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empfangen, um den Ausdruck tiefster Trauer entgegenzünehmen, in welche die brave und hochgeachtete, reichstreue und fromme Familie durch die Unthat eine» entarteten Gliedes versetzt worden ist. Der Prinz hat huldvoll geant­wortet und versichert, daß er weder dem Mörder noch sonst jemand etwas nachtrage und von den loyalen Empfindungen der bedauernswerten Familie überzeugt sei. Dies, sowie das Handschreiben, mit welchem der Prinz die Gabe von 1000 für die Ludwigsburger Armen begleitete, haben den vor­trefflichsten Eindruck gemacht und die Beliebtheit des Prinzen dem auch derBeobachter" bezeugt, er habe im ganzen Lande keinen Feind wo möglich noch gesteigert. Man zerbricht sich den Kopf, was wohl den Ver­brecher zu seiner Thal angetrieben haben könne. Da ist zunächst festzustrllsn, daß derselbe zwar mcht dem Verstände, aber dem Willen nach gestört ist; intellektuell im Besitz seiner selbst, ist er moralisch verkommen. Unter diesem Gesichtspunkte wohnt seiner ersten, jetzt allgemein als bloße Redensart betrach­teten Aeußerung,er habe Württemberg einen katholischen König geben wollen", eine gewisse Wahrheit inne. Nicht freilich in dem Sinne, als ob er selbst die katholische Dynastie mit Ungeduld herbeigesehnt hätte; er ist protestantisch geboren und jetzt religiös mindestens gleichgiltig. Aber er war von grimmi- gem Haß gegen seine Familie erfüllt, von welcher er sich preisgegeben, ja verfolgt wähnte, und wollte sich an ihr dadurch rächen, daß er einen dauern­den Schimpf auf ihren Namen lud; denn das mußte auf olle Fälle seiner Meinung nach durch seine That erreicht werden, zumal, wenn der Anschlag gelang, wenn der Prinz fiel und so aus einer durch und durch protestan­tischen Familie der Mörder des letzten protestantischen Prinzen Württembergs hervorging. Es liegt etwas Herostratisches in der That, eben damit ist aber schon auch über die geistige Verfassung des Thäters ein Urteil gefällt. Der bayerische Gesandte Graf Tauffkirchen überbrachte dem Prinzen Wilhelm die Glückwünsche des Prinz-Regenten Luitpold zur Errettung aus drohender Gefahr.

Ueber eine wiederholte Entgleisung auf der Station Vaihingen a. F. bei der Einfahrt des Zugs 222 wird der Ldztg. folgendes mitgeteilt: Entgleist sind die Triebräoer der Lokomotive, der Tender und e i n Güterwagen, wodurch die beiden durchlaufenden Geleise der Station gesperrt wurden. Das Einheben der entgleisten Fahrzeuge war gegen 4 Uhr nachmittags vollzogen, die Instandsetzung de» Geleises l etwa um 5 Uhr bewirkt, so daß die Züge ungehindert wieder passieren konnten. Nach dem vorläufigen Ergebnis der alsbald eingeleiteten Untersuchung scheint die Ursache des Unfalls darin zu liegen, das mittelst des seit kurzer Zeit im Betrieb befindlichen Weichenstellwerks die Ausfahrt für den auf der Station haltenden Zug 223» Richtung Böblingen vor vollzogener Einfahrt des kreuzenden Zugs 222 gebildet und gleichfalls versucht wurde, diesen Fehler durch Zurückstellen der umgekehrten Einfahrtsweiche in die ursprüng- liche richtige Lage in dem Moment gut zu machen, als die Lokomotive des Zug« 222 die Weichenspitze schon passiert hatte. Infolge dessen ist die Maschine dem geraden Geleise I gefolgt, während die nachfolgenden Fahr­zeuge in das Kceuzungsgeleise II eingelaufen sind. Da die Zugseinfahrt vorsichtig erfolgte, hatte die Entgleisung keine schlimmen Folgen. Verletzt wurde niemand; der Schaden am Betriebsmaterial und den Geleisen ist unerheblich. Das Weichenstellwerk und die Einfahrtsweiche sind unbeschädigt und in gebrauchsfähigem Zustand geblieben.

