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stetig. Will man nun von diesem Reichstag noch schnell erhalten, was irgend möglich ist? Als Grund dieser Vermehrungen führt man immer das französische Wehrgesetz an, warum folgt man denn andern Staaten nicht auch in Organisationen, wie wir sie schon längst gefordert haben, wie z. B. in der Verkürzung der Dienstzeit, wie sie das neue französische Wehrgesetz enthält? Sie nehmen sich aber immer nur da die andern Staaten zum Vorbild, wo es Ihnen paßt. Redner spricht noch über die Getreidezölle und versucht noch über das Sozialistengesetz zu sprechen, wird jedoch vom Präsidenten mehrfach zur Sache gewiesen.
Mittwoch. Forts, der Etat sb er a tu n g. Wed ell-Malchow bekämpft die Ausführungen Richerts. Der Etat fordere für Heer und Marine nur das dringlichste gegenüber dem, was in den Nachbarländern geschieht. Die Getreibezölle verteuern nicht das Brot und die Aufhebung würde nur die Landwirtschaft ruinieren. Er empfehle wohlwollende Prüfung des Etats. Bebel (Soz.-D.): Rußland sei unser natürlicher Feind, mit Frankreich müssin sich unsere Staatsmänner verständigen. Die Abrüstung sei die dringendste Forderung der modernen Kultur. Der Kriegsminister: die deutschen Fürsten erklärten sich eins im Wunsche des Friedens. Die Rüst- ungen Frankreichs könne man aber nicht ignorieren. Bennigsen (nat.-l.) 18 Jahre des Friedens seien, dank den Bestrebungen der deutschen Regierungen, nur der Erfolg der maßvollsten Politik. Die Rüstung sei sehr schwer, aber aufgenötigt durch unsere Lage in Europa. Die Kräfte seien bei uns noch nicht so erschöpft, wie vielleicht bei anderen Ländern. Wir müßten, wenn es dahin kommen sollte, alles daran setzen, den un» aufgenötigten Krieg siegreich durchzuführen. Er rügt das Fehlen eines wirklichen verantwortlichen Finanzministers, der höher, so hoch stehen muß, wie kaum ein anderer Minister. Er müßte größere Vollmachten besitzen, als der jetzige Schatzsekretär. Die dauernde Teilung der Einnahmen zwischen Reich und Staaten erfordere eine einheitliche höhere Behörde. Redner bekämpft sodann die Ausführungen RickertS. Die Einführung der Reickseinkommenssteuer sei nicht im Handumdrehen gemacht, sie setze die Abschaffung oder doch voll- ständige Aenderung der gesamten Steuergesetzgebung der Einzelstaaten voraus. Win dt hör st. Das Bild, das Bennigsen eben gemalt, sei auch nicht der Wahrheit entsprechend, da habe es Rickert besser getroffen. Große Schichten der Bevölkerung seien mit den jetzigen Zuständen höchst unzufrieden. Wie das so gekommen, wie die Rüstung zu schwer geworden, wolle er nicht erörtern, sie sei nun einmal da und müsse getragen werden. Ob aber die neuen Forderungen bewilligt werden, das sei noch in Frage gestellt, v. Kardorff: Auch unter den Konservativen seien Stimmen laut geworden, daß die jetzigen Mehrsorderungen sehr unerwartet seien. Man habe erwartet, daß mit den letzten Bewilligungen ein gewisser Abschluß erreicht sei. Deutschland sei nicht zu arm um eine große Marine zu haben, er wünsche auch, daß Deutschland ausgedehnte Kolonien besitze, zu deren Bewirtschaftung es vollständig imstande sei. Denn wenn andere Länder andere Quellen des Wohlstandes haben, so haben wir doch eine, um welche andere Länder uns beneiden: unsere schnelle Bevölkerungszunahme. Redner wendet sich noch gegen Rickert, der gesagt habe: Schließlich siegt immer der Reichs- kanzler; das sei R-ckerts Kummer; aber es ist nicht unser Kummer, der Reichskanzler wird auch weiter siegen und ich wünsche nur, daß er Kapazitäten wie Herrn Rickert niemals an seiner Seite brauche. (Beifall rechts.)
