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und daß man in Berlin das Bedürfnis zu solcher Annäherung stärker als in Petersburg empfinde, bemerkt die „Nordd. Allg. Zt q.": „Die Initiative ist natürlich von Berlin ausgegangen. Es ist nichts Auffälliges, vaß ein neuer Kaiser der unter zivilisierten Europäern herrschenden Sitte entsprechend dem ältern Verwandten und befreundeten Nachbar eine Antrittsvisite macht. Für eine solche natürliche Auffassung habe „Nowoje Wremja" kein Verständnis. Daß Deutschland es ist, welches Frieden und gute Nachbarbeziehungen zwischen Deutschland und Rußland wünscht, müßte auch den Lesern des „Nowoje Wremja" kaum zweifelhaft sein. Die Initiative ging also von Berlin aus; aber die Folgerung daraus, daß die deutsche Regierung das Bedürfnis nach einer Annäherung stärker empfinde, als in Petersburg, ist eine Ueberschätzung asiatischen Hochmuts ünd astatischer Unwissenheit.
Hcrges-Weuigkeilen.
(:s Calw, 16. Juli. Gestern ist hier ein 6 jähriger Knabe beinahe ertrunken; derselbe wollte aus dem Gebüsch am Nagoidufer beim Oelenderle eine Gerte schneiden, bekam hiebei das Uebergewicht und stürzte in die dort sehr tiefe Nagold. Der Knabe war schon dem Ertrinken nahe, als ein junger Mann von Kentheim, welcher zufällig an jener Stelle vorbeikam, mit Einsetzung seines eigenen Lebens, den Kleinen herausholte und ihn der am Ufer weinenden Mutter übergab. — Möge dieser Vorfall eine Warnung für die Mütter sein, die ihre Kinder so häufig an der Nagold ohne Aufsicht spielen lassen.
Calw. Auf dem heutigen Viehmarkt waren zugesührt 804 Stück Rindvieh uud 73 Pferde. Der Handel ging durchweg flau. Der Schweinemarkt war mit 33 Körben Milchschweine befahren. Preis 28. pro Paar.
Das Mohnbachthal. Schon im vorigen Jahr hatten wir anläßlich einer vom Schwarzwaldverein ausgeführten Tour, unter Führung von Hrn. Oberförster Haug in Liebenzell und dem Vorstand des Schwarzwaldvereins, Hrn. Baurat Rheinhard in Stuttgart, Gelegenheit auf dieses an Naturschönheiten so reiche, reizende Thälchen aufmerksam zu machen. Jener Gang galt damals speziell der Erschließung desselben. Dank der Bemühungen des Liebenzeller Verschönerungsvereins mit Unterstützung des Schwarzwaldbezirksvereins Calw bietet nun das durch den Mohnbach gebildete, tief eingeschnittene Waldthal mit hochge- birgsartigem Charakter und einem Reichtum von prächtigen Einzelpartien einen Spaziergang wie in unserem an landschaftlichen Reizen gewiß nicht armen Nagoldgau wohl kaum schönere zu finden sein dürften. Bei eintretender Ermüdung laden bequeme Sitzplätze am Wege ein und durch geschickt angebrachte direkt an das Wasser führende Seitenwegchen ist auf die schönsten Stellen besonders aufmerksam gemacht. Mit dieser Tour, die wir zunächst jedermann empfehlen möchten, lassen sich noch verschiedene interessante Punkte und Sehenswürdigkeiten verbinden. Von Pforzheim aus empfiehlt es sich, dieselbe etwa so zu machen: Mit der Bahn nach Unterreichenbach, von da zu Fuß auf der Calwer Straße bis zum Nonnenwag über den Steg und den Wegzeigern folgend das Thal hinauf, dann nach Monakam, Besuch des Kirchleins (1802) mit schönem Altarschrank von 1497 aus der ehem. Friedhofkapelle, (Gasthaus zum Hirsch) und von hier über den Mona- kamer Kopf — einem prächtigen Ausstchtpunkte auf das Nagoldthal — am Kaiser. Wilhelm-Stein und Kaffehof vorbei nach Liebenzell; umgekehrt empfiehlt sich der Weg von Liebenzell aus. Der Kaiser- Wilhelm-Stein ist ein mächtiger Felsblock auf grünem Moosbett in einer von Tannen überragten Nische und von schönen prächtigen Farnen umgeben, in ihn eingelegt ist ein von einem Badgast gestiftetes Bronzemedaillon mit dem Brustbild unseres Kaisers. Der Vorstand des Liebenzeller Verschönerungsvereins, Hr. Oberförster Haug, erklärte bei einem jüngst dorthin stattgehabten Ausflug dessen Bedeutung dahin, daß der Kaiserstein nicht ein Liebenzeller Sonderdenkmal, sondern nur ein einfaches, würdiges, im Schatten
unserer Schwarzwaldtannen errichtetes Erinnerungszeichen an unserN hoch, verehrten Kaiser Wilhelm vorstellen solle, ein einfaches Erinnerungszeichen, wie man deren, ohne damit der Errichtung eines großen Landesdenkmals in der Hauptstadt entgegen zu sein, nicht genug aufstellen könne zum Gedächtnis an die große Zeit, die wir mit erleben durften und an den großen Mann, dessen gesegnetes Wirken heute noch fortdauert und zur erhebenden Mahnung für den Beschauer, seiner Pflichten für das schöne große Vaterland eingedenk zu sein. — Noch sei hier erwähnt, daß das Mohnbachthal auch von Unterhaus st ett in wenigen Minuten zu erreichen ist.