In der Nacht vom 26. auf 27. wurde beim Kursaal in Cann- statt ein sog. Bahnhöfchen zur Daimler'schen Straßenbahn mutwilligerweise umgeworfen, 1 Gaskandelaber umgerifsen und sonstiger Unfug verübt. Maler und Lackier W. B a n z h a f fiel in der Filiale der Maschinenfabrik Eßlingen in Cannstatt von einer im Rutschen begriffenen Leiter so unglücklich auf eine eiserne Welle, daß er das Rückgrat brach. In Sillenbuch wurde eine Wirtsfrau von zwei fremden Menschen, die sie im Nebenzimmer antras, mit dem Tode bedroht. Als ihr zur Hilfe herbeigeeilter Sohn eintraf, waren die Strolche mit 600 baar Geld, dem Erlös für einen Weinberg, ver­schwunden. Einen neuen Schlüssel, mit welchem die Diebe den Sekretär ge­

öffnet, ließen sie in der Eile stecken. Einen sonderbaren Handel ging in Kirchheim u. T. ein Pferdehändler ein. Derselbe verkaufte ein zu 400 bewertetes Pferd per Kubikmeter zu 200.. Ein herbeigeholter

Geometer berechnete dasselbe zu 0,65 Kbm., wonach der Kaufpreis des Pferdes 130 betragen hätte. Das Geschäft hat sich aber wieder gelöst, wobei derNeue" seine Schuldigkeit that. Nicht immer so versöhnlich wirken die Geister de»Neuen". In Sulz a. N. warf ein ungemütlicher Gast seinem Gegenüber sein Weinglas derart ins Gesicht, daß es zu Scherben zersplitterte und der Getroffene bedeutende Schnittwunden, wie auch eine danebensttzende Frau an der Hand eine Verletzung erhielt.

Oethlingen, 24. Okt. Von der hiesigen bürgerlichen und kirch­lichen Gemeindevertretung wurde heute an Se. K. H. den Prinzen Wil­helm eine Adresse abgesandt, in welcher ausgedrückt wurde, wie tief die ganze Gemeinde den Mordanschlag auf das teure Leben Se. K. H. bedaure und wie doppelt schwer es auf der Gemeinde laste, daß die grauenerregende That von einem hiesigen Einwohner verübt worden sei. Die ganze Gemeinde danke dem allmächtigen Gott für die wunderbare Errettung S. K. H. aus größter Lebensgefahr. Zugleich wurde auch den hochgeachteten Familien­angehörigen des Thäters die aufrichtigste Teilnahme an dem schweren Leide ausgedrückt. Beruhigend auf die Gemüter wirkt die Thatsache, daß der Thäter von der hiesigen Einwohnerschaft schon längere Zeit wegen seines auf­fallenden Benehmens für geisteskrank gehalten wurde. Besonders wurden dessen sonderbare Bewegungen und seine Gewohnheit, auf seinen einsamen Spaziergängen in Feld und Wald mit sich selbst zu sprechen, bemerkt.

Tuttlingen, 25. Okt. Heute morgen wurde ein von David Müller zum Schlachten angekaufter Ochse, als er zum Weißrosen-Brunnen zur Tränke geführt wurde, scheu, riß ab und stürmte im Hause des Schuh­macher Leibinger die Treppe bis in den zweiten Stock hinauf, die Bewohner in nicht geringen Schrecken versetzend. Es gehörte große Umsicht dazu, bis das Tier gefesselt und auf Brettern wieder herabgebracht war, ohne daß größeres Unheil verursacht wurde.

Hechtngen, 24. Okt. Folgendes Erkenntnis des preußischen Ober­verwaltungsgerichts über das Züchtigungsrecht der Lehrer ist auch für weitere Kreise von größerem Interesse. Es lautet: Der Lehrer ist zur Vornahme empfindlicher körperlicher Züchtigung berechtiat. Eine merkliche Verletzung ist eine solche, durch welche Gesundheit und Leben des Schülers gefährdet erscheint. Blutunterlaufungen, blaue Flecke, Striemen für sich allein ge­hören nicht hierzu; denn jede empfindliche Züchtigung, und zu einer solchen ist der Lehrer berechtigt, läßt derartige Erscheinungen zurück. Der Lehrer ist nicht straffällig, wenn er einen Schüler, der einer anderen Klasse angehört, züchtigt, auch kann die Züchtigung außerhalb des Schullokales stattfinden. Das Verhalten des Schülers außerhalb der Schule unterliegt ebenfalls der Sckulzucht, was so oft von den Eltern gerade bestritten wird. Dasselbe Züchtigungsrecht hat auch der Geistliche bei der Erteilung des Konfirmanden- Unterrichts. Die Schulzucht kann nur dann Gegenstand einer gerichtlichen Verfolgung werden, wenn eine wirkliche Verletzung des Schülers stattgesunden hat.

Halle, 29. Okt. Der Professor der Philosophie Gosche hat sich heute früh in einem Anfall von Geistesstörung mit einem Rasiermesser die Kehle durchschnitten.

