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ohnehin nervenschwache Frau gerade zwischen beiden Schienen zu Fall, als der Zug nur noch etwa 2 Wagenlängen entfernt war. Es gehörte viel Mut dazu, in diesem kritischen Augenblick Hilfe zu leisten, denn eben hatte Marquardt die vom Schreck völlig gelähmte Person dem Bereich der Räder entzogen, als er sich auch schon durch einen raschen Seitensprung der Berührung durch die Lokomotive entziehen mußte.
* Oberkollwangen. Schon seit etwa 14 Tagen grassieren unter unfern Kindern die roten Flecken. In der Schule fehlen beständig von 48 Kindern über die Hälfte. Gottlob, daß die Krankheit bisher noch keine Opfer forderte.
* Dachtel. Vorige Woche hielt Jagdpächter Oekonom Lutz von Deufringen eine Treibjagd ab, wobei der seltene Fall vorkam, daß eine Reh- gais von einem Treiber erschlagen wurde. Das gehezte Tier kam mit rasender Schnelligkeit auf Schuster Schäfer zu (so heißt der glückliche Schütze) und um nicht umgerannt oder unter Umständen rittlings über Hecken und Gräben befördert zu werden, griff er in dieser Unheil kündenden Situation zu dem allerdings sehr unwaidmännischen Hilfsmittel.
Aus dem Schönbuch, 7. Nov. In den letzten Tagen wurde im Revier Bebenhauscn ein verendeter Hirsch aufgefunden, der auf höchst bedauerliche Weise ums Leben gekommen ist. Derselbe hat von einem Birnbaum eine große Birne sich herabgeholt, die so unglücklich in den hocherhobenen Hals gefallen ist, daß sie — mit dem Stiel nach oben gerichtet — den Schlund des Tieres völlig verschloß. Da der Hirsch sehr abgemagert gefunden wurde, ist wohl anzunehmen, daß das arme Tier nicht durch Erstickung infolge von einem Druck auf die Luftröhre, sondern an Entkräftung infolge der Un- Möglichkeit sich zu ernähren, elendiglich zu Grunde gegangen ist. Auch durch sein abnormes Geweih ist dieser Hirsch eine Merkwürdigkeit. Auf jeder Rose hatten je zwei Stangen angesetzt, eine Abnormität, die fast eine Unikum sein dürste, jedenfalls aber eine der größten Seltenheiten ist.
Tübingen, 7. Nov. Von dem schauerlichen Schicksal, lebendig gerädert zu werden, waren gestern vormittag auf dem hiesigen Bahnhofe zwei Menschen bedroht. Ein hiesiger Kaufmann, der sich zu spät zur Abfahrt gerüstet "hatte, auch infolge dessen keine Fahrkarte mehr bekam, wollte noch in den bereits im Gang befindlichen Zug steigen. Es gelang ihm zwar, die eiserne Lausstange zu fassen, nicht aber sich zu halten. Der Portier am hiesigen Bahnhof sprang laut „Neckarbote" hinzu und faßte den Paffagier um den Leib, allein die Fahrgeschwindigkeit des Zuges war bereits so bedeutend, daß beide hinuntergewirbelt wurden und zu Fall kamen. Während der Kaufmann oben, einwärts des Perrons, zu liegen kam, fiel der Portier hart an die Rampe, so daß ihn die eisernen Treppen streiften. Glücklicherweise konnte der Mann noch rasch wegspringen und damit ein schweres Unglück verhütet werden. — Die bekannte Fueß'sche Buchdruckerei seit einem Jahre im Besitze von Kohlhammer in Stuttgart, ging heute käuflich an Buchdruckereibesitzer Otto Rücker und Privatier Wilhelm Armbruster über.
Ludwigsburg, 8. Nov. Die Amtsversammlung hat einstimmig den Beschluß gefaßt, für die Jubiläums-Stistung Seiner Majestät des König« eine Gabe von 8000 zu widmen.
Waiblingen 8. Nov. Die Amtsversammlung hat einstimmig beschlossen, der König-Karl-Jubiläums-Stiftung 5000 zuzuwenden.
Winnenden, 9. Nov. Nachdem schon im Monat September hier und in der Umgegend mehrere zum Teil wertvolle Pferde wegen Rotz getötet und verscharrt wurden, mußten in voriger Woche hier abermals zwei — verschiedenen Besitzern gehörige Tiere wegen der gleichen Krankheit beseitigt werden.
Brackenheim, 7. Nov. Die Amtsversammlung hat durch einstimmigen Beschluß vom heutigen Tage für die König-Karl-Jubiläums- Stiftung einen Beitrag von 5000 gewährt.
