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zet, daß bald nicht mehr viele fehlen werden, die es nicht gehöret haben zu einem Zeugniß über sie. Das ist die^ Zeit, auf welche unser Herr und Heiland weissagend deu­tele, als Er (Matth. 24, 14.) sprach: Und es wird ge- prediget werten das Evangelium vvm Reich ui der gan­zen Welt, zu einem Zeuginß über alle Völker; und dann wird das Ende kommen. So ciubalr nun, vor diesem großen Ereignisse, bre Summe des Engels eine dreifache Warnung an diese große Zeit, zu welcher unsere gegen­wärtige Zeit nut gebärt. Die Stimme ruft:

1) Fürchtet Gvtt! Gewiß soll diese Warnung weit und breit gebärt weiden, gew.ß auch in der Christen heit unserer Zen, von welcher ja das ewige Evangelium getragen werden svll >n alle nun offene Welt. Gewiß ist auch die Warnung eine sebr nölbige. Denn wer weiß nicht, wie sehr die Gottesfurcht in allen Ständen, sonder­lich aber in een uniern Schichten der Völker seit 70100 Jahren von Oben herunter abgenommen hat? Wo hat man je früher die Gottesfurcht nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch so verläugnen und verachten gehört, wie man fezt sicher und höret, also daß man eS nicht nur mündlich hören, sondern auch schriftlich lesen kann, die Gottesfurcht sey etwas Unwürdiges für einen aufgeklärten Menschen, für ein aufgeklärtes Volk. Und solche unwis­sende, flache, leichtsinnige Geschwätze finden Glauben und Eingang!

Wenn der Apostel die Menschen und Völker, wie sie, ohne die heilsame Gnade Gottes und sich selbst überlassen, dem liefern Blicke sich zeigen, in starken, gewaltigen, aber lreucnZügeii schildert, so schließet er seine treffende Zeich­nung mit den Worten: Es ift keine Furcht Gvttcs Vvr ihren Ange». Die schauerliche Wahrheit dieser apostolischen Zeichnung, welche man (Rom. Z, 1018.) im Zusammenhänge betrachten wolle, stellt sich besonders auffallend in solchen Zeilen heraus, wo der obrigkeitliche Zaun, Leu Gott um die Völker hcrgezogen hat, plötzlich, wie so oft in unfern Tagen, durchbrochen und zerrissen wird, und dann das menschliche, in den Herzen wohnende Verderben, lange Zeit nur durch Furcht vor obrigkeitlicher Strafgewalt zurückgedrängt, auf einmal unaufhaltsam, wie das Feuer aus einem feuerspeienden Berge, sich verhee­rend und erschütternd herausdrängt. Da hört die Men- schcnfurcht dann bei Tausenden gänzlich auf; da offenba­ret es sich, wie wenig Gottesfurcht vor ihren Augen ist, und zu welchen Sünden und Verbrechen sie dann fähig sind.

Ja, ein Mensch ohne Gottesfurcht ist zu allem Bö­sen fähig, wenn ibn weder Menschengefälligkeit, noch Ei­gennutz, noch Menschenfurcht mehr zurückhält. Wie unzu­länglich ist aber diese! In wie viele Winkel schaut kein mcuschltches Auge; wie viele verborgene Sünden erreicht kein menschlicher Arm; wie viel unentkeckteS Böses straft keine menschliche Obrigkeit! In solcher Verborgenheit vor menschlichen Augen und Händen kann nur die Gottesfurcht, die Furcht Gottes, des Unsichtbaren, Alles Sehenden, des überall Gegenwärtigen, des Alles Richtenden, ein Men­schenherz oft allein noch von Sünden zurückhalten.

Gottesfurcht und Gottseligkeit ist das, was wir mit dem fremden, ausländischen Worte Religion oder Reli­giosität benennen. Es gibt aber zweierlei Gottesfurcht. Ich sage Gottesfurcht, nicht Götzenfurcht; denn- furcht ist so wenig Gottesfurcht, so wenig ein Götze Gott selber ist. Die wahre Gottesfurcht ist nämlich theils eine gesetzliche, theils eine evangelische, je nachdem der

Mensch unter dem Gesetze oder unter der Gnade Gottes steht. Beiderlei Gottesfurcht kann nur der Menschen start­finden, die an den lebendigen Gott glauben, und in de­ren Herzen Gott noch nicht, wie bei gewissen Leuten, zu einem bloßen Begriff zusammengeschrumpft ist ohne Leben, obnc Erkenmniß und Gefühl.