Rendsburg, 23. Okt. Ein eigentümlicher Unfall ereignete sich am Sonntag abend im Stadttheater zu Rendsburg während der Aufführung des Freischütz". Als der Darsteller des Max in der Wolfschluchtscene den be- kannten Schuß abfeuerte, sprang der Lauf der Büchse und der unglückliche Schütze brach schwer verwundet zusammen, so daß die Vorstellung unter­brochen und der Künstler sofort in das städtische Krankenhaus überführt werden mußte. Dre betreffende Büchse war ein alter Vorderlader, und der Unfall soll dadurch entstanden sein, daß zu dem im Laufe befindlichen Schuß, welcher bei der vorhergegangenen Aufführung derselben Oper nicht losgegangen, noch eine zweite Ladung hinzugesügt worden war. Dem Schauspieler ist

wie zu Shakespeares Zeiten, auf einer Tafel lesen könnten,dies ist ein Saal" oder eine Straße."

Erstaunt betrachtete ich meine Nachbarin, die in ungcsuchter, liebenswürdigster Weise eine Bildung verriet und eine Logik entwickelte, die ich ihr zumal bei ihrer Jugend kaum zugetraut hätte. "

In diesem Augenblick wurde der Flügel mit großem Embarras geöffnet und ein langhaariger dünner Herr der Kapellmeister ließ sich davor nieder und ordnete die Noten, während ein altes Männchen mit der Brille auf der Nase, die Geige ergriffen hatte und stimmte, wozu der Meister ihm auf dem Flügel den Ton angab.

Sehen Sie", rief meine Nachbarin, die Hand leicht über die Ohren legend, sehr erregt,das ist meine Qual! Alles läßt sich ertragen, aber diese Musik und namentlich in der Zusammenstellung und Ausführung ist für mich entsetzlich! Gott sei uns gnädig!"

Wir lachten beide.

Ein Klingelzeichen, welches von dem Publikum der Hinteren Plätze mit einem Ah!" der Befreiung und Erwartung begrüßt wurde, gab dem Orchester das Zeichen zum Beginn.

Rosa hatte sehr recht, es war eine wahrhaft ohrenzerreißende Musik, die sich a«f verstimmten Instrumenten an Suppö's melodienreicher Ouvertüre zuDichter und Bauer" abmHte. Der Klavierspieler war sicherer und schlug deshalb ein festes, «bewegtes Tempo Mn, mit dem aber der alte, fortwährend tremolierende Geiger nicht Schritt halten konnte, und nun war es rührend zu hören, wie das Klavier das Thema iitLri1»ii<Io wiederholte, bis die müde Geige wieder mit ihm vereinigt war, um auf's Neue Arm in Arm oder besser Takt für Takt den wetteren Gang zu riskieren.

Wie Alles, so nahm auch diese Musik ein Ende und der Vorhang hob sich. Aber was ich nun erblickte, überstieg doch alles Erwartete!

Die Bühne zeigte einen ewas abgenützten Palmenwald mit einem türkischen Kiosk, an dem die verschossenen Persiennen halb geöffnet waren.

Liebes Fräulein," wendete ich mich laut lachend an meine schöne Nachbarin, aus diesem Bilde würde sich wohl beim besten Willen dis regste Phantasie nicht denMarktplatz der Stadt Hameln" aufbauen können."

Sie lachte ebenso herzlich, hielt dann aber rasch das Taschentuch an den Mund, als sie sah, daß wir bereits den Unwillen des aufmerksam lauschenden weniger kriti­schen Publikums erregten.

Wenn die Dekoration alle Illusionen zerstören mußte, so war dagegen das Kostüm, namentlich das der Damen, ganz annehmbar und schmuck. Sie hatten ein­fach ihre modernen Kleider an der Seite über einem farbigen Unterkleid aufgerafft, die Aermel mit Puffen besetzt und so den Anzug durch eine Spangenhaube und ein sogenanntesMargarethentäschchen" sehr sinnreich in ein altdeutsches umgewandelt. Die Herren vom Bügermeister bis zum Natsdiener herab, trugen sämtlich hohe, lackierte Stiefelröhren, die sie über die Straßenstiefelletten gezogen und wodurch die ganze Gemeinde von Hameln uniformiert erschien.

Das Stück war gut auswendig gelernt, doch hatte man sich wenig um die Lehren bekümmert, welche Hamlet den Schauspielern giebt, und mit der Grammatik schien man auf gespanntem Fuße zu stehen. Jeder Spieler, namentlich die Direk- tiontztöchter, welche beständig den Vordergrund der Bühne einnahmen, bestrebten sich zu zeigen, welche vortrefflichen Lungen ihnen Mutter und Natur verliehen. Außer­dem hatten die Letzteren die merkwürdige Angewohnheü, nach jedem Satz, den sie sprachen, ob ernst, ob heiter, grell in das Publikum zu lachen und dabei zu zeigen, daß ihr keineswegs kleiner Mund tadellos meubliert sei.

Lärm hinter der Scene verkündete die Ankunft des Rattenfängers von Hameln und eine Bewegung im Publikum verriet, daß jetzt derHauptspieler" die Scene betreten.

(Fortsetzung folgt.)