ren in allen Schichten der Bevölkerung kundgibt. Erfreulich ist es zwar, daß die Behörden gegen diese krankhaften Auswüchse Stellung nehmen; damit sind aber die Grundursachen nicht beseitigt. Diese wirken fort und vermehren andauernd die Wahnsinnskeime, die nur eines geeigneten Anstoßes bedürfen, um in Wirksamkeit zu treten. Sind solche Keime massenhaft vorhanden, so führen sie zu geistigen Epidemien, wie sie im Mittelalter wiederholt auf- traten. Gehen wir solchen Zeiten wieder entgegen? Hoffentlich nicht, aber die Anfänge dazu sind unverkennbar da.
England.
Im Ministerium des Innern ist, so schreibt die „Köln. Ztg.", eine Menge von Bittschriften zur Einführung der Peitschenhiebe als Strafe für die Dynamitanschläger eingelaufen. Da vor Jahren die Peitsche den sog. Erdroßlern das Handwerk legte, so sei das in sie gesetzte öffentliche Vertrauen nicht ungerechtfertigt. Ihr im Wege stehe einzig der liberale Abscheu von der Wiedereinführung der Prügelstrafe ; aber da man schon in Egypten den Gebrauch der Karbatsche als eines wirksamen, wenn auch verächtlichen Regierungsmittels nicht verschmähte, werde man hoffentlich auch hier im Interesse des Publikums sich der Sünde gegen die geheiligten Menschenrechte schuldig machen. Das Unterhaus fange glücklicherweise aii, mit der Peitsche zu liebäugeln, seitdem die Gefahr, in die Luft gesprengt zu werden, so nahe rückte.
Rußland.
(Massenvcrhaftungen.) Die Krakauer Rcforma berichtet: In Kischcncw haben die Polizei und die Gendarmen Hausdurchsuchungen vorgeuommen und wurden 32 Personen wegen nihilistischer Umtriebe verhaftet, darunter ein Polizist, 20 Schüler und Schülerinnen der höheren Klassen. Bei dem Sohne eines Advokaten wurden aufrührerische Proklamationen gefunden. In Kiew wurden 100 Personen verhaftet, darunter 40 Offiziere. Auch in Charkow hat eine Hausdurchsuchung bei vielen Bürgern stattge- fundeu; es wurden daselbst eine Buchhandlung gesperrt, eine Gcheimdruckerei entdeckt und 200 Personen verhaftet.
Spanien.
Madrid, 9. Juni. In dem 300 Meter langen Tunnel der asturischen Eisenbahnlinie erfolgte ein Zusammenbruch; 12 Arbeiter wurden getödet.
Egypten.
Kairo, 8. Juni. Im Widerspruche mit den neuesten Nachrichten aus Dougola besagen offizielle Meldungen aus Suakim, Berber habe sich den Aufständischen ergeben, die Stadt sei von den Aufständischen besetzt, ein Teil der Garnison sei zum Feinde übergegangen, der andere vom Feinde niedcrgemetzelt worden.
Das voraussichtliche Defizit in den diesjährigen Einkünften Egyptens wird auf ILs Millionen Pfd. St. angegeben. In Folge der niedrigen Getreidepreise wird die Zahl der Steuern in natura geleistet.
Amerika.
Eine amerikanische Zeitung schreibt: „Ein gesetzliches Verbot gegen das Tragen von Stöcken sollte in Kansas, wo bekanntlich ein Brantweinver- bot existiert, jetzt an der Reihe sein. Ein unternehmender Zinnschmied in Topeka fertigt jetzt einen patentierten Stock an, ähnlich wie die Stockflinten, die früher in Deutschland gebräuchlich waren. Er nennt sie „Jedermanns eigener Saloon". Die Stöcke sind nämlich hohl, ihre Knöpfe lassen sich abschrau- beu, und sie halten ungefähr ein Pint Whiskey. Sie sollen reißenden Absatz finden. Wenn einer. jetzt in Topeka Jemand einen Stock unter die Nase hält, so braucht man nicht mehr zu erschrecken, denn es bedeutet blos „Tusto Ono" oder „Nimm einen!"
