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schweren. DenBesitz" vollends zu bevorzugen, würde eine allgemeine Erbitterung Hervorrufen. Be­kanntlich ist der Reichtum nicht immer auch mit Geistes­und Herzensbildung verknüpft und jeder Versuch, die Macht des Kapitalismus durch ein vermehrtes Stimm­recht der Besitzenden gleichzeitig zu steigern und zu verewigen müßte, unausbleiblich "eine soziale Revolution im Gefolge haben. Zu allem hin würde eine solche ungleiche Verteilung des Stimmrechts das Grundübel der Majoritätsherrschaft und -Willkür in keiner Weise mildern, geschweige beseitigen.

Hier giebt es unseres Erachtens nur einen Weg. Man belasse jedem mindesten 25 Jahre alten Deutschen iein Wahlrecht, aber man muß dann nicht den Mut haben, die Wähler in ständische Gliederungen einzuteilen und jede Berufsklasse für sich ihre Abge­ordneten wählen zu lasten. Wenn die Sozialdemo­kratie sich einerseits mit Recht beklagt, das der Kapi­talismus bisher eine zu große Macht gehabt und diese mißbraucht habe, so ist sie anderseits bemüht, ihrer­seits die Mehrheit zu gewinnen, damit dann die Be­sitzlosen den Besitzenden ihren Willen als Gesetz auf- taden können. Das eine Extrem ist ebenso ungerecht als das andere.

In der Mehrheit kann und darf die Quelle des Rechts nicht liegen. Unparteiisch betrachtet, hat der Fabrikant nicht mehrRecht" als seine Arbeiter, die Großindustriellen nicht mehr als die Kleinhand­werker, die Kaufleute nicht mehr als die Beamten, die Städter nicht mehr als die Landbewohner, die Großgrundbesitzer nicht mehr als die Kleinbauern. Will man also ein Wahlgesetz schaffen, das den Prin­zipien der wahren Gerechtigkeit entspricht, so muß man die Wähler in Berufsklaffen einteilen und jeder Berufsklasse eine gleich große Anzahl von Parla­mentssitzen einräumen. Großindustrielle und Hand­werker, Großkaufleute und Detaillisten (Krämer), Zivilbeamte und Geistliche (beider Konfessionen), Rent­ner (mit Pensionären und nicht in öffentlichen Diensten stehenden Gelehrten), Großgrundbesitzer und Bauern, Industriearbeiter (mit Handwerksgehilfen) und die übrigen Arbeiter könnten ohne allzugroße Schwierig­keiten in 11 gleichberechtige Interessengruppen einge­teilt und jeder Gruppe eme gleichgroße Anzahl von Mandaten (je ca. 4050) eingeräumt werden. Bei einem solchen Wahlrecht (Klassenwahl) könnte vor allem auch die Diätenlosigkeit der Abgeordneten ab- geschafst werden, die Kirchturmsinteresten, die Sucht einzelne Bevölkerungsklaffen gegen einander aufzu­hetzen, Untergebene und Lieferanten zu beeinfllusten, die Wählermasten mit dreisten Anschuldigungen der Re­gierung und der Gegenparteien aufzureizen, mit Frei­bier und ähnlichen Lockmitteln aus den Stimmenfang auszugehen, das alles siele mit einem Schlage fort und gleichzeitig auch jene ungemütlichen Erscheinungen des Berufsparlamentariers, des Fraktionszwanges u. dgl. Die Jnteressenkämpfe würden natürlich nicht aufhören, aber sie würden von den rauchgefüllten Bierstuben und von lärmenden Wählerversammlungen weg, in den Reichstag selbst verlegt werden, wo man den Gegner nicht niederschreien kann, sondern ihn anhören muß, wo man genötigt ist, seine Behaupt­ungen auch zu beweisen. Jede Berufsklaffe wäre in der Lage, Vertreter ihrer Interessen zu wählen, keine könnte die andere terrorisieren, unser politisches Leben würde ein weit regeres und dabei gesitteteres

werden, die tüchtigsten Vertreter jedes Standes hätten Aussicht, ins Parlament gewühlt zu werden. Die Stichwahlen würden aufhören. 8. 0.-L.

