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'UoMlfche Wcrchvichten.
Deutsches Reich.
Berlin, 15. Jan. Bei den Majestäten war gestern abend eine kleine Theegesellschast, zu welcher Fürst Blücher, Graf Waldersee, Graf Goltz, Oberschloßhauptmann Graf Perponcher nebst Gemahlin und Tochter und Graf Matuschka Einladungen erhalten hatten. Um 9 Uhr begab sich der Kaiser zu Bett und hat die Nacht gut geschlafen. — Der Kaiser nahm heute vormittag mehrere kurze Vorträge entgegen und konferierte später längere Zeit mit dem Chef des Militärkabinets, General v. Albedyll. Um 5 Uhr findet beim Kaiser und bei der Kaiserin Familiendiner statt. — Die jetzt neu zu errichtende deutsche Botschaft in Madrid -7- die siebente des Reichs — wird hinsichtlich der Kosten mit der Botschaft in Rom auf die gleiche Stufe gestellt werden, insofern der neue Botschafter dort ein jährliches Einkommen von 100,000 ^ erhalten soll. Der bisherige Gesandte am spanischen Hofe bezog für seine Person 63,000 ^ und die deutsche Gesandtschaft daselbst machte einen Kostenaufwand von insgesamt 78,000 während die Botschaft in Rom 143,050 ^ erfordert. Von den Botschaftern erhalten die höchsten Bezüge diejenigen in Petersburg und London mit je 150,000 die Botschafter in Wien, Paris und Konstantinopel empfangen je 120,000 -//L; den billigsten Aufenthalt bieten dis Hauptstädte Rom und Madrid, wo die Repräsentation mit 100,000 zu bestreiten ist.
Berlin, 17. Jan. Der Reichstag genehmigte die fortdauernden und einmaligen Ausgaben für die Marine mit Ausnahme der Position für ein Marine-Lazaret in Lehe (an der Wesermündung), deren Streichung die Kommission beantragt hatte. Ein Antrag Gehhardt, statt der für das Lazaret in Lehe geforderten 365,000 Mark nur 220,000 Mark zu bewilligen, wurde an die Kommission zurückoerwiesen. Im Verlaufe der Debatte erklärte der Chef der Admiralität v. Caprivi, es habe keinerlei Jnspirirung der Presse durch ihn stattgefunden, er wisse nichts von einem Marine-Nachtragsetat. Der Vorwurf, der Schwerpunkt der Marine sei auf's Land verlegt, sei unbegründet. Die Marine habe, wie sie jetzt sei, keinen Gegner zu fürchten. Die Beratung des Etats des Reichsamts des Innern wird auf Mittwoch vertagt nachdem der Staatssekretär Bötticher die Vermehrung des Äufsichtspersonals für die Fabriken zugesagt und erklärt hat, das Krankenkaffengesetz habe sich vorzüglich bewährt, die gleichwohl vorhandenen Mängel seien fortgesetzt zu korrigieren, und die Regierung mit einer Novelle zum Krankenkaffengesetz beschäftigt.
— Die Nachricht von der Vergiftung der Lieblingshunde des Kronprinzen bestätigt sich nicht. — Gegen die Erfindungen französischer Blätter kehrt sich folgende Erklärung des Korrespondenten der „Voss. Ztg." aus San Remo vom Sonnabend: „Es ist kaum nötig, den Erfindungen französischer Blätter betreffs einer Lähmung oder eines Schlag, anfalls des Kronprinzen, sowie betreffs neuer Konsultationen der Aerzte und beunruhigender Meldungen an die deutschen Höfe entgegenzutreten. Ebenso erfunden sind die Attentatsgerüchte. Bekanntlich waren der Kronprinz und seine Familie täglich mehrere Stunden unterwegs." — Die „Rep. franc." hatte allerlei Phantasienachrichten über Attentatsversuche auf den Kronprinzen verbreitet. — Das Wiener „Fremdenblatt" bringt in einem Telegramm aus San Remo auch die vorstehend als erfunden bezeichneten Nachrichten über ein beabsichtigtes Attentat gegen den Kronprinzen. — Das „Berl. Tagebl." meldet von vertrauenswürdiger Seite aus San Remo, daß es zwischen den sich in die Behandlung des Kronprinzen teilenden Aerzten zu ernsten Differenzen gekommen sei. Dr. Mackenzie kommt Ende dieses Monats nach San Nemo.
— Wie aus San Remo telegraphiert wird, hat König Humbert beim kronprinzlichen Hoflager anfragen lassen, wann sein Besuch erwünscht sei; die Antwort lautete: in der Zeit zwischen dem 16. bis 20. ds. Mts., falls kein Hinderungsgrund eintrete.
„Ja, da haben wir's wieder", brummte der Doktor, als seine Tante das Zimmer verlassen hatte. „Anstatt das Mädel tüchtig auszuzanken, daß sie so unhöflich gewesen, geht sie jetzt hin und giebt ihr gute Worte. 'S ist zum Tollwerden, die Frauenzimmerwirtschaft!"
