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Berlin, 1. Mai. Der Reichstag hatte heute bei der üblichen dürftigen Besetzung eine lange und recht ergebnisreiche Sitzung. Zunächst wurde die Beratung der Zolltarifvorlage fortgesetzt und eine Reihe noch rückständiger Positionen erledigt. Der vom Abg. v. Fischer u. a. gestellte Antrag auf Erhöhung des Zolls für gepreßte Hornknöpfe wurde einstweilen zurückgezogen, nachdem ein Vertreter der Regierung eine entgegen­kommende Erklärung abzugeben und eine nähere Untersuchung der Sachlage in Aussicht gestellt hatte. Der Antrag auf Herabsetzung des Zolles für hartes Glanzgarn wurde angenommen, der Antrag auf Erhöhung des LederzoIls zurückgezogen und dafür eine Resolution beantragt, wo­rin der Reichskanzler zur Prüfung der Frage einer anderweitigen Feststellung der Zölle für Leder und Lederwaren aufgefordert wird. Ueber die Resolu­tion wird in dritter Lesung abgestimmt werden. Schließlich wurde konsta­tiert, daß der Abg. Merbach seinen Antrag auf Einführung eines Kohlen­zolls zurückgezogen hat. Dann folgte die Beratung kleinerer Vorlagen, die eine erhebliche Debatte nicht hervorriefen. Der Gesetzentwurf betr. die Abänderung des Zollvereinigungsvertrags in den auf die Erhebung von städtischen Oktrois bezüglichen Bestimmungen wurde an eine Kommission verwiesen, der Gesetzentwurf betreffend den Schutz des zur Anfertigung von Reichskassenscheinen verwendeten Papiers wurde in zweiter Lesung angenommen; der Gesetzentwurf, welcher die Gültigkeit des Zucker st euervergütungsgesetzes um ein weiteres Jahr hinausschiebt, wurde in erster Lesung erledigt und Kommissions­beratung nicht beschlossen. Den Schluß bildete die zweite Lesung des Gesetz­entwurfs über Ausdehnung der Unfallversicherung auf das Trans­portgewerbe. Der sozialdemokratische Abg. Kayser beantragte die Heran­ziehung auch der Feuerwehrleute, Straßenkehrer und ähnlicher Arbeiterkate­gorien im Kommunaldienst. Der Antrag wurde abgelehnt, nachdem den sozialdemokratischen Abgeordneten vorgehalten war, daß ihr Vertreter in den wichtigsten Kommissionssitzungen gefehlt habe, und daß sie auch sonst ihre parlamentarischen Pflichten sehr leicht nehmen. Es entstand darüber eine sehr gereizte Auseinandersetzung. Der Gesetzentwurf wurde in allen wesent­lichen Punkten nach den Kommissionvorschlägen angenommen.

Es ist eine neue Begegnung der drei Kaiser von Oesterreich, Rußland und Deutschland in Sicht. Wenigstens wollen öster­reichische und ungarische Blätter wissen, daß Kaiser Alexander den Kaiser Franz Joseph in Ischl besuchen und unser Kaiser dann von Gastein, wo er im August zu weilen pflegt, ebenfalls nach Ischl kommen werde. Als Tag soll der 9. August in Aussicht genommen sein. Ob's wahr ist, was die Ungarn und Oesterreicher berichten, wissen wir nicht, es ist auch noch sehr lang bis dahin und deshalb wollen wir uns vor der Hand noch nicht beun­ruhigen.

Die Allarm-Nachricht, daß der russische Kaiser sich zur Kriegserklärung nach Moskau begeben werde, hat doch einen reellen Hintergrund. Seit mehreren Tagen, heißt es in Berichten aus St. Peters­burg, steht ein Zug bereit, um den Kaiser von seinem Schloß Gatschina nach Moskau zu bringen, wo, wie dies üblich ist, der Kaiser den aus dem Kreml versammelten Ständen den Ausbruch des Krieges verkünden würde, wenn die Lage einen anderen Ausweg nicht mehr gestattete. Der Kaiser soll den Ausspruch gethan haben, er wünsche aufrichtig, daß der Krieg verhindert werde, doch wenn dies unmöglich sei, werde er für die Ehre Rußlands und der russischen Armee mannhaft eintreten. Das ist ja merkwürdigerweise auch der Grundgedanke in der Rede Mr. Gladstone's; auch der englische Minister will erst dann losschlagen, wenn er gar keinen anderen Ausweg

mehr steht! Es wäre dann doch wunderbar, wenn bei so viel gutem Willen auf beiden Seiten der Frieden doch nicht erhalten werden könnte I

Frankreich.

Die französische Regierung spielt Kehraus mit den fremden S o - zialisten. Soeben sind ihrer wieder 4 über die schweizer Grenze mar­schiert und weitere 25 sollen folgen. Aber auch die Schweiz geht in letzter Zeit nicht mehr all zu glimpflich mit den Herren Anhängern von Most um, auch dortschiebt man sie ab". Wenn diese Herren doch endlich einmal irgendwo einenMusterstaat" gründen wollten! Afrika ist ja groß!

England.

Die Königin von England, die bis jetzt in Darmstadt verweilte, ist in England wieder eingetroffen und macht, wie man sich erzählt, ihren ganzen Einfluß für die Erhaltung des Friedens geltend. In Deutsch­land thue ihre Tochter, die Kronprinzessin, dasselbe, denn es seien außer den politischen Interessen auch noch Familienrücksichten in Frage. Der Herzog und die Herzogin von Edinburg stände nämlich auf russischer Seite und würden, ' falls es zum Krieg kommen sollte, sofort noch Deutschland abreisen, so daß ein Bruch in der englischen Königsfamilie entstehen würde. Die Sache klingt etwas unglaublich, aber Notiz mag immerhin davon genommen werden.

London, 1. Mai. Das Geschworenengericht in Ipswich hat die Smaksbesitzer Chalk, Ruß und Preston wegen Beraubung des deut­schen SchiffesDietri ch" der Seeräuberei, ferner Prowse, Chap- ham, Timmeson, Hughes undJarvis wegen Beraubung des deutschen SchiffesA n n a" des einfachen Diebstahls für schuldig befun­den. Das Schwurgericht verurteilte 3 der angeklagten Seeleute zu 12, 5 zu 9 Monaten Zwangsarbeit. Der Richter drohte im Wiederholungsfälle mit Zuchthausstrafe.

Hcrges-Weuigkeiten.

Von der K. Regierung des Neckarkreises wurde unterm 1. d. M. der geprüfte Verwaltungskandidat August Fischer von Grunbach, OA. Schorndorf derzeit Revisionsassistent beim K. Oberamt Calw zum Schultheißen der Gemeinde Auen st ein, OA. Marbach, ernannt.

Herrenberg, 1. Mai. Bei der heutigen Musterung stellte sich vor der Ersatzkommission ein Rekrut aus dem benachbarten Gärtringen, welcher von seiner Mutter auf dem Arme getragen wurde; derselbe ist 93 Zentimeter groß und wiegt 22 Vr Kilo. Infolge des verhältnismäßig großen Kopfes kann der Rekrut nur gehen, wenn er dabei unterstützt wird.

Stuttgart, 30. April. Wie man aus Nizza erfährt, ist Ihre Majestät die Königin am 29. d. M. in Begleitung der Staatsdame Baronin v. Massenbach und des Ersten Kammerherrn Freiherrn v. Reischach von dort abgereist, um sich zunächst nach Paris zu begeben. Höchstdieselbe wird nach kurzem Aufenthalt daselbst hieher zurückkehren und auf der Villa bei Berg Wohnung nehmen. Die Abreise Seiner Majestät des Königs ist auf Montag den 4. Mai bestimmt. Höchstderselbe gedenkt zunächst einen Uebergangsaufenthalt in Stresa am Lago Maggiore zu nehmen, um gegen Pfingsten nach Stuttgart zurückzukehren. Die Gesundheitsverhält- niffe beider Majestäten sind auch in der letzten Zeit befriedigend gewesen, Obwohl der Eintritt der warmen Jahreszeit sich länger verzögerte, so hat doch der König während des ganzen Winters weniger als früher von Ka­tarrhen und Atmungsbeschwerden zu leiden gehabt und ist von fieberhaften Erscheinungen ganz frei geblieben. Nur in den neuralgischen Schmerzen am Bein ist eine wesentliche Besserung nicht eingetreten und bedarf Höchstderselbe deshalb noch der Schonung.

als einmal hatte sie, hingerissen durch die Leidenschaftlichkeit ihres Charakters, in Blick und Miene den Verdruß verraten, den sie empfand, wenn in ihrer Gegenwart Leo anderen Damen eine zu auffällige und etwas lang andauernde Aufmerksamkeit schenkte; öfter als einmal auch zeugte ihr Mienenspiel von mehr als einem bloßen Triumphe geschmeichelter Eitelkeit, wenn sie über die anderen Damen den Sieg davontrug und Leo ausschließlich in der Gesellschaft an sich zu fesseln verstanden hatte; mehr aber noch, als im großem gesell­schaftlichen Leben hatte Lucienne im häuslichen Verkehr dem Grafen einen Blick in ihr Herz gestattet, und derselbe hatte klarer darin gelesen, als sie selbst vielleicht. Kalt, gleichgültig und rücksichtslos in Leo's Abwesenheit nahm sie nur oberflächlich und zerstreut an den Freuden wie an den Pflichten des Hauses Teil; an langen Winterabenden hatte sie stundenlang schweigsam, unthätig, in Träumereien versunken in einem Fauteuil gesessen und kaum einige kurze Antworten auf die direkt an sie gerichteten Fragen gefunden, sonst aber der Unterhaltung gar keine Beachtung geschenkt; oftmals hatte sie längst vor der Stunde des Schlafengehens sich schon auf ihr Zimmer zurück­gezogen, um dort in der Einsamkeit ihren Gedanken nachhängen zu können. Wenn hingegen Leo den Familienabenden beiwohnte, so schüttelte sie plötzlich und ohne Anstrengung ihre gewöhnliche Kälte und Langeweile ab; dann war gerade sie es, die mit ihrer Schlagfertigkeit und ihrer gewandten und an­genehmen Unterhaltung dem Familienherd Reiz und Leben gab; dann bedurfte es keiner langen Bitten, um sie zu veranlassen, daß sie Platz am Klavier nahm und mit künstlerischer Vollendung eine Beethoven'sche Sonate vortrug. Der Blick Leo's genügte, um ihr Leben einzuhauchen und all die reichen Vorzüge zu wecken, die die Natur ihrem Geiste verliehen hatte.

Nicht mit einer gleichen Wärme traten bei Leo diese Anzeichen einer erwiderungsbedürftigen Liebe zum Vorschein. Er hattte für seine Base alle jene Aufmerksamkeiten, die einen Teil der Bildung des Weltmannes ausmachen. Er genoß mit aufrichtigem Vergnügen ihre Unterhaltung, die stets geistreich, oftmals leidenschaftlich bis zur Begeisterung mar; er bewunderte unverhohlen, ihre Schönheit und ihre Talente; aber diese Bewunderung ging doch nicht so weit, daß er sich vereinsamt gefühlt hätte, wenn Lucienne nicht in seiner Nähe war. Der welterfahrene Vater machte sich kein Hehl über diese Lau­heit der Gefühle Leo's; aber er beschwichtigte sich selbst damit, daß er sich sagte, Lucienne solle ja nicht die Geliebte, sondern die Frau seines Sohnes

werden, und nach seinen versumpften Ansichten über das Eheleben war nicht die Liebe der zukünftigen Gatten, sondern nur die gegenseitige Achtung der­selben die Grundlage eines glücklichen Hausstandes. Er schmeichelte sich mit der Hoffnung, daß Leo diesem Grundsätze gleichfalls huldigen würde, und diese Hoffnung glaubte er dadurch bestätigt, daß Leo auf seine nochmaligen Andeutungen über sein Heiratsprojekt eine Art stummer Einwilligung zu er­kennen gegeben hatte. Und nun sollte er in solch' unerwartet jäher Weise in der entscheidenden Stunde diese so teuer gehegte Hoffnung schwinden sehen! Nicht die schülerhafte Liebe Leo's, wie er es nannte, von der sein Kammer­diener ihm eine Andeutung gemacht, flößte dem Grafen Sorge ein; denn er hielt es für unmöglich, daß Leo einer vorübergehenden Liebschaft, und wäre sie eine Leidenschaft, die Convenienzen opfern würde; was er fürchtete, war der in Aussicht stehende Ausbruch von Eifersucht und Zorn bei Lucienne, die, wie er argwöhnte, um diese Liebschaft ihres Vetters wußte. Nach seiner unerschütterlichen Ansicht hatte die Scene zwischen ihm und seinem Mündel keine andere Ursache gehabt; es war nicht unwahrscheinlich, daß eine vielleicht noch heftigere Scene zwischen Lucienne und Leo zum Ausbruch kommen und einen unheilbaren Riß zur Folge haben würde. Eine derartige Katastrophe mußte um allen Preis beschworen werden; er mußte Leo den Verführungen der unbekannten Circe entreißen, um derentwillen derselbe seine ernsteren Ver­pflichtungen aus den Augen verloren hatte; er mußte ihn unverzüglich zu den Füßen Luciennes zurückführen und ihn heute noch die Vergebung derselben erbitten lassen, die zu erlangen es morgen vielleicht zu spät sein würde. Er wollte die Ausführung dieser Absicht nicht länger verschieben, und er beeilte sich, seine Toilette zu vollenden, um Leo in seiner Wohnung auszusuchen. Eben als er das Zimmer verlassen wollte, trat sein Kammerdiener ein und meldete ihm, daß Graf Leo in Begleitung eines fremden Herrn ihm seine Aufwartung zu machen wünsche. Sofort gab er Befehl, die beiden Besucher in sein Kadinet zu führen, und bei ihrem Eintritt that er einige Schritte denselben entgegen, um Leo zu begrüßen; aber beim Anblicke des ernsten und strengen Antlitzes des Fremden blieb er plötzlich stehen und erwartete schweigend, daß sein Sohn ihm denselben vorstellte.

(Fortsetzung folgt.)