Tages-Neuitzkeiten.

* Stammheim. Verflossenen Pfingstmontag wurde in hiesiger Kirche das 63. Jahresfest der Kinderrettungsanstalt abgehalten, wobei ver­schiedene Redner durch ihre Vorträge die Zuhörer erfreuten und in gespannter Aufmerksamkeit erhielten. Der sehr anziehende erste Vortrag über den 38jähr. Kranken war gewürzt durch einige Erzählungen aus China, welche auch ihre Wirkung nicht verfehlten. Die Verlesung des Rechenschaftsberichts ließ uns Ein­blicke thun in das innere und äußere Leben der An­stalt und konnte dabei jeder aufmerksam Lauschende den Eindruck gewinnen, daß dieselbe unter guter Leit­ung steht. Der Gesang der Kinder war recht erfrischend, ebenso die Katechese mit denselben über das Wort Vertrauen. Der letzte Redner sprach von zwei Feinden der Anstalt, welche in derselben einhergehen und fortwährend bekämpft werden müssen: Der Un­zufriedenheit und Sorglosigkeit. In äu­ßerst lebendiger Sprache, welche der schon etwas er­müdeten Zuhörerwelt wieder neues erfrischendes Leben einhauchte, erging sich oer Sprecher noch über das Anstaltsleben von einst und jetzt. Die Beteiligung war keine besonders bedeutende; die schlechte Witter­ung und verschiedene andere Umstände mögen bei vielen Besuchern von früher die wahren Abhaltungs­gründe gewesen sein. Junges Nachbarvolk war gut vertreten, welches aber auch manche Störung des Festes hervorrief. Möge die Anstalt, die schon man­cher irrenden Seele den Weg zum Leben gezeigt hat, in nie ermüdender Weise fortfahren, das zu suchen und zu retten, was verloren ist.

Cannstatt, 30. Mai. Zu der am 4. Juni auf dem hiesigen Exerzierplatz stattfindenden Königs­parade werden die Stuttgarter Truppen ihren Weg durch die k. Anlagen, durch Berg über die Kiesbrücke und die Ludwigsburger Truppen über die Prag, Wilhelmsbrücke durch die Bad-, Seelberg-, Karlsstraße und zum Teil durch die Neckarallee zum Exerzierplätze nehmen. Die Zuschauer müssen sich auf der Neckar­seite, an der Stelle, wo voriges Jahr die Tribüne stand, aufstellen und die Wagen haben durch die Neckarallee und die Fußgänger vom Gittersteeg aus unmittelbar am Neckar hinauf ihren Weg zu nehmen. Für die Wagen sind Einfahrtskarten beim k. Gouver­nement Stuttgart zu lösen, sie haben um '/-IO Uhr ihre Aufstellung zu nehmen. Von '/»IO Uhr an wird der Wagenverkehr eingestellt.

Oberndorf, 28. Mai. Gestern vormittag wurde in dem benachbarten Aichhalden der in Schram­berg beschäftigte 16jährige Fabrikarbeiter Andr. Flaig von da an dem Bach unter der Steinbettbrücke mit dem Gesicht in dem etwa 15 Centimeter tiefen Wasser liegend tot aufgefunden. Derselbe, seit mehreren Jahren an einem nervösen Kopfweh leidend, suchte sich, wie es scheint, in dem Master Kühlung zur Linverung seiner Schmerzen zu verschaffen und soll nach ärzt­lichem Gutachten einen Schlaganfall erlitten haben, der den Tod durch Ersticken im Master herbeiführte.

Aus der Baar, 27. Mai. In Thuningen

der Mutter mußte es doch verständlich gewesen sein; denn sie richtete sich plötzlich empor, um mit wutfunkelnden Augen und gellenden Lauten zu rufen:

Der Jeetzemüller ist sein Mörder! Hört Jhr'S er selber hat es bestätigt!'