Haridet L Uerkehr.
(Konkurseröffnungen.) Nachlaß des vcrst. Moritz Aman», gcw. Wirtsund Stcinhaners in Gebrazhofen. Friedrich Kull, Ochsenwirt in Waldrenuach. Traugott Tochtermann, Leimsieder in Reutlingen. Adolf Bcchtold, Schildmalcr von Deißlingen, z, Z. in Hildesheim.
Stuttgart, 9. Juni. (Landesproduktcnbölse.) Oeft- rcichische Zeitungsberichte wollen den Stand der Weizcn- und Gcrstensaaten nicht loben, doch sprechen Privatbriefe die Uebcrzeugung aus, daß Oestreich-Ungarn bei vernünftiger Initiative Heuer in allen Artikeln exportfähig sein wird. Der Rübcnschnitt hat in Ungarn begonnen und liefert günstige Resultate, Repsernte fangt am 15. Juni an, Aussichten brillant. — Unsere heutige Börse verlief entsprechend der allgemeinen
Geschäftslage in lustloser Haltung bei schwachen Umsätzen. Wir notieren per 100 Kilogramm; Weizen, baicrischcr 2>>
70 «l, Milwaukee Prima 20 60 ch Weizen, russischer Tax.
19 ^ 60 P bis 20 40 -l, russischer Assow. 17 50 bis 18 ^tl, kalifornischer 21 ^tl bis 21 ^ 25 «!, Kernen 20 ^ 50
Stuttgart, 9. Mai. (Mehlbörsc.) An heutiger Börse sind von inländischen Mehlen 1185 Sack als verkauft zur Anzeige gekommen, zu folgenden Preisen: (per Sack 100 Kilo, Brutto für Netto, bei Abnahme größerer Posten): Nr. 0 ^ 31-38, Nr. 1 29.50 30.50, Nr. 2 27.50—29, Nr. 3 25 bis 27, Nr. 4 20 -21.50. _
Line alte Liebe
Erzählung von S. F.
(Fortsetzung.)
Bruno stand im öden unwiltlichen Hotelzimmer „O, über die deutschen Weiber und deutsche Sentimentalität," rief er grollend. „Eine Südländerin hätte sich mir ans Herz geworfen, sie hätte nimmer von ihrem Alter und den langen Jahren gesprochen. 'Nun, Du hast es nicht anders gewollt, Helene, Du treibst mich selbst wieder hinaus in das stürmende Leben." Ueber beide wölbte sich in hehrer Sternenpracht die Christnacht — doch die Stimme des Engels, die da singt: „Friede auf Erden" fand den Weg nicht zu ihrem Herzen.
Eine seltsame Unruhe hatte Helene seit jenem Weihnachtsabend, an welchem der Jugendgclicbte in ihr einsames Zimmer irat, erfaßt. — Es duldete sie nichl mehr in der kleinen Stadt, hinaus zog eS st- in das bewegte, nnrnhoolle Leben der Wett. Als gelle es auch für sie noch irgend ein Glück zu erjagen, die blaue Blume zu finden. Es waren ja der Jahre noch nicht so viel, die sie von ihrer Jugend trennten, nur weil sie so einsam gewesen, so gleichmäßig, ohne die Wegweiser teuerer Erinnerungen, vorüber gegangen waren, erschienen sie ihr so lang. Ihre Feder ruhte, Bruno hatte sie so geschmäht, — ihre Phantasie jedoch arbeitete desto lebhafter. In dem bewegteren, anregenderen Leben kamen ihr größere, selbstständigere Gedanke» und trieben sie doch schließlich wieder an ihren Schreibtisch. Das schöne Knabenbild über demselben, mit den braunen schwärmerischen Augen, schaute er verwundert ans sie herab; wie ihre Feder so rastlos über das Papier jagt, wie ihre Wangen sich fast fieberhaft röteten. Ein längerer Roman entstand und nahm seinen Weg in die Welt hinaus. Er verschaffte ihr, der unbekannten Schriftstellerin, plötzlich Ruhm und Ansehen.
