Verwirklichung dieser Zusagen hintanhält, nicht schließlich die Pforte selbst hinwegsegt.
Graf Andrassy wird jetzt von seinen Landsleuten im Stiche gelassen. Seine intimsten Anhänger in Pest werden von ihrem Unmuthe über die Wendung der Dinge fortgerissen und Hallen mit ihrer zuweilen sehr herben Kritik der Andr a ssy' s ch ejn OrientPolitik nicht mehr zurück. Als besonders interessant verdient hervorgehoben zu werden, daß die Magyaren plötzlich mit seltener Einmüthigkeit eine neue Politik Vorschlägen. Engster, unbedingtester Anschluß a» Deutschland, nicht aber auch an Rußland, lautet die Parole, und sogar der hochosstciöse „Hon" gab gestern zu verstehen, daß Andrassy auf diese Weise seine jetzt grollenden Freunde wieder aussöhuen könnte. In diesem Verlangen offenbart sich das alte Mißtrauen gegen Rußland, aber auch das geringe Zutrauen zu England, das man eine Weile als den „natürlichen Alliirten" Oesterreichs in der Orient-Frage hinstellte, und endlich offenbart sich darin die Erkenntniß, daß Oesterreich nur im Verein mit dem deutschen Reich den unausbleiblichen Stürmen ruhiger entgegensehen könnte.
Wien, 1. Juli. Die Pforte richtete eine Eircularnote an sämmtliche Mächte, worin sie die Verantwortung für den Krieg auf Serbien wälzt und den Fürsten Milan als Rebell seiner Fürstenwürde für verlustig erklärt. (Fr. I.)
Die Bewegung in Süd Ungarn erweist sich in der That als sehr besorgnißerregend. Verhaftungen von konspirationsverdächtigen Personen, Waffen- und Munitions-Konfiskalionen rc. sind an der Tagesordnung. In Großkikiuda, Becskerek und vielen anderen Orten hat man bereits die Garnisionen verstärkt, oder überhaupt Truppen dahin abgesendet. Desgleichen werden beträchtliche Streitkräste, und zwar nur von der gemeinsamen Armee, an die Grenzen dirigirt. Ueberaus bezeichnend ist das Verlangen der Ungarn, man solle das Commando über diese Truppen nur „unparteiischen" Generälen übergeben, denn „nicht alle" Generäle der gemeinsamen Armee seien unparteiisch. Auch das ist ein Zeichen der außerordentlichen Erregung der Magyaren.
Belgrad, 30. Juni. Sicherem Vernehmen nach ist das Ultimatum an die türkische Regierung vorgestern nach Com stantinopel abgegangen und dürfte morgen oder übermorgen überreicht werden.
Paris, 30. Juni. Die Gemahlin des Marschalls MacMahonhat dem deutschen Botschafter Fürst Hohenlohe die Summe von 2b,000 Fr. für die durch Ueberschwemmung geschädigten Bewohner des Elsaßes übersendet; dieselbe hat auch den auf gleiche Weise Geschädigten in der Schweiz eine Unterstützung zugewendet. (R. T.)
In Pariser diplomatischen Kreisen will man von einer in den letzten Tagen eingetretenen starken Erkältung der östreichisch- russischen Beziehungen, sogar von einer ziemlichen Verstimmung wissen.
Ein Privattelegramm aus Paris meldet uns, die russische Regierung habe seit einigen Tagen durch einen Spezial-Agenten die höhere Finanzwelt von Paris über ihre Geneigtheit sondiren lassen, ein neues russisches Anlehen zu übernehmen. Diese Anträge seien jedoch wegen des schlechten Zustandes der russischen Finanzen und des wesentlich politischen Charakters der Operation vorläufig erfolglos geblieben. (Berl. T.)