Und wie rin Lauffeuer ging da» Wort von Einem zum Andern. Auch außer­halb des Hauser pflanzte es sich blitzschnell durch das ganze Dorf fort, und ehe noch drinnen der Bader dem ohne ein weiteres Lebenszeichen Verscheidenden die Augen zugedrückt hatte, hallte es laut und leise in allen Gesprächen der erregten Landleute wider:

Der Jeetzemüller hat dem Thalmüller aufgelauert und hat ihn meuchlings erschlagen!"

Ueber den Körper des Toten wurde rin Leinentuch gebreitet, und die alp Müllerin blieb allein bei ihm zurück. Mit den Anderen verließ auch der Bühlhofdauer das Haus. Es schien Denen, die ihm achtungsvoll grüßend den Vortritt überließen, als hätten sie ihn seü Langem nicht in so stolzer, selbstbewußter Haltung daher­schreiten sehen wie gerade heute. Und sie mochten damit wohl Recht haben; denn der Bauer empfand in der That ein Gefühl der Genugthuung und der Selbstzufrie­denheit, das ihn überreichlich entschädigte für dm Aerger, welchen ihm vor wenigen Tagen die trotzige Kühnheit Philipp Straßburger'S bereitet.

Aber er wollte seinm Triumph nicht allein genießen, und aus seinem eigenen Mund« sollte Käthe erfahren, einem wie verworfenen Menschen sie ihre kindische Nei­gung zugewendet hatte. In seiner Unkenntniß des weiblichen Herzens gab er sich damit zugleich der Hoffnung hin, den stillen, hoffnungslosen Kummer aus ihren Mrenen zu verscheuchen, der chm währrnd der letzten beiden Tage doch oft recht lästig geworden war. Daheim aber wartete seiner »ine neue und keineswegs ange­nehme Ueberraschung. Die alte Lene, »ine entfernte Verwandte, welche eine Art von Wirtschaftrrinnenposten in seinem Hause innehatte, kam ihm weinend und hän­deringend mit einer argm Neuigkeit entgegen. Weil Küche gar nicht aus ihrer Kammer zum Vorschein gekommen sei, Hab« sie sich endlich zu ihr hineinbegeben

hat sich die Ehefrau des vormaligen dortigen Post­agenten Gl. mit einein Brotmesser zivei schwere Schnittwunden in den Hals beigebracht und ist an eingetretener Verblutung gestorben. Dem Ver­nehmen nach nahm die Frau zur Linderung körper­licher Schmerzen häufig Morphium und dürfte sie

m einem Zustande geistiger Zerrüttung Hand an sich gelegt haben.

11 lm, 29. Mai. Der Blitzableiter auf den Münsterturm wird gegenwärtig angebracht. Auf den Knauf kommt die Auffangstange mit 4 Gravitspitzen. Die Verbindung mit dem Boden wird durch 4 zwei Centimeter breite kupferne Streifen hergestellt ' dieselben sind an der Nord- und Südseite des Turmes je zu zwei angebracht. In der Sitzung der General­kommission vom 28. Mai wurde die Zahl der Denk­münzen dahm bestimmt, daß 15 goldene, 500 silberne und 500 bronzene bestellt werden sollen. Sodann wurden die Preise für das Festspiel festgesetzt und zwar für die erste Vorstellung für Sitzplätze auf 10 Mk., für Stehplätze auf 3 Alk.; für die zweite Vor­stellung für Plätze der Königsloge auf 10 Mk., für Vorderplätze auf 6 Mk. und für weitere Plätze auf 3 und 2 Mk. Für die hiesige Einwohnerschaft soll die Vorstellung zu billigeren Preisen wiederholt werden.

Waldsee, 29. Mai. Gestern wurden die vom landwirtschaftlichen Verein im Kanton Grau­bünden aufgekauften 14 Stück Zuchtfarren persteigert.. Das Verkaufsresultat war wieder ein sehr günstiges, indem 1531 ^ 23°/° Mehrerlös an den Kauf­

summen abbeschrieben werden konnte. Höchster Preis- für einen einjährigen Farren 625

Backnang, 29. Mai. Ein Bauer in Zell, Gem. Reichenberg, versetzte seinem Knecht, der einige Tage dem Trünke nachging, am Pfingstfest mit einem Beil einige so wuchtige Hiebe auf den Kopf, daß der­selbe zusammenbrach und ins Krankenhaus gebracht werden mußte, wo er an den erhaltenen Verletzungen schwer darniederliegt. Der Bauer wurde am gleichen Tage noch verhaftet und in Untersuchung gezogen.