Heidenheim. 8. Nov. In Nattheim kam es gestern vor, daß der Hofhund des dortigen Ochsenwirts plötzlich in eine Art von Wut geriet und
zwei Knechten des Hauses nicht ungefährliche Bißwunden beibrachte. Das Mißliche dabei ist aber das, daß der Hund allem nach von der Wasserscheu befallen war und diese Krankheit nun durch die Bisse auf die Knechte übertragen hat. Der Herr de« Hauses fuhr sofort selbst zum Arzte hierher, damit dieser durch geeignete Mittel der Blutvergiftung vorbeuge. Der Hund wurde erschossen.
Ellwang en, 9. Nov. Am 31. v. M. stand der Reallehrer Spörr von Heidenheim vor der hiesigen Strafkammer. Schon vor 5 Jahren wurde ihm wegen Ueberschreitung des Züchtigungsrechts das Mißfallen der Oberschulbehörde ausgedrückt und vor 2 Jahren wurde er wegen gleicher Ueberschreitung zu einer Disziplinarstrafe von 15 verurteilt und ihm die Anwendung körperlicher Züchtigung untersagt. Nach der jetzigen Anzeige hat er im Sommer dieses Jahres 26 Schüler mißhandelt und zwar durch Reißen an den Haaren, durch Schlagen mit der Faust, durch Würgen, durch Stoben des Kopfes an die Thüre oder den Schulbank oder den Kopf eines anderen, durch Reißen an den Ohren u. s. w. Diese Thätlichkeiten werden von ihm nicht bestritten, er will solche aber nur zu dem Zweck angewendet haben, um die Schüler aufzurütteln und ihre Aufmerksamkeit wach zu rufen. Er sei nervös angegriffen und in einem sehr aufgeregten Zustand hiebei ge- wesen. Von der Aufsichtsbehörde ist er infolge dieses Verhaltens sofort suspendiert worden. Nach dem Gutachten des moä. 0r. Frey in Heidenheim hat Spörr in einem Zustand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit mit Ausschluß freier Willensbestimmung gehandelt. Von der Strafkammer erfolgte ein freisprechendes Erkenntnis, indem ein Zustand hochgradiger nervöser Reizbarkeit angenommen wurde. Zwar lasse sich nicht mit Sicherheit bestimmen, ob diese Erkrankung eine Störung des Geistesthätigkeit zur Folge gehabt habe, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen sei, aber es erscheine solches wenigstens zweifelhaft, als eine Verurteilung nicht gerechtfertigt.
Balingen, 7. Nov. Heute früh halb 6 Uhr brannte es in der Trikotwarenfabrik von Axamitt und Stotz in der Bahnhofstraße. Bis die Feuerwehr anlangte, stand das große dreistöckige Gebäude in Hellen Flammen und war an ein Retten nicht mehr zu denken, zumal bald auch das benachbarte Haus des Bäckers Link vom Feuer ergriffen ward. Elfteres wurde ganz, vom letzteren der Dachstock ein Raub der Flammen. Schaden beträchtlich. Ueber die Entstehungsursache verlautet nichts Sicheres.
Herren-Chiemsee, 4. Nov. Mit dem Oktober hat die diesjährige Saisou ihr Ende erreicht und der Besuch des Königsschlosses ist eingestellt. Der Verkehr war trotz der ungünstigen Witterung ein überaus reger, die Einnahme betrug bei ungefähr 42,000 Besuchern beinahe 145,000
Havre, 9. Nov. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch fand einige Meilen von Lizard ein Zusammenstoß zwischen dem deutschen Dreimaster „Theodor Rüger" und dem englischen Dampfer „Nantes" statt. Der elftere sank eine halbe Stunde nach dem Zusammenstoß. Die Bemannung flüchtete in zwei Booten. Der „Nantes" wurde zwischen der Maschine und dem niedergeworfenen Schornstein eingestoßen; sein Schicksal ist unbekannt. Details fehlen.
— Aus Petersburg telegraphiert man der „Köln. Ztg.": Der Zar ist durch den Eisenbahnunfall sehr erschüttert worden. Fortwährend beschäftigen ihn die vielen Opfer und der Schmerz der Hinterbliebenen. Es ist schwer, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Wenn er sich an seinen Arbeitstisch setzt, fehlt ihm sein steter Begleiter: der große Hund, der sonst immer zu seinen Füßen lag, und der beim Unfall umkam. Dieser Umstand ruft ihm immer wieder alles in die Erinnerung zurück. Man hat den Zaren schon einigemal allein in seinem Zimmer in Thränen gefunden. Für die Hinterbliebenen ist in sehr reichlicher Weise Fürsorge getroffen worden. — Der Zar soll selbst darauf bestanden haben, schnell zu fahren. Ein starkes silbernes Cigarren-Elui, welches er in der rechten Hosentasche trug, ist fast ganz platt gedrückt. Die Quetschung, die der Zar erlitt, sei sehr schmerzhaft.
nützer Weise nach Paris zu tragen; aber dafür tragen sie es nach Berlin, nach Dresden und nach den sonstigen großen Städten. Und warum? Weil sie sich einbilden, in diesen großen Städten besser und billiger zu kaufen, als in ihrem Wohnorte, weil sie immer noch glauben, daß nur das gut sei, was weit her ist. So kommt der Kaufmann in der kleinen Stadt, namentlich da, wo er weniger auf den Zuspruch der Landbevölkerung zu rechnen hat, ins Hintertreffen, so wird alle seine Mühe und Arbeit, sein Schaffen und Streben unnütz."