Donnerstag. Forts, der Et a t s b e r a t u n g. Der Schatzsekretär v. Maltzahn bezeichnet die Frage, ob Schutzzoll, ob Freihandel, lediglich als eine Zwcckmähigkeitssrage. Augenblicklich sei die Rückkehr zum Freihandel unmöglich. Er werde stets gegen die Aushebung der Schutzzölle sein. Abg. Richter betont die Notwendigkeit der Einschränkung der Ausgaben im Frieden, erklärt sich gegen die Forderungen für die Marine, insbesondere für die Kaiser-Pacht und für Kolonialzwecke, ferner gegen die Lostrennung der Kolonialabterlung von dem Auswärtigen Amte. Gegenüber der dauernden Aufrechterhaltung der Kornzölle hält Richter den Augenblick für günstig, eine radikale Steuerreform vorzunehnnn. Redner greift schließlich heftig die Politik des Reichskanzlers an, welche er als die eigentliche
Nährmutter der Sozialdemokratie bezeichnet, v. Bötticher weist aus der Handelsbilanz die fortgesetzte Steigerung der Ausfuhr nach. Bei dem Schweineeinfuhrverbot war nach ihm die Erhaltung der Gesundheit des eigenen Viehstandes maßgebend. Der Minister weist schließlich auf die steigende Besserung der Lohnverhältnisse hin. welche die Behauptung, die arbeitende Klasse könne die Preise für die Lebensmittel nicht mehr erschwingen, als unwahr erscheinen lasse. Montag 1 Uhr: Sozialistengesetz.
^ ^ Gcrges-Weuigkeiterr.
* StLmmheim. (Verspätet). Letzten Sonntag waren im Gasthaus zum Bären dahier die Vertreter der Gäuorte Stammheim, Gechingen, Deckenpfronn mit noch vielen andern wohlgesinnten Männern versammelt, um die Wohlthat der langerstrebten und nun hergestellten Telefoneinrichtung würdig zu begehen. Die Wichtigkeit dieser Einrichtung wurde den Versammelten in einer kurzen Rede dargelegt von Hrn. Schullehrer Stark, welche wir im Wortlaut wiedergeben: Verehrte Anwesende! Gestatten Sie mir, daß ich ihre Aufmersamkeit auf einige Augenblicke in Anspruch nehme. Ich werde nicht erst nötig haben, den Grund unseres heutigen geselligen Zusammen- findens Ihnen darlegen zu müssen, er wird sich wohl von selbst aus der Thatsache ergeben, daß eine hohe Verkehrsdirektion den Gäuorten Stammheim, Gechingen und Deckenpfronn ein Verkehrserleichterungsmittel durch die Einrichtung eines Telefons gebracht hat. Es ging jedoch mit diesem, wie mit dem hinkenden Boten, der immer etwas zu spät eintrifft; aus mancherlei Gründen ist uns diese Wohlthat auch etwas spät zuteil geworden, aber item, wir haben sie jetzt und freuen uns ihrer. Sind wir doch dadurch cinbezogen worden in das allgemeine württembergische Verkehrsnetz und dadurch auch in das große allgemeine Verkehrsleben. Mit diesem haben wir auch betreten die Arena des geistigen Wettkampfes, eines heilsamen Gedankensaustausches, im Einzelnen wie im großen Ganzen, im engeren wie im weiteren Kreise. Unsere schnelllebige Zeit charakterisiert sich vornehmlich heutzutage als eine solche des unaufhaltsamen stätigen Fortschreitens auf allen Flanken, das schlimme wre gute Erscheinungen im Gefolge hat. Denn nicht alle Produkte des menschlichen Denkens wirken fürs Völkerwohl heilbringend und segenstiftend, viele erweisen sich auch als bloss Kinder der Zeit, die eben kommen und wieder verschwinden. Der Zeitgeist mit seinen vielfachen Verzweigungen fordert von einem jeden Glied der menschlichen Gesellschaft, daß er sämtliche geistige Errungenschaften genau prüft, anerkennt und annimmt, oder solche bei gefundenen vielen Schattenseiten einfach von sich weist. Dann vermag er auch in der That zu sein und zu werden ein tüchtiger rühriger Bürger, ein treuer Unterthan, sowie ein lebendiges Glied im Staatsorganismus. Prüfen wir einmal die Zeit in ihrer großen Rührigkeit und Thatkraft, in ihren großartigen Unternehmungen und Ausführungen, in ihren Riesenwerken, in ihren heilsamen und nützlichen Einrichtungen, so tritt uns entgegen eine ganze Welt voll herrlicher Abdrücke der menschlichen Kraft und Darstellungsformen. Wohin wir auch unsere Blicke richten mögen, aufwärts ins Reich der Lüfte, oder abwärts in den Schooß der Erde, nach rechts oder nach links, überall wird man lebendig angehaucht werden von der Großartigkeit der Werke und Abprägungen des menschlichen Geistes, von der Vielseitigkeit und künstlerischen Gestaltung toter Materien. Auf allen Gebieten des Wissens und Könnens, der Kunst und Wissenschaft, Gewerbe und Handel, politischen wie sozialen Lebens, ist ein emsiges Regen, ein rühriges Sichbe- wegen, wahrzunehmen, sintemal jeder Lebensberus sich sein Dasein, sein Fortkommen mit Anstrengung und Ausbietung aller Kräfte zu erkämpfen und zu erringen suchen muß. Bis in die kleinsten entlegensten Winkel unseres Landes haben sich die Fäden eines besonnenen Fortschritts fortgesponnen und kaum wird mehr ein Ort zu finden sein, von dem man nicht sagen könnte, hier rollen auch die Spulen eines großen Weltgetriebs Tag für Tag in rascher Kraft dahin. Die Werke des rastlosen Menschengeistes, mögen sie uns entgegentreten als schnaubende Dampfrosse oder als blitzschnelle elektrische
es eine Wohlthat gewesen sein, wenn er für den alten zitternden Geiger da unten «ingetreten wäre.
