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Freitag den 17. Dezember 192V
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94. Jahrgang
Der östr. BMesprSsident Dr. Michael Haiaisch.
Der eiste Bundespräsident des neuen Bundesstaats Oeste.reich ist ein Mann der Wissenschaft, ein Mann, der der Parteipolitik bisher ganz fern gestanden hat. Wohl einigten sich auf ihn die Stimmen der Mehrheit der Bundesversammlung erst im vierten Wahlgang, nachdem sich die Durchsetzung eines Parteipolitikers als unmöglich erioiesen halte. Man darf aber deshalb Dr. Michael Hain,sch nicht als einen Außenseiter bezeichnen. Er ist vielmehr ein Mann, der, an der Schwelle des Treisenalters stehend, durch sein ganzes Leben den Beweis erbracht hat, daß er der ihm zuteil gewordenen Ehre wohl würdig ist. Als neutrale Persönlichkeit tritt er auf den höchsten Posten der Republik, als Mittler zwischen den Parteien, und Oesterreich darf sich zu dieser Wahl gratulieren, zumal der neue Bundespräsident auch alle für diesen hohen Posten eriorde: liehen repräsentativen Eigenschaften mitbringt.
Dr. Michael Hämisch ist am 15. August 1858 zu Aue bei Gloggnitz in Niederösterreich als Sohn eines Fabrikdirek- ivrS geboren. Seine Mutter ist die bekannte Vorkämpferin der österreichischen Frauenbewegung. Marianne Hämisch, die nun als 80jährige die Freude erlebt, ihren Sohn zur höchsten Würde des Staates berufen zu sehen. Von der Mutter hat Michael Hämisch auch das sozialpolitische Talent geerbt. Nachdem er das Akademische Gymnasium in Wien absolviert hatte, wandte er sich juristischen und volkswirtschaftlichen Studien zu. Ein Jahr besuchte er die Universität Leipzig, studierte dann in Wien weiter und ging 1886 als Schüler von Schmollcr und Wagner nach Berlin. Vorübergehend war er im Staatsdienst tätig, trat aber 1890 wegen eines Augenleidens aus, um sich ausschließlich wissenschaftlichen Studien und sozialpolitischen Arbeiten zu widmen Er entfaltete vor allem auch eine ausgedehnte praktische Tätigkeit auf dem Gebiete der Sozialpolitik. Seit l892 war Haiaisch auch als praktischer Landwirt mit Erfolg tätig. Er hat auf Grund der in der Schweiz gemachten Erfahrungen insbesondere die Alpenwirtschaft und die Molkerei verbessert und auf seinem Besitze in Aue bei Gloggnitz und auf seinem Gute in Obersteiermark Musterwirtschaften eingeführt. Als Schriftsteller trat Dr. Hämisch zum erstenmal 1892 mit einer Arbeit .Die Zukunft der Deutschöstreicher" hervor. 'Diese Studie hat damals wegen ihres Weitblickes und wegen ihrer wissenschaftlichen Begründung Aussehen erregt und ist in vielen Punkten durch die spätere Entwicklung bestätigt worden. Mehrere Arbeiten veröffentlichte er über die Entstehung und Berechtigung des Kapitalzinses Seine Häupttätigkett lag jedoch auf agrarpolitischem Gebiet. So schrieb er über bäuerliches Erbrecht, über Agrarreform, alpine Landwirtschaft, Fleischnot und über das Preblem der Teuerung. Erst im vorigen Jahr gab Hämisch für die Regensburger Tagung des Vereins für Sozialpolitik eine Sammelschrift mit Beiträgen von Fachmännern über die wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschösterreichs heraus. Nimmt man noch hinzu, daß Hainisch bei Vertretung wirtschaftlicher Interessen immer maßvoll und ein Gegner des Radikalismus war, so kann man wohl hoffen, daß er oer Mann sein wird, den Oester- rerch in seiner gegenwärtigen schwierigen Lage braucht.
Tages-Neuigkeiten.
Die künftige Erwerbslosenfürsorge.
Berlin, 16. Dez. Der vorläufige Reichswirtschaflsrat hat bei der 2. Beratung des Antrags Wissell über die produktive Erwerbslosenfürsorge die Leitsätze des Unterausschusses mit der Abänderung angenommen, daß eine Verlängerung der Arbeitszeit der Bauarbeiter nicht gefordert werden kann und Akkordarbeit nur nach tariflicher Vereinbarung zulässig sein soll. Ein Antrag Wissell auf Bildung eines Ausschusses von 24 Mitgliedern für Wohn-, Bau- und Stedlungswesen wurde gleichfalls einstimmig angenommen.
Das Befinden der Kaiserin.
Berlin, 16. Dez Aus Doorn wird über das Befinden der früheren Kaiserin berichtet, daß die langsame Abnahme der Körperkräfte bei abgeschwächter Herzfunktion der Lage ein unverändert ernstes Aussehen gebe.
Oesterreich verlangt als Bölkerbundsmitglied Grenzberichtigungen.
Wien, 16. Dez. Wir erfahren aus erster diplomatischer Quelle, daß Oesterreich beabsichtigt, sofort nach seiner Aufnahme in den Völkerbund bet diesem zwei Anträge auf Grenzberichtigung zu stellen: 1) gegenüber Südslawien auf Zuteilung des WiestalS und der Bachergebirgsgrenze mit Marburg und Pettau auf Grund neuer Volksabstimmung nach Kärntner Muster. 2) Gegenüber Tschechoslowakei auf Zuteilung der Thayagrenze mit Feldberg. Im Wiestal hatte die Bevölkerung anläßlich der Kärntner Abstimmung, obwohl sie nicht zum Abstimmungsgebiet gehört, eine freiwillige Abstimmung vvrgenommen, die trotzdem die Bevölkerung größtenteils slowenisch ist. doch für den Anschluß an Oesterreich sich aussprach.
Die Landtagswahlen in Estland.
Berlin, 16. Dez. Bei den Landtagswahlen in Estland find, wie aus Reval gemeldet wird, im ganzen 366 785 St. abgegeben worden. Aus die Parteien verteilen sich die Stim
men folgendermaßen: Arbeitspartei 82421, Agrarier 72448, Sozialdemokraten 56965, die Unabhängigen 38460, allgem. Volkspartei 30 438, die kommunistischen Gewerkschaften 23654, Deutsche 18438, Wirtschaftsgruppe 4346, Russen 377l.
Die Dölkerbunds-Wahlen.
Genf, 15. Dez. Die Völkerbundsversammlung nahm heute nachm. 4 Uhr ihre Arbeiten wieder auf. Auf der Tagesordnung stand die Wahl der 4 nichtständigen Mitglieder des Völkerbundes. Präsident Hymans erinnert an den Beschluß der Versammlung vom 11. Dez , wonach die vier nichtständigen Mitglieder auf ein Jahr gewählt werden unter Namensaufruf und in geheimer Abstimmung. Die Wahl findet in der Weise statt, daß über jedes neue Mitglied, d. h. über dos Land, das das Recht hat, einen der 4 nichtständigen Sitze in Anspruch zu nehmen, abgestimmt wird. Ende Dezember werden austreten: Spanien, Brasilien, Griechenland und Belgien. Im ersten Mahlgang, an dem sich außer Liberia und Honduras sämtliche Staaten beteiligten, entfallen auf Spanien von 39 abgegebenen Stimmen 35. Auf Chile und Brasilien je 3 Präsident Hymans proklamiert unter dem allseitig lebhaften Beifall der Versammlung Spanien als gewählt. 2. Wahl: Es beteiligen sich wieder außer Honduras und Liberia sämtliche 39 Staaten Stimmen entfallen auf Brasilien 33, Portugal 3, China 2, Schweden eine. Brasilien wird als gewählt erklärt. Beifall und Glückwünsche. 3. Wahl : Bei dieser Wahl zeigte sich bereits eine gewisse Errregung bei der Versammlung, weil bekannt ist, daß es sich um die Wiederwahl Belgiens handelt. Es erhielten Stimmen: China 1, Belgien 16, Schweden 1, Jugoslawien 1, Portugal 1. Präsident Hymans stellt fest, daß niemand die absolute Mehrheit von 20 Stimmen erreicht und daß infolgedessen über die beiden Staaten, die die meisten Stimmen erhalten haben, nämlich über China und Belgien ein 2. Wahlgang statifindeu muß, bei dem die Stimmenzahl entscheiden muß. Im 2. Wahlgang über den 3 nichtständigen Sitz erhielten Belgien 24, China l4, Rumänien eine Stimme. Belgien ist somit gewählt. Die Versammlung nimmt die Wiederwahl Belgiens mit langanhaltendem Beifall, für dsn- sich Präsident Hymans durch eine Verbeugung bedankt. In der Wahl für den 4 , bisher von Griechenland innegehabten nichtständigen Sitz wurden 39 Stimmen abgegeben. Dos absolute Mehr ist also wieder 20. Es erhielten China 21, Rumänien 7. Schweden 5, Tschechoslowakei 2, Griechenland, Schweiz. Portugal, Jugoslawien je eine Stimme. Unter dem Beifall der Versammlung erklärte Hymans China als gewählt. Der Völkerbundsrat wird sich nunmehr zusammensetzen aus den Vertretern Englands, Frankreichs Japans, Belgiens, Italiens, Brasiliens, Schwedens und Chinas. Der 9. Sitz ist bekanntlich noch immer unbesetzt infolge des bisher nicht erfolgten Beitritts Amerikas zum Völkerbund.
„Hat Poineartz den Krieg gewollt?-
Paris, 16. Dez. Aus der Feder des Sozialisten Fernand Gouittenoire de Toury ist eine kleine Schrift erschienen unter dem Titel „Hat Poincare den Krieg gewollt I" Der Verfasser hat den Krieg mitgemachr und ist als Krüppel heimgekehrt. Er beginnt änit der ersten Handlung, die Poincarö nach seiner Wahl zum Präsidenten der Republik unternommen hat, nämlich mit der Abberufung des Botschafters in Petersburg George Louis und dessen Ersetzung durch Delcassö. Die „Humanste" sagt in einer kurzen Betrachtung des Büchleins, Toury hätte als Titel genau so setzen könen „Poincarö hat den Krieg gewollt". Aus den Untersuchungen des Verfassers ging hervor, so schreibt die „Humanste", daß Poincarö in die früheren zaristischen Intrigen vor dem Krieg verwickelt war und daß er einer der Hauplurheber der Abberufung des damaligen Petersburger Botschafters sei, der den Frieden erhalten wollte, und für dessen Ersetzung durch den verhängnisvollen vom Giößenwahn befallenen Delcassö, der seit 1905 die Revanchepolitik verkörpert habe. Barbouche hat ein Vorwort zu der Schrift gegeben, in dem er darauf hinwsist, Poincarö habe schon 1912 als Ministerpräsident und als Minister des Aeußern auf die Abberufung des Botschafters hingearbeitet, damals aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung in Frankreich davon abstehen müssen. Die Beziehungen, die Poincarö mit der verhängnisvollen Persönlichkeit, welche damals in Paris die Funktion eines russischen Botschafters versah. (Jswolski), unterhielt, ließen keinen Zweifel auskommen, an der KriegS- intrige, die sich «in Jahr später abspielte. Das Büchlein deckt mit einem Schlage das ganze komplizierte Räderwerk auf, dessen Geheimnisse nur die diplomatischen Kanzleien kannten.
Eine Rede Trotzki«.
Kopenhagen, 16. Dez. Nationallidende meldet aus Hel- singfors, Trotzki habe auf einem landwirtschaftlichen Kongreß in Moskau erklärt, daß das rote Heer auf die Hälfte der gegenwärtigen Stärke herabgesetzt werden würde. Die Sowjetregierung werde mit allen Mitteln versuchen, den Frieden aufrechtzuerhalten und einen endgültigen Frieden mit den Großmächten bei weitgehenden Zugeständnissen zu erlangen. Der Umstand, daß England den Vorschlag zu einem regelrechten Handelsabkommen habe überreichen lassen, lasse die Hoffnung zu, daß der Friede nicht weit entfernt sei. Trotzki erwähnte auch die ernsten Gegensätze, die zwischen Heer und Volk in Rußland entstanden seien. Diese Gegensätze würden durch die Neuorganisation des Heeres bald beseitigt werden.
Englische Marineforderungen.
London, >6. Dez. Im Unterhause brachte die Regierung den Antrag auf Genehmigung eines Ergänzungskredits für die Kriegsmarine in Höhe von 6'/- Millionen Pfund Sterling ein.
Das künftige französische Heer.
Paris, 16. Dez. Die Gesetzesoorlage über die Rekrutierung und die Organisation des Heeres befaßt sich mit dem allgemeinen Ausbau. Grundsätzlich wird unterschieden zwi schen Landheer, Territorialtruppen und allgemeiner Truppen aufstellung. Für den Kriegsfall ist die Einverleibung der Reserve in die aktive Truppe vorgeschlagen. Die Landwehr wird auf die >0 letzten Jahrgänge beschränkt, die in der Industrie und der Landwirtschaft beschäftigt werden sollen. Die Militärdienstzelt wird von 1922 ab 18 Monate betragen. Um einen allmählichen liebergang zu ermöglichen, werden die Jahrgänge 1920 und 1921 2 Jahre unter den Waffen bleiben. Der Gesetzentwurf sieht auch neue Bestimmungen über die Zusammensetzung des ReseiveosfizierkorpS u. Begünstigungen in Bezug auf die Dienstzeit für die Mitglieder kinderreicher Familien vor.
König Konstantin unterwegs.
Venedig 16. Dez. König Konstantin ist gestern in Begleitung der Königinmutter Olga, der Prinzessinnen und des Prinzen Paul mit Gefolge hier eingetroffen. Er wird sich heute nach Athen einschiffen. ' _
Große Telefonstörungen infolge Schneefalls.!
Eisenach, 16. Dez. Durch starken Schneefall und Oststurm haben in den letzten Tagen fast alle oberirdischen Telefon und Telegrafenleitungen Westthüringens Schaden erlitten. Die Verbindungen der einzelnen Städte unter sich sind gestört, ebenso sind die Leitungen nach Sachse::, Berlin und dem Süden unterbrochen. Die Ueberlandleistungen der großen Elektrizitätswerke sind unter der schweren Schneelast teilweise zusammengebrochen. Besonders arg sind die Verwüstungen im Gothaer Bezirk. In Eisenach ist durch Schneebruch die Abgabe des elektrischen Lichts und des Kraftstroms stark gefährdet. Die elektrischen Bahnen haben den Betrieb eingestellt. Die Zeitungen können nur mit starker Verspätung erscheinen. Das Stadtlheater kann nicht spielen. Die Stadt ist ohne Licht.
Hat Wilson Gewissensbisse?
Berlin, 16. Dez. Nach einer Meldung des „Matin" hat Witson an das amerikanische Volk das Verlangen gerichtet, eine halbe Milliarde Dollar zu zeichnen, jum die notleidenden Kinder Europas zu unterstützen.
Die Lage der italienische» Regierung.
Rom, 16. Dez Gegenüber Meldungen der OppofitionS- presse, Giolitti wolle zurücktreten, erklärte der heutige Ministerrat offiziell, die Regierung oleibe auch nach den letzten Zwischenfällen in der Kammer auf ihrem Posten. Der unparteiische Beobachter muß jedoch eine rapid zunehmende Zersetzung der Regierungsmehrheit feststellen, sodaß Ueber- raschungen nicht ausgeschlossen erscheinen, solange durch das Verbleiben d'AnnunzioS in Fiume das Hauptwerk der Regierung Giolitti, der Vertrag von Rapallo, gefährdet ist.
Polnisch-vatikanischer Konflikt wegen Oberschlestev.
Rom, 16. Dez. Der polnisch-vatikanische Konflikt, der wegen des Agitationsverbots deS Kardinals Bertram entstanden ist. hat seinen Höhepunkt erreicht. In den nächsten Tagen treffen in Rom die beiden Bischöfe Savieha und Feo- dorowitsch ein, um persönlich ihr schwerstes Geschütz aufzufahren. Der Vatikan wies bisher standhaft in Rom und Warschau durch den Nuntius Reit alle JnterventionS begehren ab. Andererseits möchte der Vatikan den effektiven Bruch mit dem polnischen Liebling vermeiden. Ec legt deshalb der Warschauer Reise des polnischen Gesandten beim Vatikan Kowalski nur temporären Charakter bei, obwohl sie nach dem Votum des polnischen Landtags die endgültige Abberufung bedeutet.
Aufhebung finnländischer EinfnhrbeschrSuknnge«.
Stockholm, 16. Dez. Finnland steht vor der Aufhebung eines großen Teiles seiner Einfuhrbeschränkungen. Der Finanzrat schlägt der Regierung die Freigabe der Einfuhr von zwei Dritteln aller im Zolltarif aufgeführten Waren vor. Nur für Luxus und ähnliche Waren sollen noch Beschränkungen bestehen bleiben.
Moskau sucht Verbindung mit Athen.
London, 16. Dez. Wie aus Athen gemeldet wird, hat die Moskauer Regierung der griechischen unmittelbare Bei Handlungen über die Wiederaufnahme der normalen Beziehungen zwischen beiden Ländern vorgeschlagen.
Zulassung der deutschen Vertreter zur Brüsseler Konferenz.
Brüssel, 16. Dez. Die Konferenz der alliierten Sachverständigen hat einstimmig Delacroix zum Vorsitzenden gewählt. Das jodqnn aufgestellte Arbeitsprogramm, auf daS u. a. die Erörterung der finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands ges tzt ist, und seine Zahlungsfähigkeit, wird heute den deutschen Vertretern mitaeteill. Diese werden von heute früh an an der Konferenz teilnehmen.