Aus dem Oberamtsbezirk Tübingen, 16. Juli. Der Stand der Früchte, namentlich der Sommerfrüchte ist dank der seitherigen feuchtwarmen Witterung befriedigend; die Aussicht auf Obst kann als sehr gut bezeichnet werden. Ebenso versprechen die Weinberge einen reichlichen Ertrag wie schon lange nicht mehr. Die Heuernte ist nahezu beendigt, fiel aber nicht nur quantitativ, sondern wegen der häufigen Niederschläge auch qualitativ durchweg schlecht aus; doch ist Hoffnung auf einen ergiebigen zweiten Schnitt vorhanden, während die Futterrüben sich aufs Beste entwickeln. Somit scheint sich das Jahr 1888 für die Landwirtschaft noch be- friedigend gestalten zu wollen.
— Gegenüber dem Schaden, den die Heuernte von der Witterung genommen, ist es erfreulich, fast von überall her von ausgezeichneten Obstaussichten berichtet zu lesen. So wird dem „Albboten" vom Lenninger Thal geschrieben: Obst giebt es in sehr großer Menge. Seit vielen Jahren ist es das erstemal, daß ein Mangel an Baumstützen eintritt, die sehr gesucht und gut bezahlt werden und mit denen bereits ein ausgedehnter Handel getrieben wird. — Aus Dettingen schreibt man dem „Neuen Albboten": Das Ermsthal erfreut sich Auer einer gesegneten Klrschenernte und man hat deshalb augenblicklich die kühle Witterung gar nicht ungerne, die Kirschen sind leichter zu verladen und zu transportieren und halten sich länger als bei heißem Wetter, das schon manchmal den Preis herabgedrückt hat. In Dettingen schätzt man den Ertrag auf 3000 Zentner.
München, 16. Juli. (Sängerfahrt des Stuttgarter Liederkranzes.) Sonntag früh verließen die Sänger nach einem überaus herzlichen Empfang und Abschied die Stadt Augsburg. Bei der Ankunft um 8 V 4 Uhr wurde der Liederkranz von den Vertretern von 18 Gesangvereinen Münchens empfangen, an deren Spitze Oberregierungsrat Nutz, Justizrat Otto und die Vorstände des bayerischen Sängerbundes standen. Die herzliche Begrüßung fand ihre Erwiderung durch den Mund des Vorstands Steidle. Abends war Konzert im Ausstellungsgarten, in welchem gegen 15,000 Personen anwesend waren; um 7'^ Uhr begannen die Vorträge des Stuttgarter Liederkranzes, welchen mit der größten Stille gelauscht wurde. Von Lied zu Lied steigerte sich der Beifall; es wurde mit Wärme. Präzision und Sicherheit gesungen. Die Volkslieder verfehlten auch hier ihre packende Wirkung nicht. Das Lied „Es muß doch Frühling werden" von Brembach wurde besonders vollendet vorgetragen. Der Applaus war großartig und stets wurden die Lieder wiederholt verlangt. Der Liederkranz sang vieles doppelt, so das „Muß i denn zum Städtele naus," das Lied „Früh morgens wenn die Hähne krähn," mit dem Solo „Der liebe Gott geht durch den Wald" u. a. Die Musik spielte ihre Weisen dazwischen und die 3 Fontänen waren mit electrischen und farbigen Lichtern feenhaft beleuchtet. Am Montag ist für die Sänger eine Besichtigung der Stadt und der Ausstellung bestimmt, mittags vereinigte dieselben ein gemeinschaftliches Essen im Hotel Roth, welchem die Vorstände des bayerischen Sängerbundes anwohnten. Dabei fehlte es nicht an Toasten. Für den Abend ist ein Bankett mit d?n Münchener Vereinen des bayerischen Sängerbundes in den Lokalen des bürgerlichen Bräuhauses der Vorstadt Haidhausen. — Dienstag wird ein Ausflug an den Starnberger See unternommen.
Nürnberg, 16. Juli. Aus dem Zuchthause zu Kloster-Ebrach entwichen zwei Sträflinge mit der vorher erbrochenen, 50,000 ^ enthaltenden
Der Wagen fuhr über das Boulevard des Italiens und Frau von Listrac, sich aus dem Fenster hinauslehnend, verlor denselben nicht aus dem Gesicht; plötzlich bog er in die Rue Merivaux ein und hielt gleich darauf vor dem Kafs Anglais.
