Offizielle statistische Notizen darüber, welcher Prozentsatz der in Württemberg jährlich anfallenden Civilprozesse einen Streitwerth bis zu 300 hat, also vor die Amtsgerichte gehört, sind mir nicht bekannt, sind auch meines Wissens nicht erhoben worden, obwohl man glauben sollte, diese Frage komme bei einer so durchgreifenden Organisation sehr in Betracht; dagegen glaube ich nach den von mir aus den sechs letzten Jahren zusammengestellten Notizen mit ziemlicher Sicherheit schließen zu dürfen, daß allermindestens zwei Drittheile aller bei uns anfallenden Civilprozesse in die Zuständigkeit der Amtsgerichte fallen. Materiell betrachtet bilden demnach die Amtsgerichtsprozesse den Schwerpunkt der Civilrechtsprechung, auch sind wenigstens sür unsere württembergischen Verhältnisse 300 immerhin schon eine nicht zu unterschätzende Summe; Grund genug, um auch den Prozessen dieser Kategorie die gebührende Aufmerksamkeit und Sorgfalt Seitens der Gesetzgebung zu widmen; hier aber — erlaube ich mir zn bemerken — machte schon unsere jüngste württb. Prozeßgesetzgebung und macht ebenso die in Aussicht stehende deutsche den Fehler, daß sie die Prozesse vor den höheren Gerichten als weitaus das Wichtigste betrachtet und behandelt, die Prozesse vor den niederen Gerichten mehr nur sn passant; und doch liegt — wie schon erwähnt — der materielle Schwerpunkt der Rechtsprechung in den Amtsgerichtsprozcssen.
Es ist in der Reichsjustizkommijsion zum Theil unumwunden ausgesprochen worden, es seien Anwälte bei den Amtsgerichten ^uud damit faktisch bei den dorthin gehörigen Prozessen) gar nicht wünschenswerth, auch der württemb. Reichstagabgeordnete Gaupp sprach sich in nahezu ähnlichem Sinn aus; allein mit Recht wurde von anderer Seite die Nothwendigkeit eines tüchtigen Anwallsstandes auch sür die Amtsgerichte hervorgehoben, so namentlich von Dr. Schwarze, K. sächs. Generalstaatsanwalt.
Das Verfahren auch bei den Amtsgerichten wird im We sentlichen kaum sich unterscheiden von unserem jetzigen Verfahren, es beruht auch auf Oeffenilichkeit und — was die Hauptsache — Mündlichkeit; daß bei solchem Verfahren in jedem halbwegs nicht ganz klaren und einfachen Falle die Allerwenigsten im L-tande sind, ihre Sache mündlich mit der nöthigen Klarheit vor^utragen, brauche ich nach mehr als sechsjährigem Bestehen unserer' Civii- prozeßord^ung wohl kaum weiter auszusühren, ebensowenig, daß dann in Ermangelung von Anwälten der Richter — wohlverstanden Einzelrichter, dem das korrektiv eines rechrsgelehrten Collegen fehlt — sich im Interesse der Förderung der Verhandlung häufig genöthigt sehen wird, inquisitorisch zu Werke zu gehen, d. h. der Partei ihre Angaben und Anträge zu sormuliren, wodurch er aus seiner objektiven Stellung norhwendig heraus tritt; kein unbefangener Richter wird darin einen seinen Berussgenossen gemachten Vorwurf entdecken, der Uebelstand liegt in der Natur der Sache, im Wesen menschlicher Natur; daß aber diese Verschiebung des nothwendigen objektiven Standpunktes des Richters ein Uebelstand ist und zwar ein großer, erkannte die Wissenschaft längst an, indem sie die inquisitorische Maxime im Civilprozesse seit langer Zeit auf die Proscriptionsliste setzte. Eine Abhilfe gegen diesen Uebelstand liegt aber nur darin, wenn nicht durch zu weit gehende Lokalisirung der Anwälte diese sämmtlich an die Sitze der höheren Gerichte getrieben werden, denn die Zuziehung der Anwälte von auswärts, von höheren Gerichten her, welche an sich gesetzlich unbeschränkt ist, hat ihre engen Schranken durch die schon oben erwähnte Bestimmung, daß Reisekosten auswärtiger Anwälte von der unterliegenden Gegnerpartei nicht ersetzt zu werden brauchen; das „O weh, ich hab's gewonnen" dürfte nicht selten zu hören sein.
Die Zuziehung von Anwälten, welche auswärts wohnen, ist daher immer nur ein Nothbehelf und es bleibt die Möglichkeit, einen angesessenen Anwalt zu den Amtsgerichtsprozessen zuziehen zu können, IM Interesse des Publikums als ein von einer wirklich die Bedürfnisse dieses Publikums beachtenden Gesetzgebung anzustrebendes Ziel, mag dagegen von gegnerischer Seite gesagt werden, was will. Die Gründe für das Bestehen eines tüchtigen Anwaltstandes bei den Amtsgerichten sind noch nicht erschöpft.
Eben der Umstand, daß an den Amtsgerichten künftig nur noch Einzelrichter Recht sprechen werden, läßt es weiter als wünschenswerth, wenn nicht nöthig erscheinen, daß wenigstens bei irgend schwierigeren Fällen, welche auch bis zu 300 ^ nicht weniger selten sich finden, die Zuziehung von Anwälten möglich ist.
Man hielt seither das collegialische Nebeinanderstehen der Richter auch in den Oberamtsgerichten für eine nicht unwesentliche Garantie der richtigen, allseitigen juristischen Auffassung einer Rechtssache, wozu dann seither noch in den schwierigen Fällen fast immer auch Seitens der Anwälte eine rechtliche Würdigung der Sache kam; dieser zwei- und mehrfachen Erwägung soll nun plötzlich die Entscheidung Seitens eines Einzigen, des ganz auf sich selbst angewiesenen Einzelrichters folgen, welcher häufig vermöge der dieser Richterkatcgorie voraussichtlich zukommenden Rang- und Einkommensstellung ein noch ziemlich junger Mann sein dürste, dem die zu so schwierigem Berufe erforderliche
Lebens- und Geschäftserfahrung noch nicht in dem wünschenswerthen Maße zur Seite steht. Aber auch für den Einzelrichter erscheint es wünschenswerth und vortheilhaft, in häufigerer Berührung mit Anwälten zu stehen. Der von den Anhängern der Lokalisation geltend gemachte Grund, die Amtsgerichtsanwälte werden bei der Einsörmigkeit ihres Geschäftes versauren, trifft allermindestens eben so sehr zu für Einzelrichter, die stets nur mit den Parteien zu verhandeln hätten; aus diesen Amtsrichtern aber muß man — wenigstens zum größeren Theile — die höher» Gerichte wieder rekrutiren! Hievon aber auch abgesehen, glaube ich nach dem, Ä,as ich seither von fast allen Richtern, die ich kenne, hörte, annehmen zu dürfen, daß den Richtern, also auch wohl den künftigen Einzelrichtern, die Mitwirkung tüchtiger Anwälte im Allgemeinen durchaus nicht unangenehm ist und daß sie in ihrer Mehrzahl dieser Folge der Lokalisation, welcher Gegenstand meine Ausführung ist, nur ungerne sehen werden.
Die Lhätigkeil der Anwälte beschränkt sich aber bekanntlich nicht auf die eigentliche Führung von Prozessen; von ebenso großer, wo nicht größerer Wichtigkeit für das Publikum ist dis Berathung. in Rechtssachen. Wie manche unnölhige Klage ist durch richtige Berathung des rechtzeitig beigezozenen Anwalts unterblieben, wie viele Prozesse blieben nach eingereichter Klage unterlassen, wenn der Beklagte sofort rechtliche Belehrung nachsuchte? Welche Zahl von Prozessen derart den Gerichten erspart bleiben, läßt sich natürlich nicht annähernd feststellen, groß ist sie jedenfalls, und sicher sind es nicht die angenehmsten Prozesse, deren Beseitigung einem tüchtigen Anwaltsstande zu verdanken ist.
