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wieder neue Kräfte zuzuführen. Die heute abend zu erörternden mannigfachen Vor« teile werden sicherlich manchen veranlassen, seinen Beitritt zur Stadtgarde zu erklären. Sobald mehrere neue Mitglieder hinzutreten, können dieselben später ihre Unteroffiziere und Offiziere nach eigenem Gutdünken wählen, auch könnte die Uniform billiger hergestellt werden. Ferner ließe sich auch die Stadt gerne dazu herbei, den Beitrag, der von früheren 500 nunmehr auf 100 zurückgegangen ist, wieder zu erhöhen. Jedenfalls dürfte die heutige Besprechung auch für weitere Kreise von Interesse sein.
Stuttgart, 7. Novbr. (Landgericht.) Gestern standen vier Einwohner von Gaisburg vor der I. Strafkammer, angeklagt eines Vergehens gegen § 12 des Reichsgesetzes vom 24. Mai 1879 (sog. Nahrungsmittelgesetz). Es sind 1) Karl Kurz, Weingärtner, 30 I., 2) Marie, seine Ehefrau, 28 I., 3) Marie Möller, Gastwirtin, 37 I., 4) Metzger Jakob Schreiber, 34 Jahre alt, letzterer wegen Beihilfe. Folgendes ist der Thatbestand, welcher der Anklage zu Grunde liegt. Am 2. Juni brachte die Kuh des Kurz ein fast totes Kalb zur Welt, das man sofort nach der Geburt von Metzger Schreiber stechen ließ, und das noch tüchtig geblutet haben soll, also noch lebendig war, als es getötet» wurde. Schreiber zerlegte das Kalb nachher in der Art, wie der Schinder es zu thun pflegt und die Nachbarin des Kurz, Frau M., kaufte 22 Pfund davon s 30 H, für die Hälfte des üblichen Preises. Sie fitzte das Fleisch gebraten am nächsten Sonntag, also 5 Tage später, einer Hochzeitsgesellschaft von 19 Personen vor, die es außer dem Bräutigam trefflich fand; bei niemand stellten sich üble Folgen ein, ebensowenig bei der Kurz'schen Familie, gegen 10 Personen, die von dem übrigen Fleisch gegessen hatten. Der Sachverständige, Stadtdirektionstierarzt Sauer, rügte das Unterlasten der Fleischschau, welche zu konstatieren gehabt hätte, ob das Fleisch gesundheitsschädlich, oder nur als minderwertig zu bezeichnen war; denn im allgemeinen sei das Fleisch neugeborener Kälber als Nahrungsmittel für den Menschen nicht geeignet, da verschiedene Krankheitserscheinungen darauf folgen können. St>-Anw.-Geh. Gunzert sah den Beweis des Vergehens im Sinne der Anklage als erbracht an, und beantragte gegen die ersten drei Angeklagten je 4 Wochen, gegen den vierten 14 Tage Gefängnis. Die Anwälte Payer ll. und Gauß beantragten Freisprechung, da das Fleisch erwiesenermaßen gut war. Das Urteil lautete freisprechend nur für Kurz und Frau, sowie für Metzger Schreiber, gegen Frau Möller aber 80 Geldstrafe und Tragung von V 4 der Kosten. Es wurde angenommen, daß nach der Aussage des Sachverständigen nicht erwiesen sei, das Fleisch sei gesundheitsschädlich gewesen, vielmehr müsse es als verdorben, minderwertig angesehen werden, als welches es auch von Kurz verkauft wurde. Die Frau Möller verheimlichte ihren Gästen diesen Umstand und setzte den Braten als vollwertig vor, womit sie sich gegen 8 10. 2. des Nahrungsmittelgesetzes verging.
Tübingen, 3. Novbr. Dem Anscheine nach hat die Frequenz der Hochschule in diesem Semester etwas nachgelassen. Hiezu würde auch sehr gut die Beobachtung stimmen, die wir sonst nie in diesem Maße gemacht, daß noch an vielen Häusern die Zettel mit der Inschrift: „Zimmer zu vermieten" aushängen und die Vermieter teilweise in den Preisen zurückgehen.
Tübingen, 3. Novbr. Ein unabsehbarer Leichenzug bewegte sich heute vormittag 11 Uhr vom Dekanathause dem Friedhofe zu. Es galt, der Frau Dekan Sandberger, einer Tochter des Herrn Kommerzienrats Chevalier von Stuttgart, die letzte Ehre zu erweisen. Dieselbe starb mitten in ihrer schönsten Wirksamkeit, erst 44 Jahre alt, infolge einer Typhuskrankheit, zu der eine Lungenentzündung trat. Wer die Entschlafene kannte, schätzte an ihr ihre feine Bildung, ihren offenen geraden Sinn. Viel verlieren an ihr die hiesigen Armen, denen sie eine sorgsame Mutter war. Der Oratorienverein, in welchem sie so oft bei kirchlichen Ausführungen mitgewirkt, unter Direktion des Herrn Dr. Kauffmann, empfing den Sarg mit
dem Choral: „Wenn ich einmal soll scheiden rc." Die Grabrede hielt Hr« Oberhelfer Elsäßer über den Text: „Unsere Trübsal, die zeitlich rc." Mit einem Chor des Oratorienvereins schloß die ernste Feier.
