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Donnerstag, de« 27. 3»U 193»

Sie ruffische Mobilmachung 1914

Von Oberst z. V. Dr. Bernhard v. Eggeling, bei Kriegsausbruch deutscher Militär-Attache in Petersburg.

Die kritischen Tage des Jahres 1914 setzten in Rußland mit dem 24. Juli ein, als am Tage nach der Abreise des Prä­sidenten Poincarö das österreichische Ultimatum an Serbien in Petersburg mitgeteilt wurde. Am 24. und 25. befanden wir Militär-Attaches uns im Lager von Krasnoje Selo in der Umgebung des Zaren. Der 24. verlief äußerlich noch völlig ruhig. Am 25. trat der Umschwung ein. An diesem Tage wurde in dem berühmten Kronrat in Krasnoja Selo, zweifellos unter dem starken Einfluß des Großfürsten Ni­kolai Nikolajewtisch, die sofortige Anordnung derKriegs­vorbereitungsperiode" (eine Art Vormobilmachung, doch ohne Einberufung der Reserven) beschlossen und eine Teil­mobilmachung gegen Oesterreich ins Auge gefaßt. Gleichzei­tig wurde das Abbrechen sämtlicher Manöver in ganz Ruß­land und die Rückkehr der Truppen in ihre Standorte be­fohlen. Wir waren Zeugen der ungeheuren Kriegsbegeiste­rung. die diese Anordnungen unter den russischen Militärs auslösten.

In den folgenden Tagen spielten sich nun die diploma­tischen Verhandlungen ab, die einen Ausgleich zwischen den österreichischen Forderungen und den mit der nationalen Würde Serbiens nach russischer Auffassung verein­barten Zugeständnisse suchten. Wir wissen heute, daß diese Verhandlungen mit planmäßigem Vorbedacht der russischen Kriegspartei, zu der sich nun, bestimmt spätestens vom 28. ab, auch Sasonow gesellte, nur zum Schein geführt wurden. Man wollte Zeit gewinnen für die militärischen Vorberei­tungen sowie zur Klarstellung der Haltung der Verbün­deten. Auch sollte sich der Ablauf der Dinge so gestalten, daß den Mittelmächten schließlich die Schuld am Kriegs­ausbruch zugeschoben werden konnte.

Der planmäßige« Verschleierung der Mobilmachungs­maßregeln zwecks Zeitgewinns dienten insbesondere die bei­den Unterredungen, die ich am 26. mit dem Kriegsminister Suchomlinow, am 29. mit dem Eeneralstabschef Janufchke- witsch hatte.

Süchomlinow eröffnete mir im Aufträge Sasonows in freundschaftlicher Form, daß lediglich allgemeine Vorsichts­maßregeln getroffen würden, eine Teilmobilmachung gegen Oesterreich in Aussicht genommen, aber noch nicht befohlen sei, daß man Deutschland gegenüber die friedlichsten Absich­ten hege und alles ernsthaft vermeiden wolle, was irgend­wie Anlaß zu Mißdeutungen geben könne. Daß bisher kein Reservist einberufen, kein Pferd ausgehoben sei, bekräftigte er mit seinem feierlichen Ehrenwort. Ich hielt dem Minister in ernstem Tone vor, wie er denn glauben könne, daß eine Mobilmachung gegen Oesterreich, unseren Verbündeten, in Deutschland nicht schwere Beunruhigung auslösen müsse. Er wich mit der Bemerkung aus, das ginge mehr die Diploma­ten an.

Selbstverständlich wußten wir beide, daß diese Frage den springenden Punkt berührte. Tatsächlich ist dieser Gedanke einer Teilmobilmachung wie wir inzwischen längst aus authentischen russischen Quellen wissen niemals ernst ge­meint gewesen. Eine solche Teilmobilmachung war weder vorbereitet noch technisch möglich. Man improvisierte diesen Einfall, da ja zunächst überhaupt nur ein Streitfall mit Oesterreich oorlag und um das Einverständnis des Zaren zu dieser harmlos klingenden halben Maßregeln zu gewin­nen.

In den nächsten Tagen häuften sich die Nachrichten über Mobilmachungsvorgänge, die über die durch die Kriegsvgr- bereitungsperiode vorgesehenen offenbar weit hinausgin­gen. Die Erkenntnis, daß diese Vorgänge mir schwerlich un­bekannt bleiben konnten, veranlaßten wohl den Eeneral­stabschef mit dazu, mich am 29. nachmittags zu einer Unter­redung zu bitten. Er käme, sagte er, soeben vom Zaren und lege Wert darauf, mir noch einmal zu bestätigen, daß alles so geblieben sei, wie es mir der Kriegsminister am 26. dar­gestellt habe. Nach wie vor wünsche der Zar keine Mobil­machung gegen Deutschland, halte vielmehr an seiner fried­fertigen Gesinnung gegen uns fest. Dafür, daß bisher noch keine Neservistensinberufung noch Pferdeanshebung statt­gefunden habe, setzte auch Januschkewitsch sein Ehrenwort ein.

Meine Einwendung, daß mir zahlreiche Nachrichten vor­lägen über Vorgänge^ die ich nur als Mobilmachungsmaß­regeln deuten könne, wies der General mit der Bemerkung zurück, daß solche Nachrichten nur auf gelegentlichem falschen Alarm oder Mißdeutung irgendwelcher Vornan'- beruhen könnten. Er zog dann die Uhr und sagte wörtlich:Es ist jetzt 3 Uhr. Wenn sich später herausstellt, daß ich Ihnen die Unwahrheit gesagt habe, können Sie vor aller Welt be­haupten: Am 29. Juli 1914 um 3 Uhr nachmittags hat mich der russische Eeneralstabschef belogen."

Auf diese feierliche Versicherung konnte ich dem General nur erwidern, daß er mich vor ein Rätsel stelle.

Bei seiner Vernehmung im Suchomlinowprozeß im Jahre 1917 hat Januschkewitsch über den Abschluß dieses Gesprächs zutreffend ausgesagt:Der Major glaubte mir nicht." In meinem telegraphischen Bericht nach Berlin habe ich die Eröffnungen des Generalstabschefs, überaus maßvoll, als den Versuch einer Irreführung gekennzeichnet.

Tatsächlich lag aber weit mehr vor als dieses. Wie später bekannt wurde, hatte Januschkewitsch in Zarskoje den vom Zaren unterschriebenen Befehl für die allgemeine Mobil­machung eingeholt. Aus der Tatsache, daß er ihn noch in der Tasche hatte, leitete er die Berechtigung zu den mir abgege­benen Erklärungen ab. Daß er mich somit bezüglich der ge­gen uns bestehenden Absichten, und zwar unter ausdrück­lichem Hinweis auf seinen Herrn, glatt belog, bedrückte sein Gewissen nicht!

Nun wurde aber der 29. noch in ganz anderem Sinne be­deutsam. Noch am gleichen Abend gab der Zar den Befehl, die Mobilmachungsordre anzuhalten und die allgemeine Mobilmachung durch die Teilmobilmachung (gegen Oester­reich) zu ersetzen, die auch tatsächlich noch in derselben Nacht angeordnet wurde. Anlaß zu diesem Befehl hatte dem Za­ren das Telegramm Kaiser Wilhelms gegeben, in dem er für eine unmittelbare Verständigung zwischen Petersburg und Wien eintrat und das der Zar selbst in seiner Antwort alsversöhnlich und freundschaftlich" bezeichnete.

Dies Eingreifen des Zaren beweist, daß durchaus noch die Möglichkeit einer Beilegung des Streitfalles bestand, obgleich die Kriegserklärung Oesterreichs an Serbien schon am 28. erfolgt war. Daß es gelang, den Zaren bereits am nächsten Tage umzustimmen/lag an der Charakterschwäche des unglücklichen Monarchen, die freilich ebensowohl ge­stattet hätte, daß letzten Endes gegenteilige Einflüsse hätten

durchdringen können. Es bedeutet ei»« irrtümlich« B«w- teilung der Verhältnisse und PerfSnKchkeiten am Aaren-, Hofe, wenn man glaubt, daß der zweifellos von Anfang der Krise an vorhandene Kriegsrätlle gewisser Kreise sich zwangsläufig zum unheilvollen Ende durchsetzen mußte. Es gab sowohl in der Umgebung des Zaren (Graf Fredericksz, Fürst Trubetzkoi) als auch im Kabinett (die Minister Eri- gorowitsch, Maklakow, Kriwoschin) Männer,, die wenn auch aus verschiedensten Beweggründen, nicht etwa aus Liebe zu Deutschland den Krieg zu jener Zeit schwer mißbilligten und klar voraussahe«, daß aus ihm für Ruß­land unabsehbares Unheil entstehen mußt«.

Um so schwerer wiegt die Schuld derer, die den «och zö­gernden Herrscher zu seinem Entschluß drängten und da­mit die Weltakatstrophe herbeiführten. In der Nacht zum 31. wurde der Befehl zur allgemeinen Mobilmachung er­lassen, der nunmehr die Eegenmaßregeln Deutschlands, das bis dahin eine unerhörte Langmut bewiesen hatte, auslösen mußte. Es kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß für den Befehl zur allgemeinen Mobilmachung in Rußland zu jener Zeit ein triftiger Grund um so weniger vorlag, als die diplomatischen Verhandlungen sich gerade damals, be­sonders dank der Einwirkung Kaiser Wilhelms, in einem aussichtsreichen Stadium befanden. Auch ist bei allen noch in den letzten beiden Tagen bis zur Kriegserklärung ge­führten Gesprächen von russischer Seite nicht der leiseste Vorwand für diesen plötzlichen Entschluß vorgebracht wor­den. Durch nichts kann der schließlich in Petersburg z«« Sieg gelangte Kriegswille klarer erwiese« werden.

Hinter den Kulissen der -Mischen Pro-Uganda

Die wahre Stimmung der Bevölkerung

NSK. Es ist erstaunlich, mit welch einer unerhörten Großzügigkeit die polnische Presse heute über Polen berich­tet. Nach den Artikeln sind so ziemlich alle Völker der Welt vor einer panischen Angst erfaßt worden, nur in Polen al­lein ist man ganz ruhig und kaltblütig und bis zum letzten Mann in eisern-kühler Entschlossenheit, und diese Haltung wirkt wie Balsam, wie ein Beruhigungsmittel auf die voll­kommen zerrütteten Gemüter und Nerven der anderen. Die ganze Welt hat eine unerhörte Angst vor dem Kriege, nur Polen fürchtet ihn nicht, ja, es ersehnt ihn fast, um die Welt mit einer Probe des unerreichbaren polnischen Mu­tes zu beglücken. Alle haben vor Deutschland Angst gehabt, sich ihm fast bedingungslos ergeben, nur Polen hat dem Reich getrotzt, ja selbst Bedingungen gestellt, und ist somit dieBastion der Freiheit im Osten" geworden. Die ganze Welt sieht auf Polen, an dessen Haltung sie sich ein Bei­spiel nimmt, an dem sie sich wieder ausrichtet. Denn:Noch ist Polen nicht verloren."

So kann man es, täglich noch gesteigert, noch größenwahn­sinniger, in der polnischen Presse lesen. Und wie sieht es nun in Wirklichkeit bei unseren: Nachbar im Osten und mit sei­ner Stimmung aus?

Als die deutschen Truppen Böhmen und Mähren und dann das Memelgebiet besetzten, da blieb den Polen der Atem weg. Mit einer grenzenlosen Apathie er­wartete man die Dinge, die da kommen würden. Als dann nichts geschah, bekam man wieder Mut. Zuerst natürlich die Presse. Man forderte Gleichartiges. Zunächst einmal die Grenze nütz Ungarn, und dann war auch das nicht genug. Inzwischen erholten sich auch die Propagandisten und Ge­rüchtemacher von ihrem Schreck.

Unglaubliche Märchen wurden da aufgetischt, von sieg­reichen Schlachten gegen deutsche Truppen, eroberten Pan­zerzügen und Kampfwagen und vielen anderen polnischen Heldentaten. Und dann wurde mobilisiert, und Beck fuhr nach London. Alles erwartete nun wieder einen Krieg, « den täglichen Einmarsch deutscher Truppen. Eine unglaub- , liche Hetze gegen Deutschland wurde entfaltet, denn inzwi­schen war der 1. April herangerückt, der Tag. an dem die s

Regierung dis sch<« vor Wnaerer Zeit geplante Luftab­wehranleihe zur Zeichnnng auftege« wollte. Um dieuner­hörten deutschen Ansprüche" ins rechte Licht zu rücken, ver­anstaltete man andauernde Truppenbewegun­gen. Rekruten wurden assgehoben, wieder entlassen, Ge­schütze ein- und ausgeladen und die Bewohner der Städte und Dörfer durch nächtliches Waffengeklirr aus dem Schlaf gerissen. Und daneben arbeiteten die Gerüchtemacher auf Hochtouren. Die antideutsche« Hetzer sahen ihre größte Zeit gekommen.

Aber die Geister, die mau rief, wurde man nun nicht los. Das Volk, vollkommen nervös gemacht, hatte weder Lust zum Leben, noch zum Sterben. Das normale Leben begann zu stocken, der Arbeitsprozeß wurde gehemmt. Die Kaufkraft der Bevölkerung sank nicht nur durch die zwangsweise Eintreibung derfreiwilligen" Anleihe, son­dern auch durch die durch die Panikmacherei hervorgerufene Leistungsminderung und die Mobilisation. Nicht einmal die Erhöhung des Geldumlaufes konnte daran etwas än­dern. Das Volk weiß, daß es die unerhörten Lasten der Mobilhaltung, die mehrere Jahrgänge umfaßt, nicht nur jetzt tragen muß, sondern auch noch i« Zukunft schwer dar­unter zu leiden haben wird, denn der polnische Wirtschafts­organismus ist Vieser Belastung nicht gewachsen.

Trotz der englischen Garantien, der Mobilisation und dem chauvinistischen Geschrei der Presse P die Stimmung der Massen alles andere als gut. Man ist sich durchaus der schwerwiegenden Folgen bewußt, die die maß­losen Haßausbrüche bezahlter Banden und verhetzter ver­brecherischer Individuen gegen alles Deutsche nach sich zie­hen können. Mit sicherem Instinkt füW die Masse, daß hier keine Frisdensarbeit geleistet wird- Die Polen aber wollen bei aller Aufhetzung gegen Deutschland den Frieden und die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Aufstiegs, der durch die polnische Politik in weite Ferne rückt.

Die Mobilisation lastet wie ein schwerer Alpdruck auf der Bevölkerung. Die Familienmitglieder der «ungezogenen Soldaten erhalten geradezu lächerliche Unter­stützungen. Eine Frau mit drei Kindern z. B. 60 Gro­schen täglich (die Kaufkraft des Groschen ist etwa der des Pfennigs gleich), eine Frau mit zwei Kindern 40 Groschen, eine Frau mit einem Kind 30 Groschen. Man kann sich un­schwer vorstellen, daß da die Begeisterung im umgekehrten Verhältnis zu den Schilderungen der polnischen Presse ste­hen muß.

Besonders bemerkenswert ist die Stimmung im Korridorgebiet. Hier erinnert man sich noch gut der wirtschaftlichen Blüte des Gebietes im Deutschen Reich. Heute liegt mit Ausnahme von Gdingen alles darnieder. Selbst die polnische Presse gibt zp, daß sich der Zustand der westpolnischen Provinzen des ehemaligen preußischen Teilgebietes mehr den ehemalig russischen Provinzen angepaßt hätten, als umgekehrt. Trotz ungeheurer Anstrengungen ist die Kluft zwischen den Pom­merellern und den zugezogenen Polen noch immer nicht überbrückt.

Was haben sie uns schon gebracht? Keine Arbeit, mehr Lasten, keine Aussichten für die Zukunft, überhebliche An­sprüche und den Haß gegen die Deutschen", erklärte mir ein pommerellischer Arbeiter.Sie reden, daß ihr drüben nichts zu essen habt. Wir aöer haben kein Geld uns etwas zu kau­fen. Und unsere Burschen, die zu euch herllbergingen, kamen wohlgenährt und gut gekleidet zurück und haben noch Geld gespart", erzählte ein biederer Bauer.In allen höheren Stellen, da sitzen sie, die Kongresser und wir können ihnen die Stiefel putzen", sagt ein anderer. Alle, die sich noch an dis deutschen Zeiten erinnern können, ziehen die entspre­chenden Vergleiche. Die Jugend aber ist voller Haß.Die haben sie so in der Schule erzogen", ist die Erklärung dafür.

Verwahrloste Straßen, abgewirtschaftete Gehöfte und un­ansehnliche Neusiedlungen sind heute die bezeichnendsten Merkmale des Korridorgebietes. Aber die Menschen dort haben offene Angeu. Propaganda und Terror können nicht -as verdecken, was man ficht und hört. 100 Kilometer ist der ganze Korridor im Durchschnitt breit, das ist nicht breit genug, um den ungeheuren wirtschaftlichen Aufstieg im Reich und in Ostpreußen übersehen zu können. L. V.

Wie die Niederlage von Tokio verbrämt wird

Die Sensation der englischen Unterwerfung unter die ja­panischen Fernostwünsche wird noch lange in den Spalten der Weltpresse und den Reden der Politiker widerhallen. Wenn nicht alles trügt, und das Memorandum von Tokio von den Engländern nicht als bloßer Fetzen Papier behan­delt wird, so dürfte die britische Kapitulation nach dem Ent­schluß zur Einkreisung der autoritären Staaten Europas der bedeutsamste Beitrag Englands zur Geschichte dieses Jahres sein. Welchen Eindruck die englische Nachgiebigkeit hervorgerufen hat, das ersieht man aus der zwiespältigen Aufnahme in der britischen Öffentlichkeit selbst. Er ergibt sich auch aus der Art u .d Weise, wie Frankreich Sowjet» rußland, die Vereinigten Staaten und nicht zuletzt Japan den Schritt Londons deuten. Man sagt eher zu wenig als zu viel, wenn man diese Aufnahme im höchsten Grade wi­derspruchsvoll und uneinheitlich nennt. So viele Stim­men, so viele Meinungen! Die einen erklären: Quittung für Moskau. Die anderen sagen: Eingeständnis der Schwä­che, die dritten behaupten: Opfer in Fernost zwecks freier Hand in Westeuropa. Man sieht, weitgehenden Gedanken und Kombinationen sind Tor und Tür geöffnet. Am wesent­lichsten für die Deutung der Sensation des letzten Wochen­endes erscheinen aber doch die Unterschiede innerhalb der englischen und japanischen Kommentare. Auch die Erklä - rungChamberlainsim Unterhaus hat die Kapitu­lation Englands in Tokio bestätigt, wenn auch mit allerlei verlegenen Wortklaubereien. Er hatte zweifellos recht mit der Feststellung, daß Verhandlungen über den Tientsin­konflikt nicht von dem Hintergrund zu trennen sind, vor dem sich dieser abspielt. Daß es hierbei um die Anerken­nung der von Japan geschaffenen Tatsachen geht, ist ebenso eins Selbstverständlichkeit. Ob Mister Chamberlain hier eine de facto Anerkennung der japanischen Souveränität in den von den japanischen Truppen kontrollierten chinesischen Gebieten erblickt oder nicht, kann infolgedessen als eine müßige Frage beurteilt werden. Dagegen wird man der wiederholten Versicherung des Premierministers, daß kei­nerlei Wechsel in der britischen Politik gegenüber China eingetreten sei, größere Bedeutung beimessen müssen, da sie Zweifel daran aufkommen läßt, ob England wirklich gewillt ist, sein den Japanern feierlich gegebenes Versprechen zu er­füllen. Jedenfalls war diese Erklärung Chamberlains of­fenkundig dazu bestimmt, die Kritik der Opposition zum Schweigen zu bringen und den Cbarakter des Tokioter Me­

morandums in einem dt« brKtere Öffentlichkeit täuschen­den Licht erscheinen zu lasten. Die DE?, das verlorene Prestige und den Fehlschlag einer jahrelang verfochtenen Politik schamvolk zu verschleiern, ist ein« akte Gepflogen­heit der Downingstreet.

Japans Presse spricht in ihren Kommentaren ganz offen die weitgehenden Erwartungen aus, die es an das Memo­randum von Tokio knüpft. Es verlangt Aufgabe der chine­sischen Dollerwährung Tschiangkaischeks. Anerkennung einer neuen Zentralregierung, die unter japanischer Billigung sich in der nächsten Zeit vielleicht bildet. Sogar die Zurück­ziehung des englischen Botschafters in Tschungking, der als entschiedener Vertreter der Tschiangkaischek-Politik gilt, zählt zu den japanischen Wünschen. In Großbritannien ist man teilweise entsetzt über die Nachgiebigkeit der briti­schen Regierung und die weitgehenden Folgerungen, die Japan mit Recht aus dem Abkommen zieht. Die stolzen Engländer können sich nicht so rasch daran gewöhnen, in Tokio nunmehr den Partner zu sehen, mit dem man .Zusam­menarbeit und Tschiangkaischek, den bisherigen Freund, als Feind zu behandeln. Der Aufruhr der öffentlichen Mei­nung Englands ist durchaus verständlich, wenn man sich die Größe des Stellungswechsels vergegenwärtigt, zu dem sich die Londoner Regierung entschlossen hat. Dieser Stellung? Wechsel, daran kann man nicht mehr zweifeln, ist mehr als eine Anpassung an die gegebene Lage. Er ist das Einge­ständnis der Ohnmacht, die Abschreibung eines großen Vo- siens, letzten Endes der Verlust des Einflusses auf China und den Fernen Osten. England hat sich auf Singapore. das heißt auf seine befestigte Stellung zwischen Indien und Ostasien, zurückgezogen und die Strategie der Defensive ergriffen.

Nach den hochgeschraubten Erwartungen, die die anfge- peitfchte englische Öffentlichkeit hegte, wirkt dieser Rückzug selbstverständlich doppelt entmutigend und enttäuschend. Der englische Bürger fragt sich, ob er darum so viel Steu­ern zahlt und Rüstungsanleihen zeichnen muß, daß seine Negierung ein jahrelang hartnäckig verteidigtes diploma­tisches Schlachtfeld preisgibt. Er empfindet es bitter, zu­gleich auf Geschäfte in China verzichten zu müssen, riesige Kapitalmengen in den Schornstein zu schreiben und unge- beure Beiträge für die britische Aufrüstung zu leisten. Die englische Regierung sieht sich daher gezwungen, die bittere Pille zu versüßen und auf die Wunde im Fernen Osten ein