Ich komme damit zu einem Punkte, der nicht von geringer Wichtigkeit ist, der aber meines Wissens in der Justizcommijston nicht geltend gemacht wurde, nämlich zu der leichten oder weniger leichten Möglichkeit für das Publikum, sich rechtlichen Rath zu holen. Sind unsere Anwälte auf 4—5 Sitze im Lande beschränkt und concentrirt, so ist die mündliche Cousultation häufig mit unverhältnißmäßigen Kosten und Zeitaufwand verbunden, blos schriftliche Berathung ist in sehr vielen Fällen nicht ausreichend; damit ist aber dem kaum einigermaßen beseitigten Treiben der Winkeladvokaten wieder der freieste Spielraum gegeben; die Gerichte würden die Folgen so bald als irgend sonst Jemand empfinden!
Zum Schlüsse Hube ich noch geltend zu machen, daß die doch in mancher leichteren Strafsache gewünschte Vertheidigung einfacher und wohlfeiler durch euren am Sitze des belr. Amtsgerichtes ansässigen Anwalt geführt wird als durch einen von uuSwärrs herber geholten.
Indem ich erwähne, daß der Württemberg. Regierungs- Vertreter, Herr Ministerialrath Heß, noch keine feste Stellung zu vorliegender Frage einnehme» zn können erklärte und daher seiner Negierung Alles vordehielt, schließe ich mit dem Wunsche, den mir das eigene Interesse wie das des Publikums eingicbt, daß von unserem Handels- und Gewerbestande rechtzeitig Schritte geschehen, um einer zu weit gehenden Lokalisirung der Anwälte entgegen zu treten und daß diese Schritte von Erfolg sein möchten.
Evangelische Brüder- und Kinderanstall „Karls- Höhe" bei Ludwigsbnrg.
Wer von Stuttgart mit der Eisenbahn nach Ludwigsburg fährt, bemerkt in der Nähe der Station Kornwestheim eine Kolonie frisch erbauter Häuser und Häuschen. Man fragt sich unwillkürlich: was soll da werden? und wir sind bereit, eingehendere Auskunft hierüber zu ertheilen.
Es ist die Verkörperung eines reformatorifchen Gedankens auf dem Gebiete des Armen- und Erziehungs-Wesens, auf dem Gebiete der inneren Mission; eines Gedankens, dessen Verwirklichung von großer Tragweite für die Verbesserung unseres Volks» wohles sein dürfte.
Wer der hereinbrechenden Entsittlichung wirksam entgegen arbeiten will, der muß sein Augemerk auf das nachwachsende Geschlecht richten. Dieses gegen die Einflüsse des Verderbens zu schützen, ist wohl das wirksamste Mittel im Kampfe mit den Folgen der Gottlosigkeit: der maßlosen Genußsucht, Selbstsucht, Rücksichtslosigkeit gegen andere rc. Wer daher das Reich Gottes fördern helfen will, der setze hier seine Kraft ein; es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.
In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts galt Württemberg auf dem Gebiete der Fürsorge für verwahrloste Kinder als ein leuchtendes Beispiel, denn kein anderes Land hat so viel Kindcr- Rettnngsanstalten aufzuweisen. Jetzt könnten wir von Nord» deutschland bald überflügelt werden. Die Kraft, welche dort der guten Sache seit mehr als 40 Jahren in der Person des vr, Wichern im Rauhen Hause erwuchs, hat Erstaunliches in dieser Zeit geleistet. — Mit dem Gedanken der Zertheilung der Mafien und der Annäherung an die Familienerziehung durch Abtherlung der Kinder in kleinere Gruppen mit abgesonderten Wohnräumen unter der Leitung eigener Familienhäupter bewirkte er eine neue Epoche in der Erziehungsweise dieser Rettungsanstalten, welche in Norddeutschland fruchtbar angebcutet, in Süddeutfchland aber lange Zeit unbeachtet gelassen wurde. Die natürliche Folge davon