„Sie will mit Georges soupieren und ich, ich werde sie töten!" zischte die Gräfin, bis in die Lippen erblassend. Sie sah ihren Gatten aussteigen, sah, wie er einer Dame behilflich war, das Gleiche zu thun, sah Beide in das glänzend erleuchtete Vestibüle treten.
„Ist das die Baronin?" fragte sich Bianka, mit ihren Blicken die dicht verschleierte Frauengestalt förmlich verschlingend; aber es war unmöglich, die Züge derselben zu erkennen.
Unmittelbar hinter dem Koupß, in dem ihre Unbekannte gesessen, hatte Bianka's Wagen vor dem Kafs Anglais angehalten und die junge Frau fragte sich ratlos, was der nächste Schritt sein müsse, welchen zu thun sie berechtigt wäre.
Nichts lieferte ihr den Beweis, daß die Frau, welcher sie gefolgt war, wirklich die Baronin Benserrade sei. Jedenfalls aber war die Gräfin nicht in der Stimmung, es ruhig abzuwarten, bis ihr Gatte das Lokal wieder verließ. Doch wie sollte sie dasselbe betreten? Der betreßte Portier bot ihr die Gelegenheit, welche sie suchte.
„Die gnädige Frau gehört wohl zu dem Herrn und der Dame, welche soeben ausgestiegen sind?" fragte er, an den Wagenschlag herantretend. Die Gräfin von Listrac bejahte.
Ohne weiter zu überlegen, stieg auch sie aus und der Portier öffnete die Flügelthür, ließ sie eintreten und eilte dann an den nächsten Wagen.
Der Kutscher, welchen die Gräfin genommen hatte, begriff, daß er ihrer Rückkehr harren solle, und faßte in einiger Entfernung Posto.
Bianka war zu weit gegangen, als daß ihr jetzt noch eine Umkehr möglich gewesen wäre; sie drang also in dem ihr gänzlich fremden Lokal weiter vor und begegnete alsbald einem Kellner in schwarzem Frack, der ihr gleich dem Portier die Frage eilte, ob sie zu dem vorangeschrittenen Paare gehöre, und, als sie bejahte, einem um etwa zwanzig Schütte weiter sich zeigenden Domestiken zuüef: „Im grünen Salon!"
Im ersten Stockwerk angelangt, trat in weißer Crawatte und tadelloser Toilette der Eigentümer des Etablissements ihr entgegen; dieser kannte sein Publikum und ein Blick auf Bianka's Erscheinung genügte, um ihn zu überzeugen, daß er es hier mit einer Fremden zu thun habe. Mit auserlesener Höflichkeit fragte er sie, was sie wünsche, und als sie sich auf den Herrn und die Dame beüef, welche ihr vorangegangen seien, genügte seinem scharfen Kennerauge ein zweiter Blick in ihre erregten Züge, um ihn über die Situation aufzuklären.
„Pardon, meine Gnädigste," sprach er mit ruhiger Würde, „der Herr und die Dame, welche Ihnen vorangeschritten sind, ermatten gar Niemanden."
„Das kümmert mich nicht," riefFrauvon Listracmit hervorbrechenderHestigkeit, „ich will den Herrn sprechen. Sagen Sie ihm, er mögesogleichzurückkommen;ich erwarte ihn!"
„Ich bedaure, nicht thun zu können, was sie wünschen, gnädige Frau; jener Herr aber hat positiv verboten, daß man ihn störe!"
„Gut," sprach Bianka, sich beherrschend, „so weisen Sie mir ein Zimmer an, in welchem ich schreiben kann, und geben Sie mir die erforderlichen Requisiten; wenn Sic dann dem Herrn meinen Büef überbringen, so werden Sie sehen, daß er ohne die geringsten Schwierigkeiten kommen wird, um mit mir zu sprechen."
Der Hotelier zögerte; er war seit mehr denn zehn Jahren Eigentümer des Kafös Anglais. Er kannte Georges de Listrac, der zuweilen dort zu soupieren pflegte, sehr gut; die Gräfin aber kannte er nicht und fragte sich nun, ob etwa sie es wäre, welche mit solcher Beharrlichkeit darauf bestehe, Georges von Listrac zu sprechen. Die Sicherhett, mit welcher sie auftrat, ließ in an einer solchen Möglichkett nicht zweifeln und er sann über )einen Ausweg nach, wie er am besten hier eine Lösung herbeiführen könne, ohne einen Stammgast des Hauses kompromiüeren, als laut und befehlend in einem der Salons an dem Glockenzuge geüssen wurde.
Es war dies gerade der Raum, in welchem das Paar sich niedergelassen hatte, welches Frau von Listrac suchte, und der Graf, welcher das Watten nicht liebte, konnte im nächsten Moment aus dem Salon heraSS auf den Korridor treten.
(Fortsetzung folgt.)