Unser Pariser Spezialberichterstatter meldet uns telegraphisch vom 28. Juni: „Der Herzog Decazes sandte ganz kürzlich dem französischen Botschafter in Konftantinopel, Herrn de Bourgoing Instruktionen, welche denselben anweisen, gemeinsam mit dem deutschen Botschafter, auf einer strengeren Bestrafung der hohen türkischen Beamten zu bestehen, welche sich durch ihren Mange! an Energie gelegentlich der Mordthaten von Salonichi kompromittirl haben." Diese Jnstruktionsdepesche des französischen Ministers des Aeußern ist schon deshalb bemer- kenswerth, weil sie zum ersten Male seit 1870—71 eine gemeinsame diplomatische Aktion Deutschlands und Frankreichs gewissermaßen aktenmäßig konstatirt. (Berl. T.)
Petersburg, 30. Juni. Gegenüber wiederholten an- zweiselnden Meldungen hinsichtlich des Zusammentreffens der Kaiser von Rußland und Oesterreich wird hier versichert, es stehe fest, daß die Zusammenkunft stattsinde, wie schon aus den an die amtlichen und Hofkreise ergangenen Anordnungen ergehe. — In Belgrad ist auf direkten Befehl des Kaisers seitens des dortigen russischen Vertreters bis zuletzt Alles aufgeboten worden, um den Fürsten vom Ueberschreiten der türkischen Grenze abzuhalten. Der Fürst erklärte jedoch, er könne, von der Bevölkerung gedrängt, dem Vorgehen der Türken in Bosnien und den Verletzungen der serbischen Grenze nicht ruhig zusehen; er glaube, daß, wen» der früher vcntilirte Vorschlag, ihn, bei voller Wahrung der Souoeränetät des Sultans, zum Vicekönig von Bosnien zu ernennen, von der Pforte angenommen worden wäre, die Bewegung und die Unsicherheit der Verhältnisse aufgchört hätte; die Pforte wolle aber keine Unterhandlung mit Serbien, deshalb müsse er der Stimmung des Landes Gehör geben und dasselbe schützen.
Russische Journale erhalten Telegramme, welche detaillirt
die Schandthaten aufzählen, welche die Baschibozuks und Circasster gegen die Bulgarier verübten. Hundertundsünszig Dörfer sind eingeäschert, in Tausenden von Familien die Frauen entehrt und zu Sklaven gemacht und 2000 Priester und Lehrer gefangen und niedergemetzelt. Trostlosigkeit und Verzweiflung herrscht im ganzen Sandjak. Das klingt freilich ein wenig stark aufgetragen, — aber nach anderen Beispielen ist wohl mindestens die Hälfte davon zu glauben.
Basel, 1. Juli. Die „Basler Nachrichten" melden, daß heute Mittag in Bern der russische Revolutionär Bakum» gestorben ist.
Nach einem Londoner Telegramm der Post verbreitet sich das Gerücht, daß die Pforte definitiv in eine Gebietsabtretung an Montenegro gewilligt habe, wogegen Fürst Nikita versprochen hätte, seine Truppen zurückzuziehen und die strengste Neutralität zu beobachten. Ungeschickt wäre dies sicher nicht gehandelt. (B. T.)
Athen. 1. Juli. Der Friedenspolitik getreu verhaftete die Regierung an der Grenze Individuen, welche die türkischen Provinzen aufwiegeln und hierorts Leute anwerben wollten.
Rustschuk, 2l. Juni. Von Insurgenten erging an die Notabeln der hiesigen bulgarischen Bevölkerung die schriftliche Aufforderung, sich an dem Ausstande wenigstens mit Geldunterstützung zu betheiligen, mit der Drohung, daß man sich im Weigerungsfälle schon würde zu finden wissen, um blutige Rache an ihnen zu nehmen. — In der Stadt herrscht musterhafte Ordnung, doch „hangen und bangen" wir noch immer „in schwebender Pein."