„Richtig, Herr Prinzipal," sagte Wahner, der noch nach dom alten Style seinen „Chef" mit „Prinzipal" anredete, „aber es ist doch zu hoffen, daß sich auch diese Modethorheit des Auswärtskaufens allmählich verziehen und daß es für jeden und jede heißen wird; Kauft am Wohnorte!"
„Es ist zu hoffen," entgegnete langsam Herr Remmler, „aber bis endlich sich diese bessere Ueberzeugung Bahn bricht, kann gar mancher strebsame Geschäftsmann, gar manches — alte — Haus — kaput — bankerott sein."
Er hatte die letzten Worte stockend hervorgebracht und sich abgewandt, um nicht dem Buchhalter ins Auge sehen zu müssen.
„Um Gotteswillen, Herr Prinzipal," brach der aber los, „Sie meinen doch nicht —"
„Ich meine, mein lieber Wahner", kam es tonlos von Remmlers Lippen, „daß wir beide, die wir hier in Ehren grau geworden, demnächst unfern Auszug werden halten müssen, — ob wir nun wollen — oder nicht. Der — Bankerott des Hauses — Viktor Remmler — steht vor — der Thür."
Jene Naturen, die in dem Hasten und Jagen unseres heutigen Daseins noch nicht die Pietät für das Altbestehende, für jene durch treue und pflichtgemäße Thätig- keit geheiligte Stätten verloren haben, sie werden es begreifen, daß des Kaufmanns Worte wie ein Blitzstrahl auf Wahner niederfuhren; denn Wahner hatte sich zwar im Laufe der Jahre einiges erspart und stand somit nach dem Bankerotte keineswegs mittellos da, allein der Gedanke, von der liebgewonnen Stätte, seines geschäftlichen Wirkens zu scheiden, war ihm nie und nimmermehr gekommen.
„Aber wie ist denn das eigentlich gekommen, Herr Prinzipal?" rang es sich endlich von seinem Munde.
„Wie es gekommen? Du lieber Gott, wie es zu erwarten stand, nur etwas früher und nur als Folge einer Spekulation, wenn Sie es so nennen wollen. Daß wir rückwärts gingen, wir ebenso, wie viele andere, die von der Kundschaft des Wohnortes vernachlässigt werden, das wissen Sie so gut wie ich. Gerade auf das diesjährige Weihnachtsgeschäft aber hatte ich meine Hoffnungen gesetzt und durch dieses hoffte ich mich einmal gehörig wieder herauszureißen. Sie wissen doch, daß in der nächsten Zeit, bei uns die große Wohlthätigkeitsaufführung ist. Sie wissen auch, daß die baute volss unserer Stadt so ziemlich vollzählig bei dem löblichen Unternehmen beteiligt ist und daß an der Spitze die Damen des Hofes, auch unsere holde Prinzeß Melanie steht. Es werden auch lebende Bilder gestellt und ähnliche schöne Sachen, die recht viel Geld kosten, stehen auf dem Programm. Nicht zu vergessen ist der große Maskenball am Sylvesterabend, der auch nicht schlechte Toiletten aufweisen wird. Nun sehen Sie, man hat ja so seine Fühlung mit den maßgeblichen Leuten, nur war diesmal die Fühlung keine stichhaltige oder vielmehr man hat mir eben nicht Wort gehalten. In der Hoffnung und Erwartung, genährt durch Versprechungen, daß die meisten oder wenigstens sehr viele der kostbaren Stoffe, die zu den Festen gebraucht werden, — Sie wissen ja, Geld ist bei uns im Städtchen genug vorhanden und die Herrschaften lassen sich auch nicht lumpen, wenn es darauf ankommt, — bei mir angeschafft werden sollten, habe ich eine ganze Partie sehr wertvoller, hocheleganter, guter Stoffe angekauft. Und was ist bei mir gekauft worden? So gut wie nichts! Nun lagern die teuren Stoffe da und meine Wechsel sind demnächst fällig. Wovon einlösen? Ich weiß es nicht. Das schöne Geld ist aber wieder einmal nach Berlin gewandert, weil man glaubt, dort etwas ganz Apartes zu erhalten. Vielleicht gelingt es mir noch, einen Teil der kostbaren Sachen mit Verlust zurückzugeben, um so das schlimmste zu verhüten."
So redete Herr Remmler zu seinem Buchhalter, der ihm bewegten Herzens zuhörte, nur ab und zu mit einem Kopfnicken dessen Worte begleitend.
(Fortsetzung folgt.)