufer sich erhebende Stadt. Die Entfernung bis zu letzterer beträgt etwa 1 Kilom. Das Hauptverdienst an der Erstellung des Schützenhauses hat Kommerzienrat Paul Mauser, der in gewohnter Weise weder finanzielle Opfer noch Zeit und Mühe gescheut hat, um eine der Bedeutung der hiesigen Stadt als Waffenfabrikationsort entsprechende Stätte zur Ausübung der edlen Schießkunst zu schaffen zu helfen.
Rottweil, 19. Juni. Seine Majestät der Kaiser hat dem Geh. Kommerzienrat Dutten- hofer hier den Roten Adlerorven dritter Klasse verliehen.
Ulm, 20. Juni. Wollmarkt. Nach Verständigung der Käufer und Verkäufer über den Abschlag der Wolle wird das Geschäft heute voraussichtlich mit ca. 10—15°/» Abschlag sehr lebhaft werden.
München, 19. Juni. Ein großer Bernhardiner Huud ertränkte gestern in der Isar einen 19jährigen Tapezierergehilfen, der den Hund hatte herausziehen wollen. Der Hund suchte auf dessen Körper festen Fuß zu fassen, drückte ihn aber zu tief ins Wasser, daß er ertrank, während der Hund über seinen Leib ans Ufer stieg.
Baden-Baden, 19. Juni. Es dürfte für unsere schwäbischen Nachbarn nicht ohne Interesse sein, zu erfahren, daß das ihnen wohlbekannte Gasthaus zum „Kreuz" heute um die Summe von 400,000 ^ an Mechaniker Thiergärtner dahier verkauft worden ist. In nicht ferner Zeit wird also der „lange Tisch," ja das ganze bescheidene Gebäude verschwunden sein. Aber neu und schöner „wie der Phönix aus der Asche" wird es sich wieder erheben, da Thiergärtner auf der Stelle des alten Hauses einen großartigen Prachtbau zu erstellen und in demselben wieder eine Weinwirtschaft zu errichten gedenkt. Schiv. M.
Erstes Gau-Siingersest des Enz-Uagold- Gau-Siingerbundes und Fahnenweihe des Siederkranzes in Siebenzell
am 22. Juni 1890.
Ein schöner Sommermorgen war angebrochen, als die in reichem, festlichem Schmuck prangende Stadt Liebenzell sich anschickte, die aus den benachbarten Städten und Orten zusammenströmenden Sänger und Sangesfreunde von Württemberg und Baden gastlich zu empfangen. In allen Straßen der Stadt waren die Häuser bekränzt und geschmückt mit Tannen. An den Eingängen der Stadt waren Ehrenpforten
errichtet, mit den Sinnbildern des Gesangs und mit Inschriften versehen. Der Festplatz befand sich iu einem schönen, schattigen Obstgarten und war zu der Aufnahme der großen Zahl von Festgenossen vortrefflich geeignet; 2 Wirtschaften sorgten für die leibliche Erquickung der Gäste. Das Fest wurde in der Frühe durch Tagwache und durch Böllersalven von der Burg herab eröffnet. Von 7 Uhr an begann: der Empfang der fremden Festgäste. Um 11 Uhr fand die Hauptprobe des Gesamtchors im Rathaussaal unter Leitung von Schullehrer Schramm in Neuenbürg statt. Das Festessen des Liebenzeller Liederkranzes war im Hirsch, wobei die üblichen Ansprachen gehalten wurden. Nachdem sämtliche angemeldeten Vereine angekommen waren, sammelte man sich nachmittags zum Festzug. Derselbe bewegte sich durch alle Straßen zum Festplatz. Hier angekommen sang der Liebenzeller Liederkranz als Begrüßungslied den schönen Chor „Erhabene Macht der Töne", worauf Stadtschultheiß Schneider mit kernigen, markigen Worten und mit weithin vernehmbarer Stimme die nachstehende Festrede hielt, welche von allen Seiten mit mächtigem Beifall ausgenommen wurde.
Geehrte Festversammlung, teure Sänger von Württemberg und Baden! Um ein Doppelfest zu, feiern sind Sie heute an diesem herrlich schönen Sonntagsmorgcn von nah und fern in unser liebliches Thal und festlich geschmückte Stadt gezogen, freudig zu begehen das Fest der Gründung eines Gausängerbundes und zu weihen die neue Fahne des hiesigen Liederkranzes.
Sänger und Festgäste, Damen und Herrn,, ich heiße Sie im Namen der Stadt wie auch des Liederkranzes recht herzlich willkommen. —
Ehe ich zwar dem an mich ergangenen Rufe., an dieser Stelle einige Worte zu sprechen, Folge leistete, mußte ich mir die Frage der Berechtigung der heutigen Doppelfeier vorlegen. Ich gestehe es offen, ich bin kein Freund davon und halte es nicht im Interesse unserer Zeit und unseres Volkes, wenn aus jedem Anläße sofort Gelegenheit zum Festieren und Jubilieren genommen wird. Die Antwort jedoch, die ich mir nach eingehender Prüfung auf die vorgelegte Frage geben mußte, war eine unbedingt bejahende, denn als vor wenigen Monaten die Kunde vom Enzthal herüberdrang, daß das erste Gaupreissängerfest in unserer Stadt abgehalten werden soll, da ertönte ein allgemeiner Jubel und der hiesige Liederkranz war eifrig bemüht, damit seine Fahnenweihe zu verbinden und sich darauf zu rüsten.