Die gesetzliche Gottesfurcht kommt aus dem Glauben an daS Gesetz Gottes und an seine heilige oberstrichter- liche und richtende Gerechtigkeit, wie sie Gott in seinem Worte, in unserm Gewissen und in der Geschichte offen­baret, und ist also eine Wirkung des Glaubens an diese dreifache Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. Daher kann sie Gott nicht mißfällig seyn; denn seine Augen schauen »ach dem Glauben. Ja, schon die gesetzliche Gottesfurcht ist der Weisheit Anfang; denn die Furcht des Herrn has­set das Arge, und durch die Furcht dcS Herrn meidet man das Böse. (Spr. 8, 13. K. 16, 6.) Die evange­lische Gottesfurcht aber kommt aus dem Glauben an die sündenvergebende, auch den Gottlosen gerecht machende Gnade Gvttcs, des Erlösers, (Nöm. 4, 5.) und ist mit einer dankbaren Liebe gegen die heilige Person des im Fleische geoffenbarien Gottes verbunden, welche nicht nur antreibet, daS Böse zu meiden, sondern auch willig macht das Gute zu tbun, und ist also eine Wirkung der selig machenden Gotteskrafl des Evangeliums. Wenn die ge­setzliche Gottesfurcht mehr den Richter, der aller Welt Richter ist, vor Augen bat, so hat die evangelische Got­tesfurcht mehr den Erlöser, der die Versühnung für der ganzen Welt Sünde ist, vor Augen. Jene ist mehr der Charakter eines Knechtes, diese mehr daS Unterscheidende eines Kindes Gottes. Wo daher weder Lin Glaube an den göttlichen Richter, noch ein Glaube an den göttlichen Erlöser ist, da ist auch keine Gottesfurcht, und wo diese verschwindet, da werden alle heiligen Bande, .lne ein Men­schenherz mit dem lebendigen Gott verbinden, und dadurch auch die heiligen Bande, welche Menschen mit Menschen verbinden, immer lockerer, loser, zerrissener, und Gottlo­sigkeit, GotreSoergessenbeit und Gottesverachtung reißet immer tiefer ein. Findet dieses Losreißen bei den Obe­ren statt, so verlieren sie ihren geistigen Halt, geraihen ins Schwanken, Straucheln und Fallen, und so wie die­ses die Untergebenen merken, so wird es auch Unten bei ihnen loS, daß sie nicht mehr gehorchen wollen, sondern abfallen, sich empören, und eben so wie die Oberen ihren geistigen Halt verlieren. Ist nun oben kein Halt mehr und unten kein Halt, so wird zulezr alles geordnete Re­gieren unmöglich; alle gesellschafiliche Ordnung und Un­terordnung gerathet in Verwirrung, die Anarchie reißet ein, die Verwesung beginnt, und die Gesellschaft wird ein Aas, um das sich die Adler sammeln.

So ist die wahre Gottesfurcht die unsichtbare erkal­tende Kraft, ohne welche keine Haushaltung, keine Ge­meinde, kein Staat, kein Reich in die Länge bestehen kann. Wo sie fehlt, da wird jedes Haus, jede Gemeinde, jeder Staat und jedes Reich mit sich selbst uneins, und wo Ließ geschieht, da mag es nicht bestehen; wo sie fehlt, da kann sie auch durch keine materielle Mittel ersezt werden; da ist der stärkste, physische Zwang nicht mehr hinreichend, den einreißenoen Strom des Verderbens aufzuhallen. Es ist auch eine ganz falsche Berechnung, wenn man denket, es sey genugsam, wenn nur bei den Untergebenen Got­tesfurcht erhalten werde, mögen die Oberen noch so got­tesvergessen seyn. Nein! Wenn es oben loS wird, so