Die Geheimrätin hatte Else im Nebenzimmer nicht mehr vorgefunden und war, mit den Gewohnheiten ihrer Pflegetochter vertraut, hinaus in den Gatten gegangen.
Und sie hatte sich nicht getäuscht, wenn sie gehofft, das junge Mädchen dort zu finden. In einer dicht bewachsenen Laube saß Else, offenbar in die Lektüre eines Buches vertieft. Doch als sie die Schritte der alten Dame hotte, blickte sie auf und wahrlich, es war ein ganz anderer Ausdruck in den braunen Augen, als sie vorhin dem Doktor das trotzige: Ich will nicht, zugerufen.
Sie zog ihre Pflegemutter zu sich auf die Bank, und sie mit beiden Armen umschlingend, bat sie schmeichelnd:
„Tante Rätin, nicht schelten! Ich weiß, Du kommst deshalb, aber thu's nicht, sei Deiner Else nicht böse. Du weißt, Sie könnte es nicht ertragen."
„Kleine Schmeichelkatze", war die lächelnde Antwort, „Du meinst wohl, das ginge immer so! Nein, nein, diesmal bin ich ernstlich böse. Was hat es denn wieder gegeben?"
„Gar nichts weiter, Tantchen, als daß der Herr Doktor einmal wieder den Schulmeister herausgekehrt haben, und daß ich mir das nicht gefallen lasse."
„Er sagt aber doch, er habe Dich nur gebeten, ihn zu begleiten, und —"
„Und ich habe mich geweigert. Ja, da hat der Herr Doktor ganz recht: ich habe mich geweigert, weil ich nicht daran gewöhnt bin, daß man so mit mir redet, wie er es gethan. Weißt Du, Tantchen", und sie schmiegte sich noch enger an die alte Dame, „wenn Du mir etwas sagst, dann thue ich es gern, sehr gern, für Dich ginge ich durch's Feuer; aber Dein Herr Neffe glaubt immer, er müsse mich wie ein Schulkind behandeln und das — das ärgert mich, und dann werde ich ungezogen."
„Wie ein Schulkind", warf die alte Dame ein, „und bestärkst ihn dadurch in
Rußland.
Petersburg, 17. Jan. Der Kaiser drückte in einem Rescript an den Gouverneur von Moskau die zuversichtliche Hoffnung aus, der Friede werde auch in dem jetzigen Jahre und in künftigen Jahren gestatten, alle Kräfte dem inneren Gedeihen des Landes zu weihen.
Hages-Weirigkeiten.
-ß Calw, 17. Jan. „Ein Spaziergang durch London und durch den Tower im Jahr 1588", das war das Thema des ersten Georgenäumsvor- trags in diesem Winterhalbjahr, welchen gestern abend Herr Diakonus vr. Salz mann von Liebenzell vor einem äußerst zahlreich versammelten Zuhörerkreis hielt. Redner machte den Führer durch die Stadt London, die nach einer Schilderung Macaulay's vor 300 Jahren, als die Königin Elisabeth auf dem Thron Englands saß und ihr Land segensreich regierte, natürlich einen weit kleineren Umfang hatte, wie heutzutage; ein großer Teil der jetzigen Stadt war noch Einöde oder Jagdgebiet. Wir gehen aus vom Palast der Königin, die gerade im Jahr 1588 die Freude erleben durfte, nach der Vernichtung der spanischen Armada sich frei von allen äußeren Feinden zu sehen. Aber es ist ein Weg bis zum Tower; es giebt noch keine Kutschen oder Cabs; das erste Cab benützte Elisabeth 1588, als sie zum Dankgottesdienst aus Anlaß der Vernichtung der unüberwindlichen Flotte sich begab. Die Londoner sahen den aus China eingeführten Wagen freilich zunächst als eine Erfindung des Teufels an. Wir kommen vorüber am Durham-Haus mit seinem Bewohner Sir Walter Raleigh, dem geistreichen Geschichtsschreiber, Kriegshelden und Länderentdecker, welcher zuerst den Tabak nach London brachte; vorüber an der Temple-Barre, dem Schlagbaum, wo die eigentliche City of London beginnt und nun hinein ins Gewühl der Menschen mit ihren wunderlichen und farbenreichen Trachten, entlang den hübschen gothischen Häusern mit ihren kunstreich geschmiedeten eisernen Wahrzeichen und Schildern. Für Stillung von Hunger und Durst sorgen die zahlreichen Garköche; uns winkt aber aus erner Seitenstraße die Taverne zur Meermaid, wo wir mit dem täglichen Gaste Shakespeare plaudern können. Weiterhin gelangen wir an die weit geöffneten Thore der riesenhaften Paulskirche, die eigentlich nichts anders ist, als ein öffentlicher Durchgang für Menschen und Tiere, für kleinen und großen Verkehr; daneben aber klingt uns Orgelton entgegen. An einer Säule lesen wir neben Theateranzeigen — London hatte derzeit 7 Theater — eine Bekanntmachung, nach welcher in der Kirche verboten sei: „Reiten, Fahren, Schießen, Drachenfliegenlaffen und Tabaksrauchen." Endlich gelangen wir an die London Bridge, die einzige Brücke über die Themse zu jener Zeit, rechts und links mit Häusern besetzt; dabei aber auch eine Reihe Pfähle mit Köpfen von Hingerichteten in allen Stadien der Verwesung. In der Nähe der Brücke zeigt sich das Globustheater mit der Bühne Shakespeares; zum Zeichen des Beginns der Vorstellungen wird eine Flagge aufgehißt. — Wir fahren auf der Themse an die Königsburg Londons, den Tower, wo sich eigentlich die Geschichte Englands konzentriert. Durch einen der 4 Eingänge von der Wasserseite tritt man in den Hof, wo auf einem kleinen Rasenhügel sich das Schaffst befindet, und unter dem Hügel ruhen sie alle, die hier enthauptet wurden. Königinnen, Herzoge, Grafen, Bischöfe, Staatsmänner, wohl kein anderer Kirchhof der Welt umfaßt auf so kleinem Raume, so viel edles Gebein. Weiterhin ragen vor unfern Augen die 12 mächtigen Turmgebäude zwischen dem inneren und äußeren Hof in die Höhe. Da ist der „blutige Turm" in dem die beiden Söhne Eduards!V. den Erstickungstod fanden; der runde „Martinsturm", der einst bis zu ihrer Enthauptung die unglückliche Anna Boleyn und die edle Johanna Gray in sich schloß und von letzterer noch manchen Denkspruch an der Wand aufweist. Den Mittelpunkt der ganzen Anlage aber bildet der wohl von Wilhelm dem Eroberer erbaute „weiße Tower", scheinbar für alle Ewigkeit gebaut, 4eckig, mit 15 Fuß dicken Mauern. Im Erdgeschoß nehmen die Sammlungen von Kciegsgeräten und Kostbarkeiten unsere Aufmerksamkeit in Anspruch: das wichtigste ist aber der das ganz oberste
seinem Glauben, Du seist ein solches und nicht eine junge Dame, für die Du doch gerne gehalten sein möchtest. Ja", fügte sie ernster hinzu, „ich fange an einzusehen, daß ich Dich verwöhnt habe, und daß es für Dich besser gewesen wäre, ich hätte Dich strenger behandelt."
„Nun, woher diese plötzliche Einsicht kommt, brauche ich Dich wohl nicht erst zu fragen", meinte Else, „die hast Du doch auf jeden Fall dem Herrn Doktor zu verdanken!"
„Teilweise ja, ich kann es nicht leugnen. Als ich Dich vor zehn Jahren als teures Vermächtnis ineiner liebsten Jugendfreundin zu mir nahm, als Du mir in dem verödeten Hause entgegenkamst, in dem ich so viele flöhe Stunden verlebt, und in Deiner kindlichen Weise zu mir sagtest: Tante Rätin, die Mama ist fort und kommt nie, nie mehr wieder, aber sie hat gesagt, Du würdest meine Mama sein. Wirst Du mich auch lieb haben? — da hattest Du mein Herz mit Sturm genommen, und ich gelobte mir, Dir eine Mutter zu sein, die Dich Deine eigene vergessen lassen würde. Und ich habe mir redlich Blühe gegeben, ich habe Dich geliebt, wie mein eignes Kind; und dennoch fürchte ich, ich habe meine Pflicht nicht gethan; ja Else, ich hätte strenger sein sollen." Und die alte Dame seufzte tief auf.
„O Tantchen", rief Else aus, „wie kannst Du nur so etwas sagen! Du hättest nicht Deine Pflicht gethan! Keine Mutter hätte sich mehr Mühe mit mir Trotzkopf geben können, und wenn ich nicht so geworden bin, wie ich sollte, so bin nur ich daran schuld, nicht Du, liebste, beste Tante."
„Nun, wir mögen wohl Beide schuld sein, Else; aber wenn ich gefehlt, so habe ich es nur aus übergroßer Liebe gethan. Doch was auch schuld sein mag, bleiben kann es nicht so, das habe ich einsehen gelernt. So wie Du Dich heute gegen meinen Neffen betragen, das möchte ich nicht noch einmal erleben!"
„Tante", — in Elsen's braunen Augen glänzte es feucht, — „Tante, ich — ich weiß, daß es unrecht von mir war, aber ich konnte wirklich nichts dafür, er hat das Talent, mich zu reizen. Ich will aber in Zukunft versuchen, höflicher zu sein."
(Fortsetzung folgt.)