Steinheim a. M., 29. Mai. Beim Graben eines Kellers stieß Kaufmann Palmer auf die Ueber- reste eines alten Bauwerkes. Die Hoffnung, auf Spuren römischer Altertümer zu stoßen, ließ die Aus­grabung mit Sorgfalt betreiben. Aus den Aus­grabungen und der Anlage schlossen Mitglieder oes Backnanger Altertumsvereins, daß man es hier mit einem römischen Hypokaustum, einer Luftheizungsanlage, zu thun habe. Eine Anzahl Platten, Pfeiler und Leitungsröhren wurden vom Fundorte in die Samm­lung zu Backnang übergeben; Bruchstücke von drei römischen Gefässen u. a. Gegenstände wurden eben­falls gefunden und der genannten Sammlung ein­verleibt.

Niederhall, 27. Mai. Ein trauriges Ende hat der von hier gebürtige und in Morsbach wohn­hafte Christian Kreß genommen. Derselbe hatte am letzten Donnerstag hier stark gezecht und es ist anzu­nehmen, daß er nachts in der Trunkenheit den Weg verfehlt hat und auf diese Weise in den unterhalb der Brücke sehr tiefen Kocher geraten ist. Am Abend- des Pfingstfestes wurde seine Leiche von Knaben auf­gefunden und aus dem Wasser gezogen.

Oehringen, 28. Mai. Die Selbstmorde

und habe sie in all' ihren Kleidern bewußtlos und in heftigem Fieber neben dem Bett auf dem Boden gefunden. In dem nämlichen trostlosen Zustande sei sie auch noch jetzt, obgleich man sofort Alles aufgeboten habe, was in solchen Fällen für nützlich und heilsam gelte.

Der Bühlhofbauer sagte kein Wort, und seine Miene war viel eher finster denn teilnehmend, als er neben dem Lager seiner augenscheinlich schwer kranken Tochter stand. Sie erkannte ihn nicht und sie antwortete ihm nicht auf seine Er­kundigungen noch ihrem Befinden. Der Arzt auS der Kreisstadt aber, der zusammen mit dem Staatsanwalt und mit einem höheren Polizeibeamten angekommen war und der in Bezug auf den Thalmüller nur noch den eingetretenen Tod halte kon­statieren können, machte an Käthen's Krankenbette ein sehr bedenkliches Gesicht- Es sei ein schweres Nervrnfteber, meint« er, und bei der zarten Konstitution des jungen Mädchens, wie bei der Heftigkeit, mit welcher die Krankheit zum Ausbruch gekommen sei, wüste man auf das Schlimmste gefaßt sein.

Und an demselben Tage hatte der Bühlhofbauer mit seiner Tochter die Reise zu ihren Verwandten antreten wollen! Ob sich bei Käthen's Anblick, die schon fast wie eine Sterbende au»sah etwa» wie Reue in seinem Herzen regte, wer hätte es- dem unbeweglichen Gesicht de» harten Mannes ansehen können! In seinen Worten und Handlungen offenbarte sich jedenfalls nichts davon, denn nachdem er mit voller Umsicht die nötigen Anordnungen für die Pflege und Wartung der Kranken ge­troffen hatte, ging er wir sonst seinen Verrichtungen nach, und Knechte wie Tag­löhner hatten keine Veranlassung, über rin« Verminderung seiner Aufmerksamkeit und Streng« in Staunen zu geraten.

An dem nämlichen Tage wurde auch der Jeetzemüller Philipp Straßburger trotz seines entschiedenen und entrüsteten Protestes unter dem Verdacht des Mordes- verhaftet. Die stundenlangen Verhöre, welche die Beamten der Untersuchungskom- mistion mit verschiedenen Ortseinwohnern angrstrllt hatten, mußten wohl viel Be­lastende» gegen ihn ergeben haben. (Fortsetzung folgt.)