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NagolÄer Tagblatt «Der EeseÜschsster"
Samstag, den 10. Oktober 1931
Sie haben in jenen kleinen Erkern gelehnt und das Gedämpfte dieser toten Stadt empfunden. Sie haben diese Türen geklinkt, haben in dem uralten Jesuitenstift neue Pläne ausgearbeitet, haben unter blitzenden Kristallkronen getäfelt.
Sie haben gesungen — und sind jung gewesen.
Aber vor ihnen lag doch nur die kurze Dünung des Kanals.
Sie hörten das zurückhaltende Ticken der alten Uhren — und fühlten, wie Stunde um Stunde verrann.
Einer setzte sich an das Klavier, ein anderer kramte seine Geige hervor, und dann floß Schwermut durch den holzgetäfelten Raum.
Das alte Pendel aber schwang unaufhaltsam.,
Heute ging der wieder an Bord, — morgen jener.
Aus dem Stej
In Frankfurt am Main gab es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts einen berühmten Kanzelredner, der auch ein trinkfester Herr und jovialer Mann war. Als Geistlicher hatte er großen Zulauf, und die Kirche war immer voll, wenn er predigte.
Einer seiner Freunde sagte eines Tages beim Wein zu ihm: „Du sprichst wirklich gut — das ist wahr. Aber man merkt auch, du bereitest jede Deiner Predigten sorgfältig vor."
„Das Gegenteil ist richtig", sagte der Pfarrer. „Ich überlasse es ganz dem Augenblick, was und über war ich predige. Wenn ich zur Kanzel hinaufsteige, weiß ich manchmal selbst noch nicht . . . was denn, Du glaubst es nicht?"
„Verzeih', lieber Freund. Ich zweifle ein bißchen, ob Du uns da nicht zum Besten hältst."
„Wir können ja die Probe machen. Ich biete Dir eine Wette an. Ich wette um sechs Flaschen dieser schönen Liebfrauenmilch, die hier vor uns steht, mit Dir. Beim nächsten Gottesdienst in der Kirche setzt Du Dich — Du mußt dann aber schon früh kommen — auf dem Eckplatz rechts in der ersten Reihe. Da muß ich an Dir vorbei, wenn ich aus dem Kirchenstübchen nach der Kanzel gehe. Du schreibst mir nun auf einen kleinen Zettel ein Thema auf, über das ich predigen soll. Den Zettel faltest du zusammen, und im Vorbeigehen nehme ich ihn Dir aus der Hand und predige dann über das angegebene Thema. Und wenn Du ehrlich der Ansicht bist, daß meine Predigt über das Thema, das Du mir erst in der Kirche gibst, nicht so gut ist wie meine früheren, zahle ich die sechs Flaschen. Andernfalls . . ."
Der Sonntag kam. Der Freund saß rechtzeitig auf dem Platz rechts an der Ecke der ersten Reihe und hatte ein geheimnisvolles Papierchen in der Hand.
Die Orgel erklang, die Gemeinde sang die ersten Verse des vorgeschriebenen Liedes. Da öffnete sich die Tür zum Kirchenstübchen. Der Pfarrer kam heraus und schritt lang-
Jeder ging freiwillig.
Jeder wußte, daß die Sperre draußen von Mal zu Mal mehr ausgebaut war. — Jeder wußte, daß man mit Geschützen und Maschinengewehren, mit Torpedos und Wasserbomben. mit Linienschiffen, Kreuzern, Torpedobooten und Zerstörern, mit Schnellbooten und U-Vootfallen, mit Flugzeugen und Luftschiffen, mit Netzen und Kabeln auf einem Gebiet von wenigen 100 Quadratkilometern sie jagen würde, — daß in den Nächten Magnesiumfackeln und Scheinwerfer nach ihnen suchten. — Jeder wußte, daß ein Durchkommen über Wasser und unter Wasser fast ausgeschlossen war — und von Mal zu Mal aussichtsloser wurde.
Sie wußten, was kam. Sie hatten ihr Leben lieb, wie jeder junge Mensch — und gingen doch immer neu hinaus.
Von Rudolf Presber.
sam nach der Kanzel. Als er an seinem Freude vorbeikam, nahm er ihm rasch das Zettelchen aus der Hand.
Oben auf der Kanzel entfaltete er, was der Gemeinde durch das Betpult verdeckt war. das Zettelchen. Einen Augenblick machte er sehr erstaunte Augen. Es stand überhaupt nichts darauf. Es war unbeschrieben.
Aber schon ging ein freundliches Lächeln über das Gesicht des Pfarrers. Er besann sich einen ganz kleinen Augenblick. Dann begann er mit seiner mächtigen, dunklen Stimme: „Andächtige Gemeinde, meine lieben Brüder und Schwestern in Christo! Aus Nichts hat Gott die Welt gemacht — das soll heute das Thema unserer Betrachtung sein."
Der Freund unten machte ein sehr langes Gesicht. Die Gemeinde lauschte.. Am Abend trank der Pfarrer als East seines Freundes im „Prinzen von Arkadien" Liebfrauenmilch.
Altdeutsche Gottesdienste.
Nach einer alten Bestimmung des alemannischen Gesetzes hatte ursprünglich jeder Christ das Recht, seinen Got- geschah dies in der Nähe von Brunnen, Quellen und -Ulf seinem Hofe abzuhalten. Nur an den Hochfesten — neben Ostern, Pfingsten, Weihnachten nennt ein Konzilsbeschluß noch Epiphanias, Himmelfahrt und Johanni — mußte die Mutterkirche besucht werden. In ihrem Eifer verwandelten dann die christlichen Missionare zahlreiche heidnische Opferstätten in Kapellen und Vethäuser, besonders gern geschah dies in der Nähe von Brunnen, Quellen und auf Bergeshöhen. Schon Gregor der Große hatte Weisung gegeben, die alten Götzenhäuser nicht zu zerstören, sondern sie mit Weihwasser zu besprengen und in den Dienst Gottes zu stellen, damit sich das Volk umso leichter an den altvertrauten Stätten versammle, um jetzt die Lehre Christi zu hören, die es früher abgelehnt habe.
IttSehr md Verkehrswege iu alter unk arm Zeit '
Die ältesten Wege unserer Heimat.
Daß es in und um Nagold uralte Wege geben muß geht schon daraus hervor, daß Nagold eine sehr alte Siedlung ist und daß sich in der Nähe eine ganze Anzahl von alten Siedlungen befindet. Man brauchte Nachbarortswege, man brauchte aber auch Fernwege, um eigene Erzeugnisse zu verkaufen und Erzeugnisse fremder Gegenden dagegen einzutauschen, besonders Wein, Salz, Metalle u. a. Zudem bildete Nagold einen Ilebergangspunkt vom Gäu und vom Unterland zum Schwarzwald und gegen die alten Kulturmittelpunkte am Rhein, da gab es Handelsleute, die kamen und gingen, um ihre Geschäfte zu betreiben. Unsere heutigen Straßen sind aber von jenen uralten Wegen sehr verschieden; jene Urstraßen hatten keinen künstlerich angelegten Straßenkörper; es waren reine Erdwege, wohl meist durch öftere Benützung von selbst anstanden, wie heute noch bei eintretendem Bedarf Wege entstehen. Diese Wege bildeten die kürzeste Strecke zum Ziel, gleichviel ob dabei Schwierigkeiten, wie steile Ab- und Aufstiege, Bäche und Flüsse zu passieren waren. Diese Urwege stiegen hinab in die Täler, aber nur, um sofort wieder emporzusteigen; beim Auf- und Abstieg kannte man auch keine Windungen, mit deren Hilfe eine Straße die Höhe erklimmt. Sie führten fast ganz auf der Höhe, über den Kamm der Berge, auf der Wasserscheide zwischen zwei Flüssen oder Bächen. Man mied wie irgend möglich, die Täler; Höhenwege hielt man für sicherer gegen Ueberfälle; Höhenwege gewährten einen besseren Ueberblick über die Gegend und boten einen schöneren
"') Entnommen aus: „Die Stadt Nagold - - ihr Werden und Wachsen bis auf die Gegenwart" von Gg. Dieterle und F. Schuster. Dieses einzig schöne, lehrreiche und unterhaltsame Heimatbuch ist zum Preise von 3.50 Mark (Halbl.f und 4.50 Mark (Ganz!.) durch die Buchhandlung E. W. Zaiser- Naaold zu beziehen.
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Fernblick; Höhenwege blieben auch eher im Stand als Talwege, wo der Fluß zu überschreiten ist und häufig Ueber- schwemmungen oder morastiger Grund den Wanderer hemmt. Und wenn nur der Weg nach Jselshausen oder nach Rohrdorf, die doch beide im Tal liegen, zu machen war, der Weg mußte über den Berg führen. Solche ausgesprochenen uralten Wege haben wir mehrere bei Nagold. So ganz besonders die Straße, die aus dem Neckarland bei Stuttgart-Cannstatt über das Gäu und Nagold gegen Dornstetten—Freudenstadt und den Kniebis zum Rheintal führte und die viele Jahrhunderte lang den Verkehr vermittelte. Diese Verkehrslinie blieb auf der Höhe von den Stuttgarter Bergen an über die Filderebene und die Eäuhochfläche bis zum Abstieg ins Nagoldtal. Bis dorthin waren nur leichte Erhebungen und Senkungen zu überwinden. Mochte die Straße im Lauf der Zeit, besonders in der Nähe von Herrenberg, keine Abweichungen erfahren, im ganzen blieb die Richtung dieselbe. Sehr steil gings zum Nagoldtal hinab. Die Straße führte direkt auf den Platz des heutigen Amtsgerichts zu, umzog die Stadtmauer, ging über die Waldachfurt und lief dem Killberg zu; steil gings dort empor, noch steiler als heutzutage, was man an den verlassenen Hohlwegen über der jetzigen Straße sieht. So blieb dann die Straße auf der Höhe fast ohne Unterbrechung bis zum Abstieg vom Kniebis zum Rheintal; sie führte über das Walddorfer Chausseehaus, an Walddorf, Egenhausen und Vösingen vorüber nach Pfalzgrafenweiler. Der Straße war früher nicht so breit wie heute; sie genügte aber für jene Zeit durchaus, da man keine vierräderigen Wagen hatte und da der Verkehr entweder mit schmalen Ochsenkarren oder mittels der Saumtiere besorgt wurde. Diese Höhenstraße blieb für den Verkehr in Benützung bis um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Solche alten Höhenwege nannte man Rennsteigen. In einer Urkunde von 1417 heißt dieser Weg auch ausdrücklich Rennsteige. Das Wort wird zwar in der Urkunde wiederholt Rindsteige geschrieben: aber es kann nicht zweifelhaft sein, daß es eigentlich Rennsteige heißen müßte.
Ein anderer uralter Weg verband Nagold mit dem Murgtal und mit Pforzheim. Auch dieser Weg war ein Höhenweg. Er stieg auf der heutigen Rohrdorfer Steige zum Härlewald empor und blieb auf der Höhe von Mindersbach, Rotfelden, Wenden und Wart und vereinigte sich dann mit einem anderen wohl späteren Strang, der von Nagold ausging und über Rohrdorf, Ebhausen, Ebershardt herkam; er blieb dann auf der Höhe bis in die Gegend von Pforzheim. Eine andere Linie zweigte ab in der Gegend des heutigen Simmersfeld, ging die Enzsteige hinab ins Enztal, wo sich dann Wege gegen Besenseld—Murgtal und Enzklösterle—Gernsbach auch je über die Höhen anschlossen.
Auch der Weg von Nagold über Emmingen nach Wild- Lera dürfte sehr alt sein; er ist kein eigentlicher Höhenweg. führte aber doch ziemlich hoch über dem Nagoldtal dem Ziel zu. Der Weg von Nagold nach Altensteig stand im Zusammenhang mit einem schon berührten Höhenweg: er führte die Rohrdorfer Steige hinauf, hielt sich fast bis Rohrdorf auf der Höhe und stieg ins Nagoldtal hinab, um nach Walddorf emporzuführen und dann die steile Steige zum Bömbach und Nagoldtal hinabzusteigen. Eine andere, wohl noch ältere Steige führte von Mohnhardt hinab ins Nagoldtal, überschritt beim jetzigen Bahnhof von Verneck die
Nagold und stieg sehr steil die „Alte Steige" gegen Alten- steig Dvrf empor, um über Langenloch und Beuren dem : Enztal zuzuführen. Endlich mag hier noch ein alter Weg s der an der Ostgrenze der Markung Nagold sich in norku . südlicher Richtung hält, Erwähnung finden, genannt die Heerstraße. Sie zeigt sich herüber aus dem Oberamt Horb vom Neckar bei Mühlen über Eutingen und Vollmaringen zur Lohndorfer Kapelle, sodann an der Grenze zwischen Nagold und Oberjettingen gegen Wildberg, um vielleicht in die schon genannte Pforzheimer Straße einzubiegen.
Der Name Hochsträß oder Heerstraße besagt uns über Zweck und Bedeutung der Straße selbst nichts. Bekanntlich kommt diese Straßenbezeichnung in Württemberg häufig vor; er mag sich ursprünglich auf das militärische Gebiet bezogen i haben; die Bezeichnung ist aber mit der Zeit so allgemein ! geworden, daß man jedenfalls keinen sicheren Schluß auf j eine Römerstraße darin finden kann. Sehr oft ist die Heer- ! straße und Höhenstraße als gleichbedeutend genommen und die eine Bezeichnung mit der anderen gewechselt worden.
Es hat eine Zeit gegeben, wo man das ganze Land und so auch die Umgebung von Nagold ganz durchzogen glaubte von Römerstraßen. Allein keine Spur deutete darauf hin; für die Zwecke der Römer genügten die vorhandenen Wegs.
Die Bormannsche
Skizze von Bruno L. Lein ingen. >
Jeden Montag so gegen die neunte Morgenstunde '
schlurfte die Bormannsche, wie man Amalie Bormann all- >
gemein nannte, in ihrem ewig zerrissenen Niedertretern die vier Steinstufen des Kaufhauses Winklers sel. Witwe empor. Sie ergänzte hier ihre Vorräte an Nähgarn, Knöpfen, Strickwolle, Bändern, Seife und den vielen Klei- !
nigkeiten, die sie in unermüdlichen Hausiergängen bei den ,
Bauernfrauen abzusetzen verstand. — Woher sie stammte, !
wo sie wohnte, ob sie Frau, Fräulein oder Witwe war, da- !
rum bekümmerte sich niemand. Viele glaubten, daß sie :
überhaupt keine feste Wohnung habe, denn im Sommer !
schlief sie dort, wo sie sich gerade aufhielt, im Winkel einer ^
Scheune. Im Winter hielt sie ihr Nachtlager im Warteraum eines Bahnhofes. — Man kannte sie, wie man den ! Laternenpfahl am Straßenbord oder den Handweiser an der Wegekreuzung kannte. Sie war durch ihre jahrzehnte- :
lange Erscheinung zeitlos und unpersönlich geworden.. i
In der Ladentür blieb sie stehen und blinzelte mit ihren ! kurzsichtigen Augen umher; anstatt einen Gruß zu bieten, ' fragte sie mit ihrer fettigen Stimme: „Watt hätt klockt?"
Erst wenn ihr einer der bedienenden Ladenjünglinge die genaue Zeit mitgeteilt hatte, schlurfte sie bis zum Verkaufstisch vor, setzte umständlich ihre Tragkiepe und die beiden Henkelkörbe nieder, schneuzte sich ausgiebig mit Daumen und Zeigefinger, die sie an der blauen Kattunschürze reinigte, und begann ihren Einkauf. Sie wählte lange. Jedes Stück hielt sie dicht vor ihre Augen. So dauerte es jedesmal drei bis vier Stunden, bis sie ihr Warenlager auf- ' gefüllt und in der Kiepe und den Körben verstaut hatte.
Es war zur Tradition geworden, daß ihr der Besitzer des Kaufhauses Winkler sel. Witwe, Herr Hans Winkler, eine große Tasse Kaffee und zwei Streifen Zuckerkuchen spendierte. Auch sah man es als herkömmlich an, daß sie ihre Einkäufe durch allerlei Kniffe zu verbilligen suchte.
So beglich sie den Gegenwert der erhandelten Waren stets mit dem Kupfer-, Nickel- und kleinen Silbermünzen, die > sie aus einer Kakaotiite auf den Ladentisch stülpte. Alle ! Geldstücke hatten durch das Kakaopulver ein gleichmäßig ?
braunes Aussehen angenommen, welches das Nachzählen :
erheblich erschwerte. Man tat ihr auch immer den Gefallen, sich um ein oder zwei Nickel zu ihren Gunsten zu oerrechnen. Als Draufgabe verlangte sie zwei oder drei Stücke ' Seife. Aber beileibe nicht für ihren persönlichen Gebrauch.
Ihr Aeußeres tat kund, daß sie dem Gebrauch dieses nützlichen Reinigungsmittels durchaus abhold war und daß sie deren Verwendung für den eigenen Körper als sündhafte Verschwendung ansah. Die Seife wurde bei ihrer Kundschaft mit abgesetzt. Und dann stahl die Bormannsche, stahl, was erreichbar war, am liebsten, als begehrter Artikel ihrer Abnehmerinnen, Schllrzenbänder. Sie ließen sich auch am leichtesten unbemerkt mitnehmen. Alle wußten es, aber jeder tat so, als sähe er es nicht. Es war eben auch zur Tradition geworden, daß die Bormannsche mauste.
Jahrzehntelang war so das Geschäft zur beiderseitigen Zufriedenheit abgewickelt worden. Vis, ja bis eines Tages j das Eeschüftspersonal durch die Einstellung Fritz Springers vergrößert wurde. Ein Schalk war der, immer zu Streichen und Schelmenstückchen aufgelegt. So trug er seinen Namen mit vollem Recht. Fritz Springer bediente eines Tages die Bormannsche aufmerksam und gewissenhaft; so aufmerksam, daß er nicht zu bemerken schien, wie einige Schür- zenbänder, die aufreizend vorn an der Tischkante lagen, im weitbauchigen Henkelkorbe verschwanden. Aber sonderbar! Die Bänder nahmen kein Ende. Immer neue kamen aus dem großen Haufen, der wirr auf dem Ladentische lag, zum Vorschein, graue und blaue, Helle und dunkle, in endloser Reihe aneinander geknüpft. Die Bormannsche stopfte und stopfte, sie wurde rot und schwitzte vor Erregung. Endlich hatte sie es geschafft. Ausatmend schlurfte sie eiligst dem Ausgang zu und berechnete schnell, daß es mindestens zwanzig Bänder waren. Das ergab bei fünfzehn Pfennigen das Stück einen Taler Extraverdienst. Das war die Aufregung schon wert. Wie sie nun die Steinstufen herabstampfte, er- , füllte sich das Verhängnis. Ihre kurzsichtigen Augen hatten übersehen, daß mit einem langen, schwarzen Zwirnsfaden das Ende des letzten Bandes an dem Ladentisch befestigt war. Unter der abgeschabten Wachstuchdecke des Korbes lugte ein Stückchen Band hervor, kroch eilig heraus, entwickelte sich zu einer Schlange, die sich mit jedem Schritt vergrößerte und sich buntfarbig hinter der Bormannschen auf der Straße herringelte. Die Leute blieben stehen, lachten. Die Jungens. johlten, schrien und pfiffen. In der Haustür drängte sich das gesamte Personal von Winklers sel. Witwe mit blauroten Gesichtern und lachte zum Zerbersten. Endlich merkte die Bormannsche, daß da etwas nicht in Ordnung sei. Sie drehte sich um und sah die Bescherung. Aufs neue stopfte sie die widerspenstigen Bänder in den Korb, stürmte in den Laden bnd keifte: „Die verdammten Ladenschnösels, eine alte Frau zum Affen zu haben."
Herr Winkler eilte hinzu, und es gelang ihm auch schließlich, mit zwei Kognaks und drei weiteren Stück Seife den gerechten Zorn der Alten zu dämpfen. Das alte Vertrauensverhältnis war wiederhergestellt. Aber die Vor- mannsche blickt seitdem noch mißtrauischer und prüft jeses Ende Band, das sie mit gutem Recht stiehlt, auf seine Bewegungsfreiheit.