8. Leite — Ar. 8
Ragolder Tagblatt „Der Gesellschafter"
Samstag, den 7. Januar 1939
wenn ein Unbefugter in die Münze eindringen will. Gleichzeitig füllen sich die Räume mit Tränengas. Eine kleine Armee von Wachbeamten dient als weitere unüberwindliche Sicherung. In diesen Tagen wurde in die Münze eingebrochen und zwar nicht von Verbrechern, sondern von zwei Kindern. Sie stiegen eine Dachrinne hinauf und kletterten in das Fenster hinein. Im Flur sahen sie einen der vielen Wächter, der eine Zeitung las und die kleinen Einbrecher unbemerkt vorübergehen lieh. Zum Beweis, daß ihnen der Einbruch gelungen war, warfen sie eine Kupferplatte aus dem Fenster in den Hof hinaus. Dann bemerkten die „technischen Wächter", die Alarmanlagen, diesen Einbruch und setzten Klingeln und Sirenen in Tätigkeit. Alsbald sahen sich die beiden Jungens einem Kranz von Revolvern gegenüber. Dem Untersuchungsrichter, der die „Einbrecher" übrigens wieder laufen lieh, erklärten sie: „Wir wollten bloß mal sehen, ob diese Festung wirklich uneinnehmbar ist."
Mit 35 Jahren 15 Kinder
Eine französische Mutter aus Eu an der unteren Seine hat in diesen Tagen einem männlichen Zwillingspaar, und damit ihrem 14. und IS. Kind das Leben geschenkt. Die Mutter zählt erst 35 Jahre. Im nächsten Jahre soll sie für den von der Aca- demie Francaise alljährlich verteilten Pris Cognacq, den Preis für die kinderreichste Familie Frankreichs vorgeschlagen werden.
Ein Koffer wird gepackt
Kleiner Modenvrief zur Wintersportreise
DV, Nun ist es also wirklich und wahrhaftig so weit! Der Lag, auf den wir uns seit Heiligabend so unbändig freuen, auf den wir warten, seit wir auf dem Gabentisch unter all den anderen bunten Sachen auch einen höchst unscheinbar aussehenden Zettel entdeckten, auf dem nichts stand als die inhaltsschweren Worte: „Eine Wintersportreis e", dieser Tag ist jetzt zum Greifen nahe herangekommen. Unser Herz schlägt einen lauten Trommelwirbel vor Begeisterung, wenn wir daran denken, daß wir übermorgen schon mitten drin sein werden in Bergen und Schnee, in Wintereinsamkeit und Vaudenfröhlichkeit, dah wir übermorgen schon auf unseren geliebten „Bretteln" zu Tal sausen werden, dah uns der glitzrige, pulverige Neuschnee nur so um die Ohren stiebt...
Und weil es nun übermorgen wirklich losgehen soll, müssen wir jetzt packen. Da steht der Koffer mit weit auf- gesperrtem Rachen und wartet. Auf dem Tisch, auf den Stühlen, sogar auf der Erde liegen alle unsere schönen Sachen, mit denen wir ihn füttern wollen. Hoffentlich wird alles hineingehen, denn wir möchten eigentlich kein Stück missen. Fangen wir an mit dem Skianzug. Weih ist er und hat einen Schulterbesatz aus Seehundfell. Unpraktisch? Ja, sicher, ein bißchen schon, aber soo schick unv modern. In diesem Winter trägt man, wenn irgend möglich, ganz Helle Farben: weihe, cremefarbene, gelbe Skianzüge beherrschen das Feld. Es braucht natürlich kein ganzer Anzug zu sein. Eins schöne Knickerbocker- oder Ueberfallhose mit einem molligen Pullover und darüber eine von den feschen seidenen Annoraks mit Kapuze ist mindestens ebenso schön und jedenfalls sehr zünftig. So, nun her mit den Blusen und Pullovern. Die auszusuchen war in diesem Jahr wirklich nicht leicht, so viele schöne Sachen gibt es. Denken wir nur an die reizenden handgestrickten Trachtenjäckchen aus Oesterreich, mit den aufgestickten Alpenblumen, oder an die hochmodernen Angorajacken aus haariger Wolle, oder an ! die herzigen Steppjanker, dis so mollig warm sind, oder, ' nicht zuletzt, an die vielen hübschen Skihemden — alles ! Dinge, die den Wintersport noch schöner machen.
! Dann haben wir etwas anderes einzupacken, das jeden- ! falls in seiner Art etwas völlig Neues ist, nämlich das „Winterdirndl", das uns der Weihnachtsmann als modische Besonderheit auf den Tisch gelegt hat. Wir haben uns sehr darüber gefreut, denn es ist nicht nur ein praktischs, sondern : auch überaus entzückendes Dirndkleidchen aus bunt ge- ! mustertem Flanell, herrlich warm, mit laugen Aermeln, - weitem Rock und enger Taille, vorn mit kleinen ziselierten ! Silberknöpfchen geschlossen bis zum Halsausschnitt, der ! ebenso wie die Aermel mit einer zierlichen weihen Kiöppel- l spitze geschmückt ist. Schnell hinein mit ihm in den Koffer, ! es wird uns gute Dienste leisten, in der Baude oder im ^ Hotel, es ist überall am Platze. Dennoch soll es nicht unser einziger Begleiter sein für den sportfreien Nachmittag. Wir
wollen auch die beiden Wollkleider einpacken, das graur mit dem Faltenröckchen — Faltenröckchen sind große Mode, mutz man wissen — und das sportliche mit den schlankmachenden Streifen.
So, nun ist unser Koffer beinahe voll, wenn man noch die Kleinigkeiten berücksichtigt. Aber dann müssen wir bedenken, dah wir ja nicht nur im Skianzug tanzen wollen. Dafür ist das weinrote Nachmittagskleid aus Tiill mit den kleinen Rüschen und dem plissierten Rock gerade das Nichtige. Quetschen wir also die weihen gestrickten Strümpfe mit den bunten Streifen und Troddeln, auf die mir mächtig stolz sind, noch ein wenig zusammen, rollen wir Schal, Mütze und Handschuhe — alles in farbenprächtiger sudelendeutscher Handarbeit — etwas enger zusammen, dann geht es gerade noch hinein. Haben wir auch nicht die neuen Skistiefel aus Juchtenleder vergehen? Nein, die liegen ganz zuunterst, und wenn sie nicht so leblose Geschöpfe wären, mühten sie vor freudiger Erwartung ebenso wenig Ruhe finden wie wir. Kaum können wir's erwarten, mit ihnen und den Brettln die Berge zu erobern. Wenn die es sich gefallen lassen! Aber das werden wir ja übermorgen sehen... EarmenElebjattet.
Rundfunk
Programm des Reichsseu' ers Stuttgart
Sountag, 8. Januar: 6.0b Frühkonzert, 8.00 Wasserstandsmeldungen, Wetterbericht, „Bauer hör' zu!", 8.15 Gymnastik, 8.30 Evangelische Morgenfeier, 9.00 Morgenmusik, 10.00 Was Du für die andern tust, bestimmt den Wert Deines Lebens". 10.30 Frohe Weisen, 11.30 Romantische Reise nach dem Süden, 12.00 Musik am Mittag, 13.00 Kleines Kapitel der Zeit, 13.15 Musil am Mittag, 14.00 „Lasse mein Knecht", 14.30 „Musik zur Kaffeestunde", 15.30 Lhorgesang, 16.00 Musik am Sonntagnachmit- tag, 18.00 Zwischen Bodensee und Arlberg, 19.00 Sport am Sonntag, dazwischen hören Sie: Adalbert Lutter und sein Orchester, 20.00 Nachrichten des Drahtlosen Dienstes. 20.10 „Wie es euch gefällt!", 22.00 Nachrichten des Drahtlosen Dienstes, Wetter- und Sportbericht, 22.30 Tanz- und Unterhaltungsmusik, 24.00 Nachtkonzert.
Montag, g. Januar: 6.00 Morgenlied, Zeitangabe, Wetterbericht, Wiederholung der 2. Abendnachrichten, Landwirtschaftliche Nachrichten, 6.15 Gymnastik, 6.30 Frühkvnzert, Frühnachrichten, 8.00 Wasserstandsmeldungen, Wetterbericht und Marktberichte, 8.10 Gymnastik, 8.30 „Fröhliche Morgenmusik", 9.20 Für Dick daheim, 10.00 Die Märchenerzählerin. 11.30 Volksmusik und Bauernkalender mit Wetterbericht, 12.00 Mittagskonzert, 13.00 Nachrichten des Drahtlosen Dienstes, Wetterbericht, 13.15 Mittagskonzert, 14.00 „Eine Stund' schön und bunt", 16.00 Musik am Nachmittag, 18.00 Aus Zeit und Leben, 19.00 „Ausgerechnet Moritaten", 20.00 Nachrichten des Drahtlosen Dienstes, 20.15 „Stuttgart spielt auf", 22.00 Nachrichten des Drahtlosen Dienstes". Wetter- und Sportbericht, 22.30 Nachtmusik und Tanz, 24.00 Nachtkonzert.
Dienstag, 10. Januar: 6.00 Morgenlied, Zeitangabe, Wetterbericht, Wiederholung der 2. Abendnachrichten, Landwirtschaftliche Nachrichten, 6.15 Gymnastik, 6.30 Frühkonzert, Frühnachrichten, 8.00 Wasserstandsmeldungen, Wetterbericht und Marktberichte, 8.10 Gymnastik, 8.30 Froher Klang zur Arbeitspause,
! 9.20 Für Dich daheim, 10.00 Von Pflanzen und Tieren und ! vom Brauchtum im Monat Januar, 11.30 Polksmufik und Bau- ! ernkalender mit Wetterbericht. 12.00 Mittagskonzert, 13.00 Nach- ! richten des Drahtlosen Dienstes, Wetterbericht, 13.15 Mittags- ! konzert. 14.00 Musikalisches Allerlei, 16 00 Nachmittagskonzert, i 18.00 Aus Zeit und Leben, 19.00 Zauber der Stimme, 20.00 > Nachrichten des Drahtlosen Dienstes. 20.10 Bunter Plattentel- i ler, 21.00 „Haydn-Zyklus", 22.00 Nachrichten des Drahtlosen ! Dienstes, Wetter- und Sportbericht, 22.20 Politische Zeitungsschau des Drahtlosen Dienstes, 22.35 Tanz- und llnterhaltungs- ^ musik, 24.00 Nachtkonzert.
" Mittwoch, 11. Januar: 6.00 Morgenlied, Zeitangabe, Wetterbericht, Wiederholung der 2. Abendnachrichten, Landwirtschaftliche Nachrichten, 6.15 Gymnastik, 6.30 Frühkonzert, Frühnachrichten, 8.00 Wasserstandsmeldungen, Wetterbericht und Marktberichte, 8.10 Gymnastik, 8.30 Morgenmusik, 9.20 Für Dich daheim, 10.00 Ich Han lande vil gesehn..., 11.30 Volksmusik und Bauernkalender mit Wetterbericht, 12.00 Mittagskonzert, 13.00 Nachrichten des Drahtlosen Dienstes, Wetterbericht, 13.15 Mittagskonzert. 14.00 Fröhliches Allerlei, 16.00 „Kaffee verkehrt aus Wien", 18.00 Tanzmusik aus aller Welt, 18.30 Aus Zeit und Leben, 19.00 Erna Sack singt, 19.15 „Bremsklötze weg!", 19.45 Frederik Hippmann spielt, 20.00 Nachrichten des Drahtlosen Dienstes, 20.10 „Genie oder Zufall", 20.50 „Anna dazumal...", 21.15 Johannes Brahms, 22.00 Nachrichten des Drahtlosen Dienstes, Wetter- und Sportbericht, 22.30 Melodie und Rhythmus, 24.00 Nachtkonzert.
Buntes Allerlei
Was bringt ein Kuß in Japan mit sich?
Wer in Tokio lebt, der Hauptstadt Japans mit ihren sechs Millionen Einwohnern, mutz um 11 Uhr zu Hause sein, das ist eine strenge Bestimmung. Wohnt man im Vorort, so kann man freilich die Nacht zum Tage machen, ohne daß sich jemand darum kümmert, in Tokio aber ist das verboten. Es gibt dort nur acht Tanzlokale, und sie alle müssen um 11 Uhr abends geschlossen sein. Meistens aber werden sie viel früher zugemacht, weil ja doch die Gäste noch nach Hause müssen und eine anständige Frau sich zu so später Stunde auf der Straße nicht mehr blicken lassen kann. Ebenso ist es mit den Kinos. Auch sie schlietzen früh, damit die Besucher rechtzeitig nach Hause kommen. Die Filmzensur in Japan ist bekanntlich sehr streng: es dürfen keine Filme gezeigt werden, die von Verbrechen handeln, es dürfen keine Einbrecher Vorkommen, kein Blutvergießen, keine Eisenbahnkatastrophen, auch dürfen königliche Personen nicht in ihren kleinen Menschlichkeiten gezeigt werden, denn man darf nicht vergessen, datz der Kaiser von Japan göttliche Verehrung genießt. Verboten ist im Film auch der Kutz. Außerdem darf in keinem Filmtitel das Wort Kutz Vorkommen. Wer Wert auf Nachtleben legt, findet in Tokio nichts dergleichen, wohl aber in Pokohama, doch selbst hier kommt es vor, datz bei Nacht ein Auto, in dem ein Herr mit einer Dame sitzt, von der Polizei angehalten wird, weil man sich überzeugen will, ob die Insassen auch wirklich verheiratet sind. Sind sie das nicht oder läßt es sich wenigstens nicht genügend Nachweisen, so mutz die Dame sofort aussteigen und allein nach Hause gehen. Wenn es jemandem einfallen sollte, seiner Liebsten etwa vor ihrer Haustüre einen Kutz zu geben, so kann es sich ereignen, daß das junge Mädchen für die Nacht eingesperrt wird. Für Liebhaber des Küssens ist also Japan nicht der richtige Ort.
Das kürzeste Testament
Ein Kaufmann in Toulouse, welcher Zeit seines Lebens ein Sonderling gewesen war, versammelte vor seinem Tode acht der berühmtesten Notare der Stadt und erklärte ihnen, datz er seinen Neffen zum Universalerben einsetze. Er wünsche aber, daß sein Testament nur aus einem einzigen Wort bestehe. Dies wurde einstimmig für unausführbar erklärt, da gerade in solchen Angelegenheiten die gesetzlichen Formalitäten streng beobachtet werden müßten. „Äh bah!" entgegnete der Sterbende, „ich will euch beweisen, daß ihr nichts versteht und datz man wohl mit einem Worte alles sagen kann, was nötig ist." Er ließ nun seinen Neffen kommen, übergab ihm einen Sack, der neben seinem Bette stand und alle seine Rechtstitel, Kontrakte, Verschreibungen enthielt mit dem Worte: „Dein!" — „Dies ist mein Testament", bemerkte er hierauf zu den verblüfften Notaren, „und gewiß ein ebenso feierliches als vollgültiges, da Sie alle Zeugen davon sind."
Wann nimmt man Blutübertragungen vor?
Der Gedanke, Blut von Mensch zu Mensch oder von Tier zu Mensch übertragen zu können, ist schon uralt, aber erst die Kenntnis der Blutgruppen ermöglicht es, diese Behandlung ohne Gefahr durchzuführen. Heute ist Menschenblut ein unentbehrliches Heilmittel der Kliniken geworden. Hauptsächlich dient die Blutübertragung zum Ersatz großer Blutverluste bei Verletzungen und inneren Blutungen, außerdem zur Kräftigung geschwächter Kranker als Vorbereitung unaufschiebbarer Operationen, auch zur Nachbehandlung nach solchen. Die früher absolut tödlichen Blutungen bei der Bluterkrankheit sind erst durch Blutübertragungen stillbar geworden. Bei schweren Verbrennungen, welche durch innere Vergiftung zum Tode führen, bildet Blut meist die einzige Rettung. Bekannt ist die Anwendung der Uebertragung bei bösartiger Diphtherie und Grippe und bei der spinalen Kinderlähmung. Bei Vergiftungen sah man gute Erfolge durch Aderlaß und anschließende Blutübertragung. Schließlich sei noch die früher als absolut hoffnungslos geltende bösartige Blutarmut erwähnt. Auch hier hat die Blutübertragung schon viele Menschenleben erhalte«
Kinder geschickter als Verbrecher
Vor zwei Jahren wurde in San Franziska „Die Münze" gebaut, eine Prägestätte, die einer kleinen Festung gleicht. Sie wurde mit den letzten Errungenschaften der Technik ausgestattet, um jeden Einbruch oder lleberfall unmöglich zu machen. Die Mauern gelten als undurchdringlich. Eine empfindliche Alarmanlage setzt sofort Klingeln und Sirenen in Bewegung.
Winterliches Erlebnis
Von EerdavonVeloro.
Ms meine Jugendfreundin Vroni, in der Stille und dem , Gleichmaß ländlichen Lebens aufgewachsen, siebzehn Jahre > alt geworden war, gaben ihre Eltern sie für einige Zeit zu Verwandten in die Reichshauptstadt. Dort sollte sie Tanzstunden nehmen, Geselligkeit mitmachen, gute Vorträge und Konzerte hören und das Theater kennenlernen. Da sie eine schöne und volle Stimme hatte, bewilligte ihr der Vater auch den Eesangunterricht.
Aus diesem Unterricht wurde zunächst aber nicht viel, wie mir Vroni später ausführlich berichtete, weil sie zu häufig Postkarten schrieb, auf denen sie sich bei der ihr wenig zusagenden Lehrerin mit Halsentzündungen oder anderen Unpäßlichkeiten entschuldigte, während sie in Wirklichkeit im Kaffeehaus sah, mit Erich, dem Regisseur! Erich mußte ihr eingehend vom Theater erzählen. Sie hatte nach Vorstellungen der Wallenstein-Trilogie Lust bekommen, selber zur Bühne zu gehen, was ihre Ellern ihr gewiß niemals gestattet hätten: es wäre denn, datz sie ein iiberragendes Talent gezeigt hätte!
Mit Erich tauschte sie sehr bald das kameradschaftliche Du aus, da sie sich freute, in dieser großen, fremden Stadt so rasch einen Menschen gefunden zu haben, mit dem man vernünftig reden konnte. Ihre Unterhaltungen mit ihm waren höchst sachlicher Art und gestalteten sich anregend und belehrend. Als sie jedoch aufhörten, sachlich zu sein, erlosch das Interesse Vronis sehr plötzlich, denn sie fand, dah Erich einen törichten und hoffnungslosen Augenausdruck bekam, sobald er versuchte, sie mit ungeschickten Worten von seinen tieferen Regungen zu überzeugen. Nur eines konnte Erich in Vollendung, neben seinem Beruf! Das war — Schlittschuhlaufen! Da der Winter außerordentlich streng war und ihre Bekanntschaft von der Eisbahn stammte, beschlossen sie beide, nach Abschluh ihrer sachlichen Uirterhaltungen dorthin zurückzukehren.
Es war gewiß eine Freude, ihren lang ausholenden Bögen, ihren kunstvoll geschlossenen Achten und wirbelnden Pirouetten zuzusehen, und sie selber brauchten dabei nicht zu reden, das war ein Vorteil! Vroni zeigte sich als höchst gelehrige Schülerin. Nach wenigen Wochen glückte bereits der Walzer nach der berühmten „blauen Donau". Zu Hause hatte sie mit mir und den Dorfjungens vorlieb nehmen müssen, mit denen wir über die rauhen Flächen des Sees holperten und uns an den Luftblasen freuten, die unter unserer
sausenden Last' dicht an der Eisfläche hörbar aufglucksten. Wenn das andere Ufer erreicht war, machten wir im Schutze von hohem Schilfrohr behaglich Rast und zogen mit klammen Fingern Bruchschokolade hervor, die mit einer erfri- . schenden Beimischung von Eisjplittern genußvoll verspeist > wurde!
' Ach, das lag jetzt weit zurück, und ich beneidete Vroni! Das Bessere ist des Guten Feind, und ich war damals noch der Meinung, daß Vroni den besseren Teil erwähjt hatte. Ich sollte mich täuschen.
Da Erich, der Regisseur, langsam einsah, daß man mit einem so herben Mädchen wie Vroni zwar auf dem Eise, nicht aber auf den Wogen der Liebe vorwärts kam, erklärte er eines Tages beim Abschied: „Mir werden uns in der nächsten Woche nicht sehen! Ich habe nämlich einen Freund, der am Müggelsee wohnt. Der rief mich gestern an. Er sagte mir, fast der ganze See sei gefroren, das Eis sei spiegelblank, und er habe sich mit Hilfe eines ehemaligen Schulkameraden einen Segelschlitten gebaut, den wolle er ausprobieren, und ich solle mitmachen!"
„Und das wirst du tun?" fragte Vroni. Da ihre Stimme wie immer gleichmütig und sachlich klang, antwortete er: „Ja! Selbstverständlich! Ich wage nicht, dich mit aufzufordern. Erstens weih ich nicht, ob der Schlitten für drei Menschen Raum hat. Zweitens — und das ist der eigentliche Grund —, hat mein Freund kürzlich Pech mit seiner Braut gehabt und ist nun, wie du begreifen wirst, etwas mädchen- scheu." — „Natürlich!" antwortete Vroni, die diese Angelegenheit ja gar nichts anging, wie sie sich sagte. Und doch befiel sie in diesem Augenblick eine Unruhe, ganz von innen her, aus einer Tiefe des Seins, in der wir Menschen aufhören, persönlich zu sein.
Vroni gehörte zu den Menschen, die ihre innerste Unruhe nicht übergehen, sondern sorgsam auf die Stimme horchen, die aus der Tiefe kommt. Und so hörte sie sich plötzlich sagen: Geh' lieber nicht auf den Müggelsee! — Es hatte in ihr gesprochen. Sie hatte es nicht wirklich gesagt. Sie spürte^ sie hätte es tun sollen. Und warum unterließ sie es? Erich hätte sich Hoffnungen gemacht und wäre ihretwegen nicht gegangen. Das wollte sie aber nicht! Sie empfand ja nur Kameradschaft für ihn, und sie war ein ehrlicher Mensch, der anderen nichts vormachen wollte. Warum sie dennoch mit einem nagenden Schuldgefühl im Herzen „auf Wiedersehen" sagte und dann gesenkten Kopfes heiinging, konnte sitz nicht erklären. Vier, fünf Tage lang nicht! Dann aber jchlug sie eines Abends die Zeitung auf und stieh bei der
> Durchsicht der lokalen Nachrichten auf Erichs Namen. Die ! Notiz trug die lleberschrift: „Ein Segelschlitten mit zwei ! Mann vermißt!" Der Bericht legte die Vermutung nahe, j dah der Schlitten, der eine mangelhafte Bremsvorrichtung . gehabt haben mußte, unter dem Druck des Nordostwindes
> in eine Eisspalte getrieben worden sei, wenn nicht sogar ins
> offene Wasser. Wahrscheinlich hätten die beiden sich durch j Festschnallen an den Schlitten jeder Möglichkeit einer Net- i tung beraubt.
i Auf diese Nachricht hin sah Vroni noch viele Zeitungen durch. Aber nirgends fand sie mehr eine Zeile darüber. Sie machte sich Vorwürfe: Wenn ich ihm gesagt Hütte, er solle nicht gehen! Hätte er es getan? And wenn er geblieben wäre? Er wäre doch nur meintwegen geblieben! Und dann wäre er enttäuscht gewesen. Aber er wäre doch wenigstens nicht umgekommen! Ob es immer ein Glück ist, nicht zu sterben? Immer? Und hätte ich denn wirklich in das Rad dieses Schicksals eingreisen können? Wäre ihm, Erich, nicht j doch vielleicht am gleichen Tage von wo anders her ein töd- j liches Unglück zugestoßen? War es nicht vielleicht sein Schick- j sal, dah ich, aufrichtig und unaufrichtig zugleich, in ein Ge-
> geneinander von Gewissen und tieferer Ahnung verstrickt, I ihm meine Unruhe verschwiegen?
: Mit solchen und ähnlichen Selbstquälereien verbrachte
i Vroni einen großen Teil ihrer wachen Nächte, viele Wochen hindurch. Darüber verging der Winter. Die Selbstanklagen und endlosen Fragen nach dem Gesetz eines unausweichlichen Schicksals kamen langsam zum Schweigen. Die Schärfe der Erinnerung lieh nach, und endlich zerging auch der Schmerz unter der Kraft einer leuchtenden Märzsonne, als diese den Frühlingspunkt erreichte. Zu Ostern wurde ihr- von befreundeter Seite ein Büchlein geschickt. Es trug auf. der ersten Seite die Inschrift:
„Glück und Unglück — beides trag' in Ruh!
Alles geht vorüber — und auch du."
Vroni fühlte sich durch diese Worte wirklich getröstet. „Seltsam", dachte sie, „dabei hat doch die Freundin gar nichts von meinem Kummer gewußt..."
So erging es ihr noch oft im Leben: Daß ihr der „blinde Zufall" zur rechten Stunde ein Wort des Trostes zutrug,, von dem sie leben konnte.
IWivd Iliuul gbomliert «eräen!