Nr. 268
Freitag, 15. November 1935
109. Jahrgang
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Revolutionäre Krise in Aegypter
Nahas Pascha fordert Rücktritt der Regierung
London, 14. November
N ahas P a s ch a, der Führer der nationalistischen Wafd-Partei, hielt am Mittwoch nachmittag vor 20 000 Anhängern eine flammende Protestrede gegen England und die englische Einmischung in innere Angelegenheiten Aegyptens. Die Rede gipfelte in der Bekanntgabe einer Entschließung, die vier Punkte enthält.
Zunächst wird das ägyptische Volk aufge- rnien, jede Zusammenarbeit mit den Engländern einzu st eilen. Weiter wird der Rücktritt der Regierung als Protest gegen englische Einmischung gefordert. Der dritte Punkt der Entschließung besagt, daß die Wafd-Partei der Negierung jedeUnterstützung versagen werde, wenn sie nicht zurück- tritt. Schließlich wird jede Regierung abgelehnt, die mit den Engländern zusammenarbeitet. Die Rede Nahas Paschas wird in den Kreisen, die nicht der Wafd-Partei angehören, als Aufruf zur Revolution angesehen.
Am Mittwoch nachmittag ist es in Kairo zu weiteren Straßenunruhen gekommen. Rach den bisherigen Feststellungen sind dabei 47 Polizisten und ebensoviel Zivilisten verwundet worden. Weiter wurden ein englischer Polizeiinspektor und der Präsident des Obersten Arbeiterrats verletzt. Bei letzterem handelt es sich um den Anhänger der Wafd- Partei Hamdi Beh Sefelnagr.
Todesopfer bei erneuten Zusammenstößen
Die Erregung gegen England, die die nationalistische Wafd-Partei in die Bevölkerung getragen hat, ist außerordentlich stark. Nach Beendigung der Massenversammlung kam es, als Nahas Pascha sich zu dem Voikshaus, der Zentrale der Wafd-Partei, begeben hatte, zu erneuten Zusammenstößen. Bei dem Eintritt Nahas Paschas in das Boüshaus brach die Menge, die ihn begleitete, in Hochrufe auf ihn aus. Rufe, wie „Nieder mit den Engländern" und „Es lebe die Revolution" wurden laut. Tie Polizei ging darauf mit der Waffe gegen die Menge vor und stürmte, als die Rufe nicht verstummen wollten, das Volkshaus. Zahlreiche Verhaftungen wurden vorgcnommen. Bei dem Vorgehen der Polizei mit der Waffe wurden etwa 30 Personen durch S ch ii s s c verletzt. Einer der Kundgeber wurde getötet. Auch mehrere Polizisten erlitten Verletzungen. Die Gesamtzahl der Verletzten beider Seiten beläuft sich bis Mittwoch abend inKairoaus 100, inTanta h auf 70.
Im Augenblick herrscht zwar überall Ruhe jedoch befürchtet die Regierung für Donnerstag eine Fortsetzung der Unruhen und ein Ueberg reifen aus die Provinz. Sämtliche Gouverneure und Polizeikommandanten haben strengste Weisungen erhalten. Der S t r e i k a l l e r ä g y p t i s ch e n H o ch- fchulen, der am Mittwoch begann, wird Donnerstag fortgesetzt.
Nach der scharfen englandfeindlichen Rede Nahas Paschas und nach der Entschließung die in der Massenversammlung bekanntgegeben worden war, nimmt man hier allgemein an, daß die Regierung zurücktreten wird. Die weitere Entwicklung ist allerdings völlig ungewiß.
Die Opfer der Unruhen: 7 Tote und 147 Verletzte
Kairo, 14. November.
Am Donnerstag ist es — mit einer einzigen Ausnahme — in Aegypten zu keinen Ruhestörungen mehr gekommen, aber die Spannung hält trotz der Wiederaufnahme des Hoch- und Mittelschulunterrichts (nur die Rechtsstudenten streiken noch weiter) an. Die Regierung trifft weitere Vorsichtsmaßnahmen. um gegen alle Möglichkeiten gewappnet zu sein. Auf zwei Hauptplätzen von Kairo hat ägyptische Infanterie Lager bezogen. Die Absichten der Regierung sind noch unaewjß. Allgemein erwartet man ihren
Rücktritt. Außerdem fordern die Nationalisten die Wiederherstellung der Verfassung.
In den frühen Morgenstunden erhielt die Polizei in Kairo die Nachricht, daß etwa 1500 Nationalisten, mit Stöcken und Knüppeln bewaffnet, aus Gizeh nn Anmarsch seien. Eine unter dem Befehl eines britischen Offiziers stehende Polizeiabteilung, die ihnen entgegengesandt wurde, gab eine Salve aus die Menge ab, worauf diese entschlossen zuni Gegenangriff überging. Der britische Befehlshaber soll nach einer Reutermeldung vier Nationalisten erschossen haben. Ein britischer Polizeibeamter wurde schwer verletzt.
Die Gesamtzahl der Opfer der Unruhen einschließlich der von Donnerstag früh beträgt 7 Tote und 147 Verletzte; von diesen sind mehr als die Hälfte Polizisten.
Reue schwere Zusammenstöße
In den Mittagsstunden des Donnerstag versuchten wiederum mehrere tausend Studenten, die sich vorher in der Nähe der Universität gesammelt hatten, in die Stadt zu ziehen. Sie hatten dir Absicht, alle Studenten und Schüler, die sich dem Streik noch nicht angeschlosscn hatten, aus den Schulen heraus- zriholcn. Ter Zug der Demonstranten bewegte sich auf die Abbas-Brücke zu, die über den Nil in die Stadt führt, wobei aus der Menge bauernd Ruse, wie „Hoch Aegypten! Es lebe die Freiheit! Nieder mit England! Nieder mit dem Verräter -Haare!" laut wurden. Unterwegs bewaffneten sich die Demonstranten mit Stöcken und großen Steinen. Nn der Abbas- Brücke traf der Zug aus die Absperrung der Polizei, die unter Leitung eines englischen
Polizciosfizicrs stand. Ein wildes - anL - ge menge entstand, in dessen Ocrlanj sich die Polizei gezwungen sah, von du Schußwaffe Gebrauch zu machen. Die Menge strömte zurück, wobei sic ihre Toten und Verwundeten mit sich nahm. 4 Studenten sollen bei dem Zusammenstoß ge- tötetundOschwerverwundetwor- den sein. Von der Polizei wurden der englische Offizier und ein englischer Sergeant schwer verletzt.
Zur gleichen Zeit sammelten sich Studenten vor der Medizinischen Fakultät im südlichen Stadtteil Kairos. Da das Gebäude von starken Polizeikrästen umgeben war, erkannten die Studenten die Aussichtslosigkeit einer Kundgebung. Ein Student hielt eine Ansprache, in der er betonte, daß die Studentenschaft entschlossen sei, bis zum letzten Mann für dir Unabhängigkeit Aegyptens zu kämpfen. Sodann forderte er die Menge auf, in kleinen Gruppen ruhig nach Hause zu gehen.
Sämtliche Fakultäten der Hoch- schulesindvonder.Uegicrungfür eine Woche geschlossen worden Der Ministerrat tagte ununterbrochen den ganzen Vormittag.
Wie auS Kairo gemeldet wird, fand am Donnerstag angesichts der gespannten politischen Lage eine Sondersitzung des ägyptischen Kabinetts statt. Die Regierung beschloß, die Universitäten ab Sonntag eineWochelangzu schließen, wenn picht alle Studenten bis Scimstagmorgen das Studium wieder aufnehmen. Am Donnerstag fanden weitere Kundgebungen streikender Studenten statt. Im Hof der medizinischen Fakultät brachten die Studenten Hochrufe aus Nahas Pascha aus. Ferner wurden Ruse laut: „Nieder mit dem Imperialismus!" „Verfassung oder Revolution!" Die Svrechchöre wurden von enalischsprecheu-
Die Kirche hat zu entscheiden...
Reichsminister Kerrl vor der deutschen Studentenschaft — Wuchtiger Appell an den theol. Nachwuchs
Berlin, 14. November.
In der Neuen Aula der Universität sprach am Mittwoch abend ans Einladung der Theologischen Fachschast Reichsminister Kerrl vor einer öffentlichen Studentenversammlung.
Der Minister bemerkte einleitend, er verkenne keineswegs die Schwierigkeiten seiner Arbeit, aber er stabe den Auftrag vom Führer in dem Glauben und in dem Vertrauen übernommen, was für den Nationalsozialisten selbstverständlich ist, denn für ihn sei die nationalsozialistische Idee Kompaß und unfehlbare Richtschnur aus allen Wegen.
Wenn man heute kommt und uns sagt: „Ihr seid in Wahrheit nicht fromm, ihr wollt uns den Glauben nehmen", dann kann ich nur sagen, so ries der Minister aus: Wer hat denn den Glauben bewahrt in der vergangenen Zeit? Wir haben 1923 erkannt und verstanden, was Jesus mit dem Glauben meint, der Berge versetzt. Wir haben im Nationalsozialismus nicht nur die Wahrheit Jesus, sondern die Wahrheit dieser Worte erlebt. Und wenn der Führer in seinem Programm den Art. 24 ausgenommen hat, so ist das Bekenntnis zürn Positiven Christentum der Ausdruck einer Tatsache. Nur der kann National- sozialist fern, der religiös ist. Allerdings können weder Staat noch Partei sich an Bekenntnisse binden, jeder einzelne hat das Recht, sich individueller über diese Dinge klar zu werden. Aber der Staat s i e h t a u f d i e T a t. Er sieht auf die praktische Liebe des Volksgenossen zum Volksgenossen. Das ist eine Förderung, die in keiner Weise im Widerspruch zum Christentum steht. (Beifall.)
Hinter uns liegen zwei Jahre schweren Zankes und Strertes in der Kirche. Hier muß dasselbe geschehen, was vorher im Volke geschah: Die einzelnen müssen zueinander kommen, nicht länger gegeneinander stehen. Nicht der Staat und nicht wir. dasSchicksalselbsthatandie Tür der Deutschen Ev. Kirche ge
klopft. Sie steht heute vor derselben Entscheidung, wie einst das Volk in seiner Gesamtheit, sie muß mit der Tatsache rechnen, daß eine neue Zeit gekommen ist und daß die Menschen dieser Zeit neu geworden find. Tie Kirche muß zu diesen Menschen kommen und muß marschieren, denn ihr Arbeitsgebiet liegt im deutschen Volk. Das Gros der Nation marschiert heute mit dem Führer. Die Kirche hat zu entscheiden, ob sie mitmar - schieren oder eines Tages, wenn das Volk bereits am Horizont verschwindet, allein Zurückbleiben will. (Beifall.)
TerStaat denkt nicht daran, in G l a ii b e n s d i n g e ei n z ii g r e i s e n. Gerade der Nationalsozialismus weiß, daß der Mensch von innen her wird, er weiß, daß man nicht von außen her an solche Tinge tasten kann. ..Mit mir", so ries der Minister aus, „hat der Führer und hat das deutsche Volk Interesse nur an einer Kirche, die aus inneren Gesetzen heraus und aus freien Stücken mitgeht. So bin ich an meine Aufgabe herangegangen, ich will dem deutschen Volk die Sicherheit wiedergeben, daß der Staat seinen Grundsätzen nicht untreu wird und nicht daran denkt, das Christentum irgendwie anzugreifen.
Abschließend ging der Minister ans die Entstehung und die Arbeitsweise der Kirchencms- schüsse ein. Sie haben sich vereint und zujam- mengefunden in dem Wille», de» Gemeinden ein Vorbild in der tätigen Liebe »nd im wahren christlichen Handeln zu sein. Das Führerprinzip ist nicht für die Kirche (Beifall), es ist ein politisches Prinzip. Die Kirche aber soll mit Geist und mit Liebe durchdrungen und fuhren. Minister Kerrl schloß, indem er der festen Ueberzeugung Ausdruck gab, daß das Werk, das jetzt in der Deutschen Ev. Kirche begonnen hat. gelingen wird, weil es gelingen muß.
Die Studenten brachten dem Minister zum Schluß dieses wuchtigen Appells an die akademische Jugend lebhaft Beifall und Zustimmung zum Ausdruck.
j Na» NmM m Mm
In Berlin begann «nn Donnerstag b« Prozeß gegen den Bischof von Meißen weg» riesiger Devisenvergehen. Der Prozeß Nnrb heute seinen Fortgang nehmen.
In Goslar fand am Donnerstag de, «rßte Hauptversammlungstag des Reichsbaner»- tages statt. Es wurden zahlreiche richtungweisende Vorträge gehalten.
In Aegypten kam es zu neuerlichen blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten. Dabei waren wiederum Studenten führend beteiligt. Das ägyptisch« Kabinett hat in einer Sondersitzung me zeitweilige Schließung aller Universität»» erwogen.
den Studenten geführt
Was England dazu meint
In London wurde am Donnerstag amtlich mitgeteilt, daß die Unruhen in Aegypten zu keinem politischen oder anderweitigen Vorgehen Englands Anlaß gäben. Den letzten Nachrichten ;u- tolge, seien die Behörden Herr der Lage. Zu den Berichten über italienische Propaganda in Aegypten wird in London erklärt, es lägen keine Beweise vor, daß diese Propaganda irgendeinen Einfluß aus die Lage gehabt habe. Die britische Regierung habe schon oor einiger Zeit in Rom einen Protest gegen die italienische Propaganda eingeleitet.
Bsrchertaö verzichtet
Pariser Rüge für den litauischen Terror im Memelland
Memel, 14. November.
Der litauische Abgeordnete Borchertas hat nach der Ablehnung der Memelländischen Einheitsfront mit ihm zu verhandeln, den Auftrag zur Bildung des Memel-Direkto- :>ums dem Gouverneur zurückgegeben. Jetzt hat sich der Gouverneur doch entschließen müssen, mit dem Präsidium des Landtages zu verhandeln.
Interessant ist eine durchaus nicht aus Deutschfreundlichkeit erfolgte Stellungnahme des Pariser „Journal", in der das Verhalten des Memelgouverneurs als unbegreiflich bezeichnet wird, seine Ernennung zum Präsidenten des Memeldirektoriums wird da als eine Herausforderung bezeichnet: „Beinahe könnte man fragen, ob man nicht ei n e n Auftritt sucht, der den Sowjets so schön ins Spiel paßte."
Ruhiger Wahlverlauf in England
40 Wahlwerber
mangels an Gegenkandidaten gewählt e^. London, 14. November.
England wählt! Aeußerlich deutet nicht allzuviel auf das Ereignis hin. Außer de: üblichen Wcchlrcklame mahnen die Morgenblätter zur Erfüllung der Wahlpflicht. Bis jetzt sind die Wahlen auch durchausruhio verlaufen und wären die Wahllokale nichi bis 21 Uhr (22 Uhr MEZ) geöffnet, könnt« man sogar an eine auffällige Wahlmüdigkeii glauben. So ist aber zu rechnen, daß die Arbeiter und Angestellten erst am Abend wählen werden.
Von den 615 zu wählenden Unterhausiiiii gliedern gelten 40 bereits als gewählt, da ihnen kein Gegenkandidat entgegengestellt wurde. 232 Ergebnisse werden im Laufe der Nacht bekannt gegeben werden - meistens aus den städtischen und industriellen Wahlkreisen Englands, wo die Arbeiterpartei hofft, einige der bei der letzten Wahl verlöre,igegangenen Sitze zurückzugewinnen. In den Landbezirkcn werden die Wahlurnen kaum vor Freitag vormittag geöffnet werden, so daß weitere 329 Ergebnisse erst am Freitagnachmittag bekannt iverden. Zehn Ergebnisse sind erst am Sams- mg fällig, darunter die der Universitäten von Oxford, Cambridge, London und Wales; du Orknev- und Sbetlandinseln melden rhr> Wahlergebnisse erst am 1». vtovemver, die schottischen Universitäten am 25. November, Das Gesamtbild der neuen englischen Volksvertretung wird daher erst am 26. November bekannt sein.