Heute ist nun der langbesprochene Tag an uns herangerückt und überall sieht man freudige > Gesichter, weshalb ich glaube sagen zu müssen, daß der Vorstand der Stadt Liebenzell an dieser Doppelfeier so gut als nur möglich teilzunehmen hat, denn, wir Liebenzeller anerkennen in dem Liederkranz eine Institution, welche zu eurem unentbehrlichen Ferment unseres gesellschaftlichen Lebens geworden ist.
Sei es eine kirchliche, sei es eine weltliche Feier, handelt es sich um große patriotische Ziele oder mn beachtens- und denkwürdige Ereignisse im engern Rahmen der Stadt, kommen freudige oder
Jeuilleton.
Das Tötenschiff.
Bericht über eine Kreuz- und Querfahrt auf jenem „Der fliegende Holländer" genannten Seegespenst; gesammelt aus den Papieren des seligen Obermatrosen Geoffroy Fenton aus Poplar
von W. ßkark Wusse kt,
(Fortsetzung.)
In einem Nu krabbelten auf den verschiedenen vor Anker liegenden Schiffen hastige Hände empor, um die Segel einzuziehen, die träge und lose in der Sonne gehangen; die Flaggen, die noch kurz vorher als farbige Streifen bewegungslos in der Luft hingen, rissen jetzt mit Gewalt an ihren Ziehtauen, und malayische Fischerboote, an deren Kielen die durchschnittene Flut edelsteinfunkelnd emporschäumte, durchsegelten die Bai und schwankten im starken Wind auf und ab.
Mit nur schmalen Segeln stürmten wir gegen den Ozean hinaus; der Sturm stöhnte und ächzte verzweifelt in der Takelage über uns, aber die See ging weniger hoch, denn die Brise war landeinwärts; und nachdem wir einige stattliche und bezaubernd schöne Buchten passiert, an deren Ufer die Brandung Wellen von der Größe unseres Schiffes mit tausendstimmigem Donner emportürmte, während im Hintergründe ganze Reihen von Bergen niederschauten und hier und da zwischen dem lichten Blättergebüsch der Bäume und dem Reichtum der tropischen Pflanzenwelt einzelne kleine weiße Häuser hervorlugten, hatten wir plötzlich die Grmze des Sturmes überschritten und eine leichte, aus Nordwest wehende Brise nahm uns auf.
Ich will damit nicht sagen, daß uns dieser plötzliche Wechsel unerwartet gekommen , denn schon vorher, ehe wir die ruhigere Zone noch erreicht, konnte man deutlich die Linie erkennen, welche die brausende, aufgeregte See und den rasenden Orkan begrenzte. Und doch fühlten wir uns überrascht, als das Schiff so plötzlich auS diesem wütend heulenden Bett in eine friedlich« See und eine schwache Brise schlüpfte, die uns zu prassen und mehr Segel beizusetzen zwang.
Hier ereignete sich etwas Außerordentliches. Als wir an Green Point vorbeikamen, wo das Wetter ruhig und der in der Bai tobende Wogenkampf schon außev Sicht war, begegnete uns ein großes Schiff von 600 Tonnen, das nach unserer Vermutung in Kapstadt anlegen wollte und, scharf beim Wind gebraßt, alle einfachen Segel gehißt hatte. Es hatte einige Soldaten an Bord, zeigte mehrere Geschütze, hatte die englischen Farben an seiner Gaffel flattern und bot Alles in Allem einen sehr stattlichen und schmucken Anblick. Seine mit Kupfer beschlagene Außenseite gab dem sanften, glashellen Wellengekräusel einen rötlich schimmernden Widerschein und seine Segel zeigten Farbe und Schnitt jener Baumwollcnstoffe, wie sie die Spanier des Südamerikanischen Festlandes zu führen pflegten, während es in unfern Tagen ein Unterscheidungsmerkmal der Yankeeschiffe ist. Ohne eine Ahnung, von dem sie jenseits des Monille Pont erwartenden Aufruhrs segelte es sorglos dahin, da — am Eingang der Bai — traf es plötzlich unerwartet die ganze Gewalt des wütenden Südostwindes.
Hilflos kippte das arme Fahrzeug zur Seite, Alles auf Deck wurde durcheinander geworfen, bis es festsaß und der Macht des Sturmes preisgegeben war.. Da die Lucken offen standen, fürchtete ich, daß es, wenn nicht schnell wieder aufgerichtet, kentern und sinken würde. Sie konnten vielleicht die Ziehtaue gehen lassen, doch das eingeklemmte Segelwerk wollte nicht arbeiten. Das Herz stand Einem still,, ein unthätiger Augenzeuge dieser Scene zu sein! Wir drehten schnell bei, um vorkommenden Falls mit unfern Booten Hilfe leisten zu können, doch glücklicherweise brach die Bramstange des Besanmastes und zugleich sprang die Hauptbramstange dicht unter den Kreuzarmen, so daß es ihnen schließlich gelang — was auf ihrem schlüpfrigen und in Unordnung geratenen Deck eine Riesenanstrengung gekostet haben muß — die Haupt- und Topsegelraaen Vierkant in's Kreuz zu brassen. Kaum war dies geschehen, so kam das Fahrzeug vom Winde ab und hob das sturmgebeugte Haupt wieder empor, und die Vermutung wird nicht fehlgehen, daß sie nun mi etwas erleichtertem Herzen an's Einreffen der Regel, Niederholen der Raaen und Beseitigung der das Deck verbarrikadirenden Trümmer gingen, während man zugleich, an dm von beiden Seiten herabströmenden Wassermassen sehen konnte, wie not-- wendig es war, die Pumpen in Bewegung zu setzen.