Von den Fildern, 6. Nov. Wie der Filderbote hört, soll demnächst eine Versammlung der Ortsvorsteher der bei der künftigen Filderbahn interessierten Gemeinden stattfinden, um über das von Herrn v. Keßler vorgelegte Projekt zu beraten. Nach diesem Projekt würde zunächst eine Schmalspurbahn von Degerloch nach Möhringen geführt werden, wo sie sich in drei Linien gabelt: nach Vaihingen, nach Echterdingen—Bernhausen—Neuhausen und nach Hohenheim—Plieningen.
Von der Zwiefalter Alb, 5. Nov. In Geisingen ertank in vergangener Nacht der bejahrte Schultheiß Herter von da in der dortigen tiefen Hülbe, in welche er beim Nachhausegehen in der Finsternis geraten war.
WerrmifcHtes.
— Die nach 5tägigem Verlauf jetzt beendeten Bärenjagden des österreichischen Kronprinzen in den Görgeny-Szt.-Jmrer Revieren waren von folgenden günstigen Erfolgen begleitet. Es wurden 19 Bären und 2 Wölfe erlegt. Es ward auch überraschend gut geschossen, denn im Ganzen wurden, wie aus Gorgeny-Szt.-Jmre berichtet wird, 26 Bären aufgetrieben; hiervon sind nur 3 angeschossene nicht aufgefunden worden und nur 4 wurden gefehlt.
— Die „Kl. Presse" erzählt: „Während des deutsch-französischen Krieges waren ein Feldwebel und sein Bursche in die Lage gekommen, in Nancy zwei alten Eheleuten, bei denen sie einquartiert waren, gegen zwei gefährliche Spitzbuben Beistand zu leisten. Kurz nach diesem Ereignis wurde der Bursche, der damals von den Leuten reich beschenkt worden war, im Gefecht getötet. Der Feldwebel kehrte nach dem Kriege gesund nach Frankfurt, seiner Vaterstadt, heim. In den ersten Jahren nach dem Kriege erhielt er alljährlich zu Weihnachten eine Wertsendung, bestehend in 1500 Franken. Vorige Woche gelangte an den ehemaligen Feldwebel, welcher jetzt verheiratet und Vater mehrerer Kinder ist, ein amtliches Schreiben aus Paris, worin ihm mitgeteilt wurde, daß er von dem alten Herrn im Testamente mit 20,000 Franken bedacht worden sei, weiter wird um die Adresse des ehemaligen Burschen des Feldwebels gebeten, da derselbe 10,000 Franken laut Testament erhalten solle. Der Empfänger dieser Nachricht meldete zurück, daß sein ehemaliger Bursche kurz nach Verlassen von Nancy getötet worden sei, worauf ein weiteres Schreiben eintraf, in welchem mitgeteilt wurde, daß wenn einer der beiden Deutschen gestorben sei, der andere beide Legate erhalten solle. Das Erbteil muß auf Wunsch des Verblichenen, dessen Gattin schon mehrere Jahre vorher gestorben war, in Paris persönlich unter Vorzeigung von Legitimationspapieren abgeholt werden. Der Erbe hat sich deshalb nach Paris verfügt.
— Einen teueren Hut hat ein in Dortmund wohnender Schlossergeselle. Derselbe fuhr kürzlich von Dortmund nach Barop und schaute gemütlich zum Fenster hinaus. Plötzlich entführte ihm der Wind den Hut. Sofort zog er die Notleine und brachte dadurch den Zug zum Stehen. Er stieg aus, holte den Flüchtling und meinte, jetzt könne es weiter gehen. Das geschah, nachdem vorher der Name festgestellt worden war. Gewiß nicht freudig überrascht war der Geselle, als ihm dieser Tage ein Strafmandat in Höhe von 30 Mark wegen unbefugten Gebrauchs der Notleine zugestellt wurde.
— Die „schlagfertige Marine". Ort der Handlung: Ein Kriegshafen. Zeit: Die Gegenwart. Der Marineminister ist in X. zur Inspektion erschienen und besichtigt die Werft. Exzellenz sind nicht in Festtagslaune, haben vielmehr die Examenstimmung. Auf der Werft wird Alles furchtbar gründlich genommen. Da ist die neue Marinewaschanstalt, welche Anlaß zu tiefgehenden Fragen an den Jntendanturrat gibt, ob es vorteilhaft sei, selbst zu waschen und dergleichen mehr. Die Anwesenden glauben manchmal, einem Examen für die Intendantur-Laufbahn beizuwohnen. „Und was
„Wahrscheinlich!" entgegnete dieser gleichmütig.
Frau Harders ging dem Hause zu. Ihr Gang war langsam und schwer- fällig, nichts veriet die frühere Elastizität und Eleganz der Bewegungen der einstigen glänzenden Salondame — sie war eine recht, recht alte, müde Frau geworden, deren Herz durch des Lebens harte Schule langsam von den Schlacken gereinigt worden war, die Stolz, Hochmut und böse Leidenschaft dort angehäuft hatten.
Man hatte die arme, bewußtlose Frau schon zu Bett gebracht.
Frau Harders näherte sich demselben mit einem Fläschchen stärkenden Weines und beugte sich über die Bewußtlose.
Doch was war das! Hatte sie diese Züge nicht schon einmal gesehen?
Sie schaute, unruhig forschend, aufmerksamer in das starre Antlitz.
Plötzlich stieß sie einen leisen Schrei aus. Sie hatte in der Bewußtlosen die verschollene Schwiegertochter erkannt. Ihre Hand, die das Fläschchen hielt, zitterte heftig; sie vermochte sich kaum noch aufrecht zu erhalten, so sehr war der Schreck ihr in die Glieder gefahren.
In welch' elendem Zustande sah sie die einst so blendend schöne, stolze Aglaja wieder!
Sie schickte schnell den Diener zu Feodor und ließ ihn zu sich bitten.
Unterdessen bemühte sie sich. der Bewußtlosen den Wein zwischen die Lippen zu träufeln.
Endlich schlug diese die Augen auf. Ja, das waren Aglajäs Augen, aber wildrollend und unheimlich schauten sie um sich. Das Fieber glühte in ihnen.
Als Feodor in's Zimmer trat, raste sie schon in wilden Fieberphantasien.
„Unmensch!" schrie sie, „herzloser Wüstling, Du willst mich langsam zu Tode peinigen! Du hast meinen Stolz zertreten, mich bis in den Staub gedemütigt. Ich schwöre Dir aber, ich werde noch Mittel finden, Deiner Willkür und diesen schrecklichen Mauern zu entfliehen! Und dann wehe Dir, Boris Pawlowitsch, Du Elender, Du Heuchler — meine Rache wird Dich zu treffen wissen! Fluch Dir!!"
Erschöpft sank sie zurück.
Feodor war entsetzt wie gebannt stehen geblieben. Die Stimme hatte ihn wie Donnerschlag getroffen — er hatte sie erkannt!
Frau Harders ergriff, am ganzen Körper bebend, seine Hand und führte ihn hinaus.
„Feodor", sprach sie leise, „was sagst Du dazu?"
„Daß es eine ewige, furchtbar strenge Gerechtigkeit gibt, die schon hie- nieden jedem Unrecht die Sühne auf dem Fuße folgen läßt!" antwortete er laut und feierlich.
Acht Tage tobte Aglaja in den heftigsten Fieberphantasieen. Frau Harders, die an ihrem Lager wachte, schauderte bei den wilden Flüchen, die die Rasende gegen den Fürsten ausstieß. Was mußten die Mauern von Krepesnoje gesehen haben! " -
Dazwischen schalt sich die Fiebernde eine kopflose Thörin, daß sie Feodor verlassen und sich dem wilden Tyrannen selbst in die Hände geliefert habe, dann jammerte sie wieder nach Alexei, warum er heimlich aus Krepesnoje geflohen sei und sie, seine Mutter, ihrem grausamen Schicksal überlassen. Zu Zeiten der Erschöpfung sprach sie wieder: „Lieben Leute, könnt ihr mir nicht sagen, wie weit es noch bis Hardershof ist? Ach, ich bin so weit schon gegangen, bin so krank, so entsetzlich müde!"
Am neunten Tage trat die Krisis ein. — Das Bewußtsen war nicht wiedergekehrt-unter Verwünschungen stieß Aglaja ihren letzten Atem
zug, unbewußt, daß sie an dem erstrebten Ziele angelangt, daß sie in Hardershof starb, ihr wurde noch ein ehrliches Begräbnis auf dem dortigen Friedhofe zu Teil. —
Von seinem Sohne Alexei hat Feodor nie wieder etwas vernommen. Ob der junge Mensch ein brauchbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft oder ob er gleich vielen anderen Arbeitsscheuen aus Mißfallen über die bestehenden Gesetze unter die Nihilisten gegangen war — und gleich vielen Anderen sein Leben endlich in Sibirien beschlossen, wer mochte es wissen? Für seinen Vater blieb er verschollen!