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Der Gesellschafter

Mittwoch, Sen 5. Dezember 1334

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EWdrrbettask der RS.GrM Württemberg

Zwischen Dorf und Stadt / m.« mm«.

Jahrhundertelang ist sich das Gesamtbild unserer meisten Dörfer fast gleich geblieben, ihre Ausdehnung, die Art und Größe der Häuser. Nur sind die Strohdächer den Ziegel­dächern gewichen, man har das Fachwerk zu- geputzt. hat die Häuser auch sonst vorteil­hafter auszustatten versucht. Es sind allmäh­lich neue Häuser dazugekommen. Zinken haben sich angesetzt und allmählich verlän­gert. Aber das ist alles ganz allmählich ge­gangen. und der alte Dorskern hat immer den Charakter des ganzen Dorfbildes be­stimm-.

Auch die Dörfer unmittelbar vor den To­ren der Stadt hatten ihr dörflich-ländliches Gesicht. Der Dorfbewohner ist. gern einmal aus den Markt in die Stadt gegangen, der Stadtbewohner am Sonntag aufs Land. Für beide Teile war dieser Verkehr immer eine anziehende Sache. Man hatte gegenseitig das Gefühl, in eine andere Welt zu kommen, und das erhöhte den Reiz des Lebens in einer verhältnismäßig ruhigen Zeit.

Das- Aufkommen und ungemein rasche Fortfchreiten der Industrie hat einen ganz anderen Lebensrhythmus in die Menschen hineingetragen, hat die Grundlage für eine beträchtliche Volksvermehrung geschaffen. Die erstehenden Industrieanlagen haben in ge­wissen Teilen unserer Heimat die Landschaft weithin verändert. Das ehedem so idyllische Neckartal zwischen Cannstatt und Plochingen ist eine fast zusammenhängende große deut­sche Werkstatt geworden, besonders zwischen Tannstatt und Eßlingen. An den Eisenbahn- itrüngen. bis hinauf nach Geislingen. Tübin­gen. hinunter nach Heilbronn, sind große ge­werbliche Anlagen entstanden. Die Städte ielbst sind in fabelhaftem Tempo gewachsen, Stuttgart. Heilbronn. Gmünd. Eßlingen, Göppingen. Ulm, Ravensburg, Reutlingen. Heidenheim. Tuttlingen usw. Neben Indu­strieanlagen haben sich neue Wohnviertel zum Teil in ganz erheblichem Ausmaße, an­gesiedelt.

Die Eingemeindungen

Diese Industriestädte wirkten nun aufs Land, zunächst auf ihre nächste Umgebung. Die Jndustriewerke suchten Arbeiter, in einem Ausmaß welches die Städte allein nicht befriedigen konnten. So strömten ihnen aus den Dörfern der Umgebung Hilfstruppen in großen Aufgeboten zu. die morgens auf ihre städtische Arbeitsstätte fahren und abends wieder heimkehren. Diese Stadtranddörfer gaben nun nicht mehr ihre Bewohner an die Stadt ab. sondern behielten sie selbst, andere ans dem platten Land, die auch Arbeit in der Stadt suchten, denen aber das Leben und Wohnen dort zu teuer war. zogen zu, und so wuchsen diese Dörfer in ungewöhnlichem Maß heran. Ihre bebauten, neuen Straßen­zeilen streckten sich wie rettungsuchende Arme der Stadt entgegen. Sie hatten hohe Aus­lagen für Straßen- und Schulhausbauten n. ä.. dagegen ein geringes Steuereinkommen, w daß sie ihren Verpflichtungen nicht mehr Nachkommen konnten und in die Stadt einge­meindet werden mußten. Die Eingemeindung war jedoch nicht nur eine Notwendigkeit von seiten der Vorstadt, sondern auch eine Not­wendigkeit der Stadt selbst, die sich Lebens­und Entwicklungsraum sichern mußte, und die Vorteile waren auf beiden Seiten. Die «tadt brauchte neues Wohngelände. Bau­grund für große Anlagen, wie das Gaswerk, den Schlachthoi u. ä. Der stärkere Pulsschlag erhöhten wirtschaftlichen Lebens belebte nun bald das neue Gesamtgebiet. Unsere Landes­hauptstadt Stuttgart hat ja durch ihre weit­gespannte Eingemeindungspolitik das Herz des Landes völlig verändert. ..Wenn heuU ein Geist herniederstieg", um mit Uhland zn reden, etwa Uhland selbst, oder irgendein an­derer. der würde sich nicht mehr auskennen, was aus dem anmutigen idyllischen Städt- lein im gesegneten, blühenden und grünen- 'ben Nesenbachtal und all seinen Vororten in den letzten hundert Jahren geworden ist. /Der eigentliche Stuttgarter Talkessel ist rand- ,-voll gefüllt, das Neckartal ist von Cannstatt /bis Eßlingen bald ein Häusermeer, das in Untertürkheim und Wangen seine Welken .die Talhänge hinaufschlägt. Ober- und Un­tertürkheim. Hedelfingen und Wangen, die «ine überaus starke Entwicklung genommen haben. sind Stuttgarter Vororte bzw. Vor­städte. auch Rotenberg ist eiugemeindet und

liegt, wie ein Stuttgarter Vorposten gegen den Schurwald, droben auf seinem freund­lichen Rebberg. Neben Cannstatt sind Mün­ster a. N.. Mühlhausen und Zazenhausen ein­gemeindet worden, auf der andern Seite Kal­tental und Botnang, au­ßerdem an der Bahnlinie nach Bietigheim das rasch herangewachsene Zuffen­hausen und die Stadt Feuerbach, von der noch be­sonders die Rede sein soll.

Die mittleren Städte des Landes haben auch durch Eingemeindung ihr Stadt­gebiet erweitert. Heil - b r o n n hat Bückingen her­eingeholt: U l ni ist heute vollständig mit Söflingen verbunden und außerdem mit Wiblingen und Grim­melfingen; Heiden- heim hat seine Arme nach Schnaitheim ausgestreckt:

Reutlingen hat sich Betzingen und seine Betzin- ger Mädchen geholt.

Das neue Gesicht der Dörfer - MWIrieösrf

Schon durch die rasche Vergrößerung der Dörfer in den Stadtzonen mit wachsender Industrie, dann namentlich durch die Ein­gemeindung selbst wurde nicht nur das äußere Bild verändert, und diese Ver- ttwiiche» Dorf iiud

nun weit ihre unförmlichen Augen aufreißen. Städtische Firmen errichteten ihre Filialen und begannen ihre laute Sprache der Re­klame. Friseure hingen ihre blanken Becken heraus. Die Wirtschaften suchten sich innen und außen ein Ansehen zu geben, um mit denen in der Stadt in Wettbewerb treten zu können. Säle wurden angebaut. Terrassen

-tobt: I:i Löflinacu <Nlm>. links kobc ktadt-

änderung schreitet dau ernd weiter, sondern auch '

das innere Gesicht dieser Dörfer ist ein an­deres geworden.

Mit Hellem Gebimmel fuhr die Straßen­bahn in die Vororte hinaus. Fahrgleise wur­den gelegt, Bürgersteige gebaut. Tragmasteu der elektrischen Stromzuleitung erhoben sich, Drähte spannten sich über die Straßen. Au Vororthäuslein, die kaum größer sind, als die mächtigen Wagen der Straßenbahn mit ihren großen breiten Fenstern, fährt sie nun vorbei, ein sonderbares Bild. Zwischen den ein-, selten zweistöckigen dörflichen Häusern der Bauern. Weingartner und Handwerker begannen sich nun drei- und mehrstöckige Häuser zu erheben, da und dort öde Back­steinkästen, heimatlose Spekulations-Unter­nehmungen. andere wieder mit allen Ver­suchen und Sünden des ringenden Baustils der letzten Jahrzehnte, mit bombemnäßigen.

makulic Siniicr rcciitS niedere dörfliche

brüsteten sich zur Straße heraus. Garten­wirtschaften warfen sich in anziehendere Klei­der. Cafss wurden eingerichtet. Bei der wach­senden Einwohnerzahl waren Schulhausbau­ten notwendig. Das Kleinbauern- oder Weingürtnerhaus wurde vielfach umgebaut, Stall- und Scheunenräume verschwanden, und Wohnungen wurden eingebaut. Ganze Häuserblöcke wurden abgerissen und mußten modernen Neubauten Platz machen. Das Rat­haus als bürgerlicher Mittelpunkt des Dor­fes verlor seine Bedeutung. Es wurde zur städtischen Polizeiwache umgebaut, oder nahm irgendein Meldebeamter darin Platz. Die alten dörflichen Gemeinderüte verloren ihre alte Herrlichkeit oder sie konnten bei den Wahlen in den städtischen Gesamtge- mcinderat eintreten. Das gemeindliche Eigen­leben erlosch. Wohl erhielten Turn- und

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I« SSkli««« >Ul«>. alt« Dorlftraftc mit Ltrakenbakn, die dem alte» BauernbanS links kalt bis ,»m

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verzwungenen Fa staden und großartigen Er­kern ausgebaut. Erschrocken blicken die klei­nen an diesen unförmlichen Riesen hinauf. Oder es erhob sich inmitten eines Blockes be­scheidener dörflich-ländlicher Häuser ein weit- ausgedehnter Fabrikbau. Spezereiläden mit i »kleinen Schaufenstern rissen ganze Mauer­wände heraus und bauten größere ein, die

Sportvereine durch modern eingericht Turnhallen neue Möglichkeiten der Euts tung. Gesangvereine fanden neuen Auftri Die Politischen Vereinigungen zeigten ei lebhafte Tätigkeit. Mer stiele der Voror und Vor stadwewo Huer suchten Anschluß die Stadt. Stadtbewohner, die herauszoa blieben für sich und wollten keine örtii

Verbundenheit, auch viele von außen An­ziehende nicht. Auch sonst verlor sich r» d« Angleichung an das städtische Leben manches Eigenständige und Eigenwüchsige, ohne daß es völlig verloren gegangen wäre. Der alte Dorfkern ist fast nirgends verschwunden. I» allen Vororten und Vorstädten findet man noch Straßenpartien, welche weithin den alten Charakter gewahrt haben, wenn sich auch neue Großbauten zwischen die kleinen Häuser hineingestellt haben, die sich zäh neben ihnen behaupten und noch heute er­zählen. wie es ehedem ausgesehen hat. Auch Seitenstraßen und Nebengassen haben stch noch weithin in der alten Art erhalten. Immer noch gibt es Bauernhäuser mit Scheune und L-tall und an Weingärtner­häusern öffnet sich noch immer ein mächtiger Kellerhals zur Straße heraus, und alle die Gärtner und Gemüsezüchter brauchen neben oder hinter ihrem Haus noch einen kleinen Werkplatz und Schuppen. Alte Bauern- und Weingärtnergestalten gehen zeitlos auch durch die modernen Vororte und auch in der zweiten Generation äußert sich der Stolz der Alteingesessenen gegenüber den Zugezogenea.

Zwei Welken.

So haben sich zwei verschiedene Elemente vereinigt und sind bestrebt, einander allmäh­lich immer mehr zu durchdringen, das därf- lich-ländlich-bäuerliche und das städtisch-in­dustrielle. und so sind Vorstädte entstanden mit noch deutlich erkennbarem dörfliche« Kern, oder Dörfer mit einschneidendem städ­tischem Einschlag. ,<-> / '

Feuerbach war ja vor seiner Eingemein­dung nach Stuttgart schon aus einem Dorf, zu einer Stadt herangewachsen. Der dörfliche Kern ist kaum noch sichtbar, so ungemein stark hat die moderne Entwicklung das Alte"' verdrängt. Eine umfängliche ansässige In­dustrie hat es in Feuerbach immer gestattet, sich inmitten des starken Ausdehnungß- " dranges der Stadt Siuttgart wie eine Insel im begehrlichen Wellenschlag des Stuttgarter Vorortsmeeres in altgewohnter und beton­ter Selbständigkeit zu behaupten, ja sogar das stattliche Weil im Dorf einzugcmeinden, bis nun der neue Staat die Eingemeindung einfach als eine staatliche Maßnahme voll­zogen hat. Doch geschah die Entwicklung Feuerbachs natürlich in engster Verbindung mit der Jndustriealisierung des Stuttgart- Cannstatter Lebensgebietes. ^

Diese Entwicklung hat sich bemerkbar ge­macht auch in Gebieten außerhalb der Vor­ortzone großer Industriestädte, wo aus Dör­fern dem Namen und teilweise dem Wsstn nach Städte geworden find.

Ein württembergisches Dorf z. D. ist völlig seitab aus einem wirklich ausgesproche­nen, mit allen Ueberlieserungen bäuerlicher Kultur gesegneten Dorf zu einer Stadt her- angewachsen: Schwenningen. So gewaltig auch die Entwicklung in den letzten Jahr­zehnten hier vorangeschritten ist. große I«- dustrieanlagen geschaffen und den akt«r Dorfboden und das alte Dorfbild mngepMgt hat wie mit einem Dampfpflug. auch Dorf Schwenningen ist noch lange nicht tot. und Schwenningen ist noch keine völlige Stadt geworden. In alemannischem Bauern- trotz erheben sich immer noch einige Bauern­häuser neben wuchtenden Fabrikanlagen als einprägsame Meilensteine der Entwicklungs­geschichte.

In demselben En twkcklungszu stand zwi­schen Dorf und Stadt, den die städtischen Vororte zeigen, befinden sich in größerem oder geringerem Ausmaße auch unzählige Dörfer, die eine eigene industrielle Entwick­lung genommen haben. Denken wir eimrral an das Filstal zwischen Plochingen und Geis­lingen, wie z. B. Eislingen, besonders an die Dörfer zwischen Plochingen und Göppingen, wie Faurndau, Uhingen, Ebersbach, wo sich an der alten Straße die Häuserzeilen ungemein verlängert und ganz umsaugreiche neue Siedlungsquartiere angesetzt hccheu, in Ebersbach weit den Talhanq hnüruMetterud, lauter Häuser von Arbeitern und Angestell­ten des gewerblichen FMßstes. Kein Bauernhaus mehr, keine «Allst», kvine Scheunen.

Oder wie mächtig ist an der Sckwcke Stutt­gartBietigheim Koruwescheim. ehsdem eck» reines Bauerndorf auf fruchtbarem Ast«» gr«nd. herangewachsen. aN gewerblicher Hauptantrieb heute die bekannte Schuh- ßrbrst! N-dann Asperg und Dann« dr«»,