Nagoltzer Tagbl«ttDer Gesellschafter

Seite 5 Nr. 232

Montag, den S. Oktober 1931

Württemberg

Stuttgart, 4. Oktober.

Eisenbahnbetriebsunfall. Di« RBD. Stuttgart teilt mit: Auf der Bahnstrecke Waldenburg-Künzelsau ist am Freitag um 2.35 Uhr nachmittags die Lokomotive und ein Personenwagen des Personenzugs 317 aus bis jetzt nicht bekannter Ursache entgleist. Verletzt wurde niemand.

Die nachfolgenden Personenzüge mußten ausfallen; der ! Personenverkehr wird durch Kraftwagen aufrecht erhalten.

Weitere ungünstige Arbeitsmarkt-Entwicklung. Im Mo­nat September ist auf dem kaufmännischen Stellenmarkt noch keine Beruhigung eingetreten. Der Schrumpfungs­prozeß der Wirtschaft nimmt seinen Fortgang. Betriebs­einschränkungen und -Stillegungen, vornehmlich im west­deutschen Bezirk, halten unvermindert an. Neue Verschär­fung und Schwierigkeiten in Handelskretsen brachte der Sturz des englischen Pfund-Kurses. Die jetzige Lage auf dem kaufmännischen Arbeitsmarkt wird gekennzeichnet durch die für die Stellenvermittlung des Deutschnationalen Hand- lungsgehilfen-Verbandes errechnete Andrangsziffer (Be­werber auf eine neugemeldete Stelle) 78,7 im September.. 1931 gegenüber 79,2 im August 1931 und 32,5 im Sep- tmber 1930.

Aus dem Lande

Borahaufen OA. Stuttgart, 4. Okt. Betriebsein­stellung. Die Zweigstelle der Firma Kübler u. Co. cher wird ab 23. Oktober, nachdem schon in letzter Zeit beträcht­liche Entlassurmen vorgenommen wurden, geschlossen. Etwa 80 weibliche Personen werden arbeitslos.

Münsingen, 4. Okt. Ein wunderliches Ei. Dieser Tage legte eine schwarze Minorkahenne der Geflügelzucht Fr. Bopp hier ein 100 Gramm schweres Ei, das eine eigen­tümliche bauchige Form hatte. Beim Aufschlagen zeigte es sich, daß in Wirklichkeit 2 Eier ineinander waren. Das zweite, kleiner« Ei hatte eine feste, ausgewachsene Eier­schale.

Münsingen, 4. Okt. Mini st erbesuch im Arbeits­lager Münsingen und Feldstetten. Letzte Woche kam Finanzminister Dr. Dehlinger zum Besuch d.s studentischen Arbeitslagers nach Münsingen. Der Minister besichtigte die Arbeitsleistung der Lagerteilnehmer an der Arbeitsstelle im Tiefental und ließ sich im Anschluß daran bei der Besichtigung der Wohnbaracke im Neuen Lager von dem Lagerführer cand. phil. Waidelich über die Aus­gestaltung des inneren Lagerlebens der Kameradschaft un­terrichten. Zum Schluß sprach der Minister der Lager­kameradschaft seine volle Anerkennung aus. Für die Fort­setzung des Arbeitslagers durch den Heimatdienst der Tü­binger Studentenschaft sagte der Minister die Unterstützung des Finanzministeriums durch einen bestimmten Beitrag zu.

Ebingen, 3. Okt. Zur Stadtvorstandswahk. Die Frist für die Bewerbungen zur Oberbüraerme! st erwähl in Ebingen, die am 18. Okiober stattfindet, ist gestern ab­gelaufen. Außer Oberbürgermeister Spanagel, der sich zur Wiederwahl stellt, hat sich niemand als Bewerber gemeldet.

Schwenningen, 4. Okt. Stürmische Sitzung des Gemeinderats. Bei der Beratung der Herbstbeihilfe für die Erwerbslosen wurden die Verhandlungen fortwäh­rend durch Zurufe her zahlreich im Zuhörerraum anwesen­den Kommunisten gestört, so daß Oberbürgermeister Dr. Gönnemvein schließlich die Tribüne räumen ließ. Ein so­zialdemokratischer Antrag wurde einstimmig angenommen, daß für die Fürsorgebedürftigen in erster Linie Kartoffeln, Kleider und Schuhe, Brennstoffe und für die Ledigen ein warmes Mittagessen gegeben wird. Für die Winterszeit wird wieder der große Saal der Stadtküche als Wärmcstube für die Erwerbslosen bereitgestellt.