In einem anmutigen Thale Thüringens hatte sie sich dann später ein trautes Dichterheim gegründet, wo sie die Sommermonate verlebte. — Die Villa der thörichten Jugendtränme war nun doch zur Wirklichkeit geworden; ein Rosengarten umgab sie, sogar die Flora fehlte nicht, nur war sie nicht aus Brunos Atelier hervorgcgangen.
Nur einmal war eine flüchtige Kunde von dem Jugendfreund zu ihr gelangt. Man hatte ihr erzählt, daß er in Rom ein wüstes Leben führe und zu den vielen zu Grunde gegangenen Genies zähle. Es heißt, er hätte in Deutschland ein blondes Lieb gehabt, die ihn verschmäht habe; so schloß der junge Maler, der Helene diese Mitteilungen gemacht, seinen Bericht.
Seufzend wandte Helene ihr tief errötendes Antlitz von dem arglos dreinschauenden jungen Künstler. „Wenn er den Weg noch einmal zu mir zurückfände," flüsterte sie und schaute träumerisch hinaus auf die bewaldeten Berge Thüringens.
Als in diesem Jahre der Herbststurm über das Gebirge brauste, verließ sie ihre Villa nicht, um sie mit einer Wohnung in der Stadt zu vertauschen. Sie lauschte den wilden, sturmbewegten Liedern des Herbstes, sie sah die Blätter von den Bäumen fallen und den Wind sein lustig Spiel mit ihnen treiben.
Weihnachten war herangckomme», aber der Win- ^ ter hatte sein Reich noch nicht angetretcn, noch herrschte der Herbst in unumschränkter Macht und gerade heute, am Heiligabend, ließ er noch einmal all' seine Sttnmes- lieder durch den Wald brausen. Die Lindenbäume vor Helenens Billa neigten und beugten sich im Sturm, das letzte welke Blatt fiel zitternd zur Erde. Ein kleines Mädchen saß auf der Thürschwelle, sie war ärmlich gekleidet, ein rotes Tuch war fest um den Kopf gebunden, nur einige blonde Löckchen drängten sich darunter hervor.
„O wenn es nur erst Abend wäre," flüsterte sie und schaute hinauf zu den jagenden Wolken.
„Und warum soll es Abend werden, arme Kleine?" fragte da eine rauhe Männerstimme.
Die Kleine schreckte zusammen, als plötzlich wie aus der Erde gewachsen, die hünenhafte Gestalt eines Mannes vor ihr stand.
„Weil ich dann hinein darf zu dem lieben Fräulein," erwiderte sie schüchtern. „Sie putzt jetzt den Baum für uns arme Kinder an, in einer Stunde dürfen wir Alle kommen. Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr und sitze hier lieber und warte und schaue den Wolken zu, als daß ich zu Hause bleibe bei meiner alten Muhme, die nichts vom heiligen Christ wissen will. O wenn es nur erst Abend wäre! Sieh', jetzt hat sie ein Licht augesteckt, jetzt legt sie ein weißes Tuch über die lange Tafel."
Der Mann sah in dem nur matt erleuchteten Zimmer eine schlanke Frauengestalt hin und her gehen. Sie trug ein feines blaues Wollenkleid, eine weiße Spitzenrüsche um den Hals und an den Handgelenken. Das feine durchgeistigte Antlitz war von dunkelblonden Flechten umrahmt. „Sie ist jünger und lieblicher geworden," sagte der Mann. „Und was hat sie erreicht. Ruhm und Reichtum, ein Heim! während ich — —"
Verwundert sah das kleine Mädchen zu dem fremden Mann empor, er lehnte an einer der schlanken Säulen, die den Balkon trugen; seine zitternden Finger streiften von dem Epheu, der denselben umrankte, Blatt um Blatt ab. Er weinte, die kleine sah es ganz deutlich, wie eine Thräne in den schon ergrauten Bart fiel.
„Du frierst gewiß, armer Mann »nd bffr hungrig," sagte sie mitleidig, „geh mir hinein, denn Du darfst schon, tür Dich wird ja nicht beschert. Das gute Fräulein gibt Dir gewiß etwas zu essen, sieh, hier ist die Thür."
Wie ein Träumender schritt Bruno, denn er war es, über die Schwelle. Nun stand er allein in einem kleinen Boudoir. Ein mattes Licht fiel von der gewölbten Decke, an welcher eine Ampel hing, über den kleinen Raum. Er war reich mit Blumen dekoriert, einige weiße Statuen leuchteten geisterhaft aus dem dunkle» Grün der Blattpflanze» hervor. Am Fenster stand ein Schreibtisch; und darüber hing, wie damals, in der kleinen Stadtwohiimig, das Knabenporträt mit den dunklen Locken, den glänzenden Äugen.
„Es ist doch etwas Heiliges um die Nähe edler Frauen," sagte Bruno und setzte sich an das Fenster, welches eine Aussicht auf die nahen Berge bot, auf die Wolken, die darüber hinjagten im Dämmerlicht des Abends. „Nur einige Augenblicke will ich hier rasten, die reine Lust atmen, die Dich umgibt, Helene!"
Da rauschte es hinter der Portiere, Helene trat in das Zimmer, sie erkannte den Jugendgeliebten trotz des Dämmerlichts.
„Kehrst Du noch einmal zurück zu mir, Bruno?" sagte sie mit leiser bebender Stimme. _ (Schluß folgt.) _
Allerlei.
— Mittelalterliches Zunftwesen. Je mehr die Bürger zu Besitz kamen, desto mehr strebten sie auch nach Rechten und Freiheiten und um diese zu erlangen, thaten sie sich in Gesellschaften, Körperschaften zusammen; diese Gewerksgenoffenschaf- ten hatten den Zweck gegenseitiger Hilfleistung und freier Geselligkeit. Es sind diese Zünfte ein Abbild der verschiedenen Mönchsorden und so hingen sie denn auch mit der Kirche und dem Gottesdienst enge zusammen. Jede Zunft hatte ihren Schutzpatron und in der Kirche ihren Altar; die Zunftgenoffen feierten den Tag des Schutzpatrons gemeinsam. Aber die Zunftgenossen verpflichteten sich auch „zu brüderlicher Lieb und Treu." Daher sorgt die Zunft für Pflege ihrer Kranken und ihrer Waisen. Das Ehrgefühl der Zunft erforderte, den Zunftbruder oder eine Zunftschwester nicht verarmen zu lassen. Und auch für das sittliche Leben der Zunftgenossen sorgte die Zunft und wurde manchem ein Halt. Es war eine stramme Zucht, jeder Verstoß gegen das Statut wurde mit Bußen belegt. Das Wort: „Zünftler müssen so rein sein, als ob sie von den Tauben gelesen wären!" galt damals etwas. Die Zünfte waren die Sammelorte für sittliche Kraft, in denen sich lange Zeit Tüchtigkeit, Ehrbarkeit, Ehrgefühl und der Sinn für brüderliche Dienstwilligkeit erhielt. — Allmählich stellten sich aber auch Schattenseiten heraus: Ungerechtigkeit und Härte gegen solche, die nicht Zunftgenossen waren, Selbstsucht und borniertes Wesen, Mangel an allgemeiner Nächstenliebe. Auch Klagen über Lebensmittelsälschung hört man aus jener Zeit. Der berühmte Franziskaner Berthold von Regensburg klagt darüber, daß jener Wasser für Wein, dieser Luft für Brot verkaufe und mit Hefen mache, daß es innen hohl werde. Der Mantelschneider gebe einem alten Lumpen durch Stärkmehl wieder das Aussehen eines neuen und verkaufe ihn