Dienstag, 16. Oktober 1934
108. Jahrgang
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Nr. 241
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Paris, 15. Oktober.
Der frühere französische Ministerpräsident und Staatspräsident Raymond Poin- care ist am Montag »m 3.30 Uhr in seiner Pariser Wohnung plötzlich gestorben. Poin- care hak das Alter von 74 Jahren erreicht.
Poincars
Als am 18. Februar 1913 der französische i Sozialisteusührcr Jean Jaurss hörte, wer : als Sieger aus der Wahl zum französischen Staatspräsidenten hervorgegangen war, da rief er: „Poincars!? — Das ist der Krieg!"
, Eineinhalb Jahre später war Jean Jaurss ^ von Mörderhand erschossen und Ponincars hatte den Krieg, den er sich wünschte.
Das Werk, das 1891 durch eine erste Fühlungnahme zwischen dem Zarenreich und der französischen Republik begonnen worden war. der gegen Deutschland und Oesterreich gerichtete russisch-französische Zweibund wurde im Jahre 1912 von dem damaligen Außenminister und Kabinettschef Poincars gefestigt, um 1913 und 1914 vom nunmehrigen Staatspräsidenten Poincars gekrönt zu werden. Im Hochsommer 1914 kann Poincars dem Zaren Nikolaus in einem Trinkspruch von dem : festen Bündnis zwischen der Republik und dem Zarenreich sprechen. Vergessen sind die Befürchtungen, die der Zar kurze Zeit vorher - seinem erst viel später veröffentlichten Tage- k buch anvertraut hat: „Ich arbeite für den : Frieden Europas, Poincars arbeitet für die Rückeroberung Elsaß-Lothringens." Es ist i zu spät, auch der Zar kann nichts mehr än- ! dern. Kaum war der französische Staats- ! Präsident nach Paris zurückgekehrt, da brach der Krieg auch schon aus. Der Krieg, der das Zarentum verschlang und aus dem das kaiserliche Rußland als eine roten Horden überlassene Wüste hervorging. Der Krieg, der dis blühenden Reiche der Mittelmächte in tiefstes Unglück stürzte, und der Krieg, in dessen Folge jetzt die ganze Welt unter einer noch nicht dagewesenen Krise leidet. Aber auch der Krieg, der Elsaß-Lothringen an Frankreich zurückgab.
Poincars bezeichnete sich selbst als „L oth- ringer". In Frankreich wußte man, was dies bedeutete. Man hatte sich daran gewöhnt, die Sorge um das Schicksal des Landes diesem fanatischen Lothringer zu überlassen, der eigentlich niemals beliebt war. den man aber stets achtete und — fürchtete. Der frühere Rechtsanwalt, der sich niemals einer Partei verschrieben hatte, war zwar zum Schicksal Frankreichs geworden, denn der Krieg war vor allem sein Werk, aber da der Krieg mit einem Sieg geendet hatte, billigte man Poincarss Taten.
Wie richtig die Behauptung ist, daß Poincars im Mittelpunkt der Kriegstreiber stand, die es in Frankreich wie in Rußland und England gab, wird durch nichts klarer bewiesen als durch die Tatsache, daß keiner der Verantwortlichen Männer dieser Generation so viele Versuche unternommen hat, sich von der Schuld am Kriege reinzuwaschen, wie gerade Poincars. Das ist ihm in den Augen aller historischen Sachverständigen nicht gelungen — die Veröffentlichung vor allem der russischen Akten hat immer neue Beweise der Kriegsschuld Poincarss erbracht. Bedürfte es darüber hinaus noch eines Beweises für die wahren Ziele Poincarss, so ist es durch die Art erbracht, in der Poin- >wrs sich bemühte, den der Entente in den Schoß gefallenen Sieg auszuwerten. Poincars war ein fanatischer Widersacher des Versailler Diktates. Aber nicht etwa, weit der Versailler Vertrag für Deutschland zu ungünstig gewesen wäre, sondern weil ihm die Kriegsziele Frankreichs noch nicht
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verwirklicht schienen. Poincars wollte die Zerschlagung des Reiches, er wollte den Rhein als Grenze zwischen Deutschland und Frankreich von der Schweiz bis nach Holland. Im Jahre 1922 noch sagte Poincars (laut „Populaire"). „das einzige Mittel, den Versailler Vertrag zu retten, besteht darin, ihn so zu arrangieren, daß unsere Gegner, die Besiegten, ihn nicht respektieren können". Durch die R u h r besetz u n g hat Poincars, der vom Posten des Staatspräsidenten wieder in den des aktiveren, des Ministerpräsidenten eingetreten war, diesem Gedanken Ausdruck verliehen.
Vielleicht war es Frankreichs Verhängnis, daß man den ewig in alten Rachegedanken befangenen Poincars nicht entbehren konnte. Eine ihm durchaus nicht wohlwollend gesonnene Kammer mußte ihm 1926 wegen der drohenden Jnflationsgefahren alle nur erdenklichen Vollmachten geben. So kam es. daß Poincars Gelegenheit fand, immer weiter auch noch gegen das abgerüstete Deutschland zu Hetzen. Als er dann schließlich, von seinem Gesundheitszustand gezwungen, etwas in den Hintergrund trat, behielt er doch noch alle »Fäden der Politik in seiner Hand. Als
Istanbul, 15. Oktober.
Ter in Istanbul als Politischer Emigrant lebende Führer der Jmro (Jnnermazedo- nische revolutionäre Organisation), Mi- chailosf. ist seit mehreren Tagen spurlos verschwunden. Nach Gerüchten soll er aufgesordert worden sein, die Türkei zu verlassen. Er sei daraufhin abgereist. Er soll die Absicht geäußert haben, sich nach der Schweiz zu begeben.
Anna Malerski ist schuldlos
Budapest, 15. Oktober.
Die Presseabteilung der Budapester Oberstaatsanwaltschaft veröffentlicht eine Mitteilung über die sofort eingeleitete Untersuchung zur Klärung der Frage des beim Marseiller Mörder gefundenen gefälschten Passes der Anna Majerski.
Es wurde festgestellt, daß die in Budapest lebende Erzieherin Anna Majerski ihren alten Paß bereits 1932 einem Beamten des tschechischen Generalkonsulats in Budapest abgeliefert habe. Daraufhin habe sie damals vom tschechoslowakischen Generalkonsulat einen neuenPaß erhalten, der sich nochheute in ihrem Besitz befinde.
Völlig ungeklärt sei, wie ihr erster Patz, der damals nach lOjährigem Gebrauch infolge der zahlreichen Abstempelungen völlig abgenutzt gewesen sei, in die Hände des Mörders gelangt sei.
Bei Anna Majerski handle es sich um eine ältere Person, die auf Grund eines eingehen-
Briand in diesem Jahre sein Paneuropa- Projekt entwarf, wurde er in den Dienst der imperialistischen Ideen Poincarss gezwungen und der frühere französische Ministerpräsident Tardieu respektierte die Wünsche des einen Mannes Poincars viel mehr als die einer Fraktion von hundert Kammerabgeordneten.
Will man der Persönlichkeit Poincarss unter Außerachtlassung des von ihm begangenen Kriegsverbrechens Gerechtigkeit widerfahren lassen, so muß man ihm zuerkennen, daß er persönlich untadelig war, und daß er eine ungeheure Arbeitskraft in den Dienst seines Vaterlandes stellte. Er hat die Geister in Frankreich geschieden. Die einen sahen in ihm ein bewundernswertes Genie. Die anderen verurteilten ihn — a» ° deren Spitze der inzwischen verstorbene Cle- ! menceau, von dem dos Wort stammt' j „Poincars weiß alles und begreift nichts."
Für uns Deutsche liegt in dem Nomen Poincars viel, sehr viel von dem inbegriffen, was wir von Frankreich erlitten haben: unbelehrbarer, fanatischer Haß und sinnlose Furcht auch vor dem abgerüsteten Reich. Nur eins kann man ihm auch von deutscher Seite nicht nachsagen: daß er bei uns trügerische Hoffnungen erweckt habe. Der Mann der gebrochenen Versprechungen heißt Briand. Bei Poincars wußte man stets, was man zu erwarten hatte. Schon in der Zeit vor dem Kriege, als der damalige frühere Staatspräsident Poincars deutschfreundliche Reden hielt, als er den deutschen Botschafter bevorzugt behandelte und als er sich alle Mühe gab, deutsch-französischen Zwischenfällen aus dem Wege zu gehen, schon damals wußte jeder, was Poincars in Wahrheit wollte. Dieser „Lothringer", der fließend Deutsch sprach und der rassenmäßig kaum als Romane zu bezeichnen ist, dieser Mann, der eine deutsche Frau geheiratet hatte, fühlte sich dazu berufen, das Eroberungswerk Ludwigs XIV. wieder herznstellen.
Es ist ihm. wenigstens größtenteils, auch gelungen. Aber eine Welt ist darüber in Trümmer gegangen, und so kann das Lebenswerk Poincarss nicht vonDauer sein.
den Verhörs in keiner Weise irgend einer Verbindung mit Terrororganisationen verdächtigt werden könne. Anna Majerski genieße den besten Ruf. Ihre Tätigkeit als jahrelange Erzieherin sei nach allen Richtun- gen geprüft und als einwandfrei fest- gestellt worden. Die Verdächtigung, daß zwi- scheu der Anna Majerski und dem Mörder Kalemen irgend eine Verbindung bestehe, habe sich auf Grund der eingehenden Unter» suchung als völlig grundlos erwiesen.
Die Belgrader Blätter beschäftigen sich am Montag ausführlich mit der Person Wlada Georgieff, den die Politika als den Helfer im Dienst des Mazedonierführers Michailloff bezeichnet. Für die Politika und die Breme ist es so gut wie sicher, daß er den Anschlag in Marseille ausgeführt hat. Die Politika meldet in diesem Zusammenhang, daß Georgieff zu den zehn Mazedoniern gehörte, die von der bulgarischen Regierung nach Auflösung ihrer Organisation steckbrieflich verfolgt wurden.
Für die in neuester Zeit sehr guten Beziehungen zwischen Bulgarien und Südslawisch ist es bezeichnend, daß die südslawi- schen Blätter Bulgarien in jeder Hinsicht zu entlasten suchen und die Mithilfe der Polizei in Sofia bei der Aufklärung des Verbrechens von Marseille lobend hervorheben. Als besonderer Beweis dafür, daß der Marseiller Attentäter Georgieff sei, wird auf den Umstand verwiesen, daß der Marfeiller Mörder die Spuren einer ärztlichen Behandlung aufwies, deren kcb Georaieff in Tokia s-Mte untergeben
müssen, und aus Grund deren der Mörder anfangs für einen Juden gehalten worden war. Die Personengleichheit des Marseiller Mörders mit Georgieff ist für die Belgrader Presse eindeutig geklärt. Die Nachforschungen der bulgarischen Polizei haben bisher jedoch noch kein abschließendes Ergebnis erbracht. Die bulgarische Polizei, die die Fingerabdrücke Wlada Georgiens besitzt, hat sich am Montag vormittag telegraphisch an die Pariser Polizei um Üebermiitlung der Fingerabdrücke des toten Mörders gewandt.
Die in Sofia lebende Frau Wlada Georgiens ist se st g e n o m m e n worden und soll bei ihrem Verhör angegeben haben, daß ihr Mann ein größeres Muttermal am Körver hat, das eine einwandfreie Feststellung der Persönlichkeit ermöglichen müßte.
AuMeimrMNde Mord- MWlunsen
Sofia, 15. Oktober.
Die Bulgarische Telegraphen-Agentur meldet: Wie die Polizeibehörde mitteilt, ist ein Mann namens Wlado Georgieff Tschernozemski, der nach den Auskünften aus Belgrad der Mörder König Alexanders sein soll, unter dem Namen „Wlado der Chauffeur" bekannt. Die bulgarischen Behörden haben ihn am 7. September d. I. durch das Amtsblatt und durch die gesamte Presse aus Grund des Gesetzes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und im Zusammenhang mit Maßnahmen gesucht, die gegen den mazedonischen Terror unternommen wurden. DaS Bild Wlado Georgieffs war zusammen mit den Bildern einiger anderer mazedonischer Terroristen in den bulgarischen Zeitungen veröffentlicht worden. Wlado Georgieff ist im Jahr 1897 in Stip geboren worden. Als er 14 Jahre alt war, ließ sich sein Vater mit ihm in Kamenitza sicher.
Irr tvtgesaote Rolim Mlmftet
Paris, 15. Oktober,
Der feit vier Tagen im Walde von Fon« lainebleau gesuchte Sylvester Malny» der bei seiner ersten Festnahme im Zusammenhang mit dem Marseiller Anschlag den Gendarmen wieder entwichen war, ist am Montag nachmittag auf der Landstraße am Ausgang der S adt Melun festgenommcn worden. Am Mouwg vormittag war das Gerücht verbreitet, daß sich Malnh das Leben genommen habe. Man hatte nämlich im Walde von Fontainebleau die Leiche eines Selbstmörders aufgefunden, der sich erh"ngt hatte und dessen Personalbeschreibung derjenigen Malnhs ähnlich war.
Belgrad ln Erwartung -es toten Königs Alexander
Belgrad, 15. Oktober.
Der Sonderzug mit den sterblichen Ueber- kesten des Königs Alexander wird gegen Mitternacht in Belgrad eintreffen. Wie die Blätter berichten, sind die Wagen des Zuges völlig mit schwarzen Tüchern ausgeschlagen. Die Fenster sind schwarz Überhängen. Der Wagen mit dem Sarg des Königs ist durch drei weiße Kreuze gekennzeichnet. Der ganze Zug ist außerdem mit Lorbeer geschmückt. An der Lokomotive ist eine große Tafel mit den letzten Worten des Königs angebracht: „Behütet Südslawien".
In Agram zogen in 15 Stunden rund 200 000 Menschen am Sarge vorbei. Auf der ganzen Strecke von Split bis Agram hatte sich die Bevölkerung mit Fackeln und Kerzen auf den kleinen Stationen versammelt, ununterbrochen betend und religiöse Lieder singend. Dasselbe Bild bietet sich auch jetzt auf der Strecke nach Belgrad. In der Hauptstadt tragen alle Bewohner Trauer- flor. Besonders die Bauern, die in großen Scharen in die Stadt geströmt sind, kaufen Bilder des Königs, die sie küssen und als Kostbarkeit, verwahren. Die Bauern
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