Ein kleiner, Heller Lichtschein, der von Zeit zu Zeit auf dem Gesicht des Rattenfängers erschien, dann aber an den Coutissen, der Mauer und den Palmen lustig-neckisch umhsrhüpfte, deutete den Mond an, den „wandelbaren." Mit Hilfe des Opernglases bemerkte ich in der Coulisse einen Mann, der diesen Mondschein vermittelst einer gefüllten, sogenannten Schusterkugel, hinter welcher er ein Licht hielt, heroorzauberte, und nun so lange damit manipulierte, bis der auf diese Weise erzeugte Schein auf den gewünschten Platz fixiert war, ähnlich einem Spiegel, den die Kinder in der Sonne reflektieren lassen.
Die Spannung im Auditorium hatte den höchsten Grad erreicht, als Herr Casimir in beschwörendem Ton die Ratten herbeisang und den Refrain dazu auf seiner Geige wiederholte. Atemlos erwartete man die annoncierten tausend Ratten, und als Einige gar zu Neugierige, um besser und früher sehen zu können, sich erhoben, wurden sie mit dem Nus „Sitzenbleiben" wieder niedergehalten.
Endlich erschien eine Reihe der ersehnten auf Pappe gemalten Thiere, die an einein dünnen Bindfaden im Vordergrund der Bühne von rechts nach links gezogen wurde. Dann kam eine zweite Abteilung die ebenso sinnreich von links nach rechts dirigiert wurde. Das Ganze, schwarz in schwarz, sah eher aus wie ein kleiner Eisenbahnzug.
War hierdurch die Kunst des Theatermeisters Pecher nur sehr bescheiden zur Anschauung gebracht, so sollte sie sitzt den Haupttrumpf ausspielen, indem sie die gesamten Raiten veranlaßte, aus allen Coulissen bis zur Mitte der Brücke zu kriechen und sich dort zu den Füßen des beschwörenden Meisters zu sammeln. Zu diesem Zweck liefen von den Coulissen aus eine Menge dünner Bindfäden, an welchen man die Ratten befestigt hatte, nach der Brücke; dort waren diese Fäden zusammenge- knüpst und die Schnur durch ein Loch gesteckt worden. Unter der Brücke lag ein dienstbarer Geist, der auf ein gegebenes Zeichen die Schnur langsam anziehen und
dadurch die sämtlichen Thiere in Bewegung setzen sollte. Man sieht, der Mechanismus war äußerst sinnvoll, aber es kam anders.
Auf das gegebene Zeichen erschienen allerdings von rechts und links die so lange Erwarteten, aber sie fanden mitten auf der Bühne ein Hindernis an dem ungehobelten Podium und den beiden Latten, welche das Geländer der Brücke stützten und zu weit in die Scene hineinragten, und je mehr die Fäden auf den vernehmbaren Ruf: „fester!" fester!" angezogen wurden, desto mehr verwickelten sich die hopsenden Thiere zu einem wirren Knäuel. Das Publikum lachte laut auf, und Casimir beehrte mit einem Wutblick nach der Coulisse den armen, in Angstschweiß gebadeten Pecher, mit leisen, wenig schmeichelhaften Titeln.
Da faßte dieser in seiner Verzweiflung einen heroischen Entschluß; er trat auf die Bühne, entwirrte höchst eigenhändig den Knäuel und legte ihn sanft vor der Brücke nieder; dasselbe geschah mit der anderen Seite, dann trat er wieder in die Coulisse, kommandierte auf's Neue, und die gesamten befreiten Ratten raschelten nun glücklich der Brücke zu.
Das Publikum schrie „bravo!" und — lachte. Aber der dirigierende Jüngling unter der Brücke hatte in seinem großen Eifer vergessen, wo er sich befand; er stieß mit seinem Kopfe an das Brückenbrett, dieses, nur mangelhaft befestigt, schlug um, und der Rattenfänger, der dadurch das Piedestal für seine eben eingenommene Attitüde verlor, siel, die Geige hoch emporhaltend, in die Weser, während der erschrockene Rattenlenker aus seinem engen Versteck, ohne Rücksicht auf eine höchst primitive I Toilette, hervorkroch, um ihm beizustehen.
Herr Pecher hielt es für anständig, hier den Vorhang schleunigst fallen zu lassen. ,
Selten hat wohl das Publikum von Fr.«so herzlich und so anhaltend ^
gelacht, als nach diesem Tableau.
(Fortsetzung folgt.)