Die Streitmacht, welche die Pforte zum sofortigen Kampfe gegen Serbien disponibel hat, wird von türkischer Seite auf 200,000 Mann angegeben. Man hält dies für übertrieben, glaubt jedoch, daß die Zahl der an der serbischen Grenze zusammengezogenen Truppen immerhin 120,000 bis 140,000 Mann betragen dürfte. Die Ausrüstung der serbischen Armee gilt für mangelhaft, obwohl umfassende Ankäufe von Waffen und EquipirungS» gegenstände im Auslande stattgefnnden haben. Auch von den im Krieg 1870,71 erbeuteten Gewehren hat die serbische Regierung aus den Waffendepots i» Berlin nicht unbedeutende Vor- rälhe gekauft. Obwohl das Wiener Kabinet verbot, daß diese in Berlin gekauften Waffen über östreichifches Gebiet nach Serbien spedirl würden, haben dieselben dennoch ihr Ziel erreicht.
Ob es bei dem serbisch-türkischen Krieg oder bei dem Krieg der Vasallenstaaten gegen die Pforte bleiben werde, ist die Frage, welche jetzt die europäische Diplomatie beschäftigt und sie in fieberhafter Thätigkeit erhält. Ein Wiener Korrespondent der „Allg. Z." möchte diese Frage nicht unbedingt bejahen, „denn", sagt er, „es gibt wohlinformirte Kreise, in welchen man schon jetzt offen von der Eventualität eines englisch-russischen Kriegs spricht und die Hast, mit welcher die englischen Seeiüstungen dem neuesten Telegramm zufolge betrieben werden, unterstützt diese Auffassung. Man wird fragen: wie sich Angesichts dieser Rüstungen die verbürgte Mittheilung erkläre, daß England sich verpflichtet habe, im Orient nicht zu interveniren? Die Antwort hierauf lautet: daß England hiedurch Rußland zu der Nichtinterventionspolitik, welche alle übrigen Mächte seit dem Fallenlassen des Berliner Memorandums acceptirt haben, heranziehen wollte. Rußland hat indessen eine ähnliche Erklärung bisher nicht abgegeben, und die mannigfachen Gerüchte über die Unterstützung Serbiens durch Rußland würden auch einer solchen Erklärung widersprechen. England läßt sich mithin in seinen Seerüstungen nicht stören, und der Fall ist durchaus nicht unmöglich, daß sich aus diesen beiderseitigen Vorkehrungen eine bedenkliche englisch-russische Abrüstungs-Kontroverse entwickeln könnte."
Die Abreise des Fürsten Milan ins Hauptquartier ist nicht ohne Unfall abgegangen. Nach Beendigung der Messe bestiegen der Fürst und die Fürstin ihren Wagen, um zum Hafen zu fahren. Auf dem Wege dahin scheuten plötzlich die Pferde, gingen durch und konnten nur mit Mühe gebändigt werden. Vorher war der Fürst abgesprungen und seinen Bemühungen gelang es, die Fürstin, die hochschwanger ist, in Sicherheit zn bringen. Im Hafen hielt der Fürst vor den aufgestellte» Truppen, er berührte die Fahne und küßte sie und sprach die Soldaten als Brüder an, in deren Obhut er seine Hauptstadt lasse, da er selbst vor den Feind gehe, der die Landesgrenzen bedrohe. Dana schiffte er sich, von Glockenläuten, Kanonendonner und Abschiedsrufen begleitet ein. Für die abergläubischen Serben ist dieser Unfall allerdings kein gutes Omen.
In Konstantinopel war man auf den Krieg mit Serbien gefaßt und wird die nöthigen Vorkehrungen getroffen haben , so weit es eben die Lage gestattete. Die trüben und besorgnißer« regenden Berichte aus der türkischen Hauptstadt dauern an; in denselben herrscht absolute Entmuthigung, nirgends die Hoffnung auf Herstellung normalischer Verhältnisse. Der Tag der Investitur des Sultans oder der sogenannten Cercmonie der Schwertum» gürtung ist noch immer offiziell nicht festgesetzt. Diese Verzögerung hängt mit der brennenden Verfassungsfrage eng zusammen. Die Eeremonie der Schwertumgürtung vertritt nemlich in der Türkei die Stelle der Krönung oder Salbung des PadischahS.