Ulm, 4. Okt. Schwurgericht. Am Montag begin­nen die Verhandlungen des Schwurgerichts für die 3. Ta­gung. Als schwere Fälle sind anzusehen am 13. Oktober die Verhandlung gegen die Bahnhofräuber Karl Julius Schütte, Hafenarbeiter aus Hamburg und Friedrich Kolleger, L>chlos- ^ ser aus Hohenems (Vorarlberg) wegen schweren Raubs ? u. a., ferner gegen den Dienstknecht Anton Gobs aus Andel- z fingen am Mittwoch, den 14. Oktober, wegen Mords, lim j übrigen stehen noch zur Verhandlung zwei Brandstiftungen, i

^ ein versuchter Totschlag und 6 Personen wegen Meineids. ! Eine interessante Belastungsprobe erfolgte ! bei der C. D. Magirus A G., die neuerdings wieder ein» ^ Riesen-Ganzstahlleiter für die Londoner Feuerwehr her- j stellt. Gestern wurde ein 9 Meter langes Glied einer Ganz- ftahlleiter wagrecht über zwei eiserne Böcke gelegt. Aus ^ die Leiter standen 32 Arbeiter, Mann hinter Mann. Die ! Leiter, ganz aus Hohlprofil, zeigte nur 2 bis 3 Cm. Durch- ^ biegung. Eine Leistung, die einzig dasteht. Die Sprossen dieser geschweißten Leitern sind mit geripptem Gummi be­kleidet, so daß bei Frost der Feuerwehrmann mit nassen Stiefeln nicht ausgleitet und nicht am Metall anfriert. Rußland erhält für Städte im Uralgebiet zwei der modern­sten Autoleitern mit Schaumlöschmaschinen und starken Pumpen (24 000 Liter). Die Magiruswerke stellen nun auch aus Aluminium kleine Leitern fürSteiger" her, die nur ein Drittel des Gewichts der gleich großen Holzleiter aufweisen. Ganz neu sind die Kleinmotor-Spritzen mit Luftkühlung.

Tetknang, 3. Okt. Schwere Anschuldigungen gegen einen Polizeioberwachtmeister. In der Strafsache gegen den hiesigen Polizeioberwachtmeister Z o- del, der sich seit 4. September in Ravensburg in Unter­suchungshaft befindet, ist zu berichten, daß die Vorunter­suchung abgeschlossen ist. Sie lautet auf Verleitung zum Meineid, wissentlich falsche Anschuldigung und versuchte Notzucht. Das Hauptverfahren dürfte in einigen Wochen stattsinden. In der gerüchtweisen Besprechung des Falls Zobel spielt auch die noch nicht aufgeklärte Tötung des Kinds in Bürgermoos bei Tettnang am 1. Dez. 1928 eine Rolle. !

Von der bayerischen Grenze, 4. Okt. Verworfene Revision. Tödlicher Sturz. Der Fabrikbesitzer Kommerzienrat Dr. h. c. L ö f f e l a d in Donauwörth wurde bekanntlich wegen Betrugs, begangen an der Reichsbahn­gesellschaft durch Lieferung mangelhafter Eisenbahnpuffer, vom Gericht in Neuburg ursprünglich zu 1 Jahr Gefäng- > nis und 5000 Mark Geldstrafe, dann in der Berufungs­instanz unter Wegfall der Gefängnisstrafe zu 5000 Mark Geldstrafe verurteilt. Das Reichsgericht hat der eingelegten Revision nicht stattgegebeu und das letztere Urteil bestätigt.

Göppingen, 4. Oktober. Die vom Gemeinderat Göp­pingen beschlossene Befreiung vom Schlachthauszwang des Konsum- und Sparvereins und die bereits berichtete Eröff­nung des neuen Konsum-Metzgereiladens haben die Span­nung zwischen der Metzgergenossenschaft Göppingen und ! hem Konsum- und Sparverein verschärft. Der Kamps zwi- I schen den beiden Parteien reicht zurück bis in das Jahr 1894, ! wo der Konsum- und Sparverein erstmals mit Hilfe der Ge- ^ frierfleischeinfuhr die genossenschaftliche Fleischversorgung i seiner Mitglieder versuchte. Sie mißlang. Dagegen sprangen ! von den damals in Göppingen ansässigen 66 Metzgern sieben von der Innung ab und taten sich mit dem Konsum- und Sparverein zusammen.

Um diese sieben Outsieder zur Vernunft zu bringen, setzte die dermalige Metzgereigenossenschast, in deren Besitz auch das Schlachthaus war, neue Bestimmungen für die Benützung der Schlächtereianlagen fest und zwang die Ab­gesprungenen, die mit dem Konsum- und Sparverein ab­geschlossenen Verträge zu lösen. Diese Maßnahme benutzte der damalige Geschäftsführer des Konsum- und Sparver­eins Göppingen, um seine Ziele außerhalb der Stadt Göp­pingen zu erreichen, und es gelang ihm, in Ebersbach an der Fils einen Großmetzger zu bewegen, geeignete Verträge zur Belieferung der Konsum- und Sparvereinsmitglieder abzuschließen. Die Rentabilität dieses Unternehmens war aber nicht besonders, so daß die vier eröffneten Verkaufs­stellen bis auf eine wieder geschlossen werden mußten.

Trotzdem beschloß eine Generalversammlung des Konsum- und Sparvereins den Bau eines eigenen Schlacht­hauses mit Kühlanlagen. Allein nach den Fehlschlägen der früheren Objekte war es dem Konsum- und Sparverein zu gewagt, den Betrieb ln eigener Regie zu übernehmen. Des­halb wurde die Anlage verpachtet und dem Pächter mußte der Mehrbetrag über die einfachen Schlachtgebühren ersetzt werden. Diese setzte die Metzgergenossenschaft auf das Bier­fache der bisherigen fest, auch lehnte man aus grundsätzlichen

Der Landwirt und Zimmermann Alois Renner vsH Westerringen stürzte, als er Heu holte, von der Heubühns auf die Tenne und wurde tödlich verletzt.

Die Lage in der Schwenninger Uhrenindustrie

Schwenningen, 4. Okk. In der Gemeinderatssitzung am Donnerstag nahm Stadtrat Fabrikant Abg. Dr. Mauthe Stellung zu den Rußland aufträgen. Heimat- liebe, sagt er, habe wohl die meisten Schwarzwälder Uhrenindustriellen bewogen, an der Ausgestaltung russi­scher Uhrenfabriken nicht mitzuwirken. Denn in späteren Jahren müsse sich die russische Uhrenindustrie zu einer scharfen Konkurrenz auch für den Schwarzwald auswachsen. Verwunderlich sei es und traurig zugleich, daß man jetzt der Uhrenindustrie einen Vor­wurf daraus zu machen versuche, daß von ihr das Ruß- landgeschäst abgelehnt wurde. Dabei muß noch bedacht werden, daß es den deutschen Uhrenindustri-ellen vordem noch nicht bekannt war, daß ihnen die Amerikaner in den Rücken fallen würden. Bei der Liquidierung der Firma Haller-Benzing habe es sich nicht um ein blühendes Unter­nehmen gehandelt. Vielmehr habe der Betrieb durch Schleuderpreise einen monatlichen Fehlbetrag von 25 000 bis 30 000 AM. verursacht. Diese Schleuderpreise haben mit zur Verschärfung der amerikanischen Zölle beigekragen. Diese Umstände waren es, die die Schwenninger Groß- 'oetriebe veranlaßten, die Firma Haller-Benzing aufzukaufen. Bon seiten der Uhrenindustrie werde gegenwärtig alles ver­sucht, um zumindest die Arbeiter zu halten, die jetzt noch in. den Betrieben beschäftigt sind. Die englische Pfundkrise pake gerade der Uhrenindustrie enorme Verluste gebracht. Wenn nicht alles Zusammenhalte, müsse man damit rechnen, daß sich mancher Betrieb wirtschaftlich nicht mehr auf den Beinen halten könne, oder daß doch die Zahl der Arbeits­losen noch wesentlich gesteigert werde. Man habe versucht, 'mit Hilfe des Wirtfchaftsministeriums die Ausfuhr einiger­maßen zu sichern. Aber auch von dieser Seite sei kaum Hilfe zu erwarten. Das müsse noch mehr veranlassen, Äles

Rücksichten ab, den Pächter weder in die Innung noch in di« Metzgergenossenschaft aufzunehmen. Aus diesem Vorgehen der Göppinger Metzger entwickelten sich eine Kette von Pro­zessen und Klagen, die nicht weniger als 22 Eingaben an den Gemeinderat, 16 an das Oberamt, mehrere an die Kreis- regierung, 3 an das Ministerium und auch 2 an den Ber- wcrltungsgerichtshos zur Folge hatten. Daneben tief ein Rechtsstreit dreimal an das Landgericht Ulm, dreimal an das Oberlandesgericht Stuttgart und dreimal cm das Reichs­gericht. Mit wechselnden Erfolgen wurde sieben Jahre pro­zessiert, bis der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde des Konsum- und Sparvereins abwies und das Reichsgericht eine anderthalbfache Gchlacht- hausgebühr festsetzte. Nach zehnjährigem Streit, und nachdem auch noch mehrere Eingaben an den Württ. Land­tag in der Schlächterei-Anlage-Sache abgelehnt worden wa­ren, trotzdem der Konsum- und Sparverein bereits den Bau­platz für ein neues Schlachthaus erworben hatte, bekam dis Metzgergenossenschaft recht.

Es ist nun begreiflich, wenn letztere mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln erneut den Kampf gegen die vom Gemeinderat beschlossene Befreiung vom Schlachthaus- Zwang, die inzwischen vom Oberamt für vollziehbar erklärt wurde, aufnimmt. Wie von unterrichteter Seite noch er­klärt wird, sollen Bestrebungen im Gange sein, um den Beschluß des Gemeinderats höheren Orts anzufechten und zu verlangen, daß der Konsum- und Sparverein sämtliches eingeführte Frischfleisch im hiesigen Schlachthaus einer Rach sch au unterziehen läßt. Zunächst aber bleibt die gsmeinderätliche Regelung, wonach die Nachschau in den Kühlhallen des neuenKonsum-Fleischladens stattsindet, bestehen. Dagegen ist die gesetzlich vorgeschrie­bene Gebühr für die Nachschau noch nicht geregelt. Man kann also in Göppingen mit einem erbitterten Kampf, der wohl für viele der hier ansässigen 47 selbsttätigen Metzger eine Existenzfrage bedeutet, in nächster Zeit rechnen,

Metzgereigenossenschast und Konsumverein

Zaust über vanzig

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(Nachdruck verboten.)

1. Fortsetzung.

Gott helfe dir, mein Antjekind", sagte er leise.

Gottt helfe dir, mein Antjekind", sagte er leise.

Da riß sie sich zusammen, stand auf und ging hastig aus der Tür. Denn sie wollte nicht weich werden.

Das Gewand mußte sie rasch wechseln, denn die Dörte wartete darauf. Und dann huschte sie in die Kammer der Kinder, das Nachtgebetlein zu sprechen mit ihnen. Sie hingen noch lange an ihrem Halse und konnten es nicht fassen, daß ihre säte Antje sie morgen schon verließ.

Im knappen dunklen Hauskleid, das glatt Hernieder­siel an ihrer schlanken Gestalt, nur über den Hüften von einem schmalen Gurt gehalten, lief Antje dann im Däm­mer noch einmal zum See herunter. Der dehnte sich unend­lich weit, und aus seiner Tiefe schienen die Sterne zu stei­gen am dunklen Horizont. Leise trug der Abendwind auf seinen weichen Armen Welle aus Welle zum Strand. Die spülten schlaftrunken gegen das weiße, sandige Ufer, daß es unentwegt ein süßes, träumerisches Murmeln und Sin­gen gab. Das mischte sich mit dem Rauschen der Buchen zu einem schwingenden Nachtchoral, dessen ewige Akkorde schon um die uralten Mauern von Burg Leba gingen, so lange Antje nur denken konnte.

Oh, wie sie ihre See liebte, und sein unendliches, un­ergründliches Auf und Nieder im stetig wechselnden Far­benspiel! Jetzt waren die Rosengluten des Abendhimmels versunken in einem violetten Dunkel, das in eins herüber- zuschwimemn schien in Himmel und Erde . . . Ferne Ru­derschläge ausziehender Fischerboote klangen weit durch die Stille der Nacht.

Im lichten Schilf am Ufer rauschte noch ein verspäteter Wasservogel. Wie graue Fahnen hingen schwer und träge die großen Fischernetze am Strand. Hinter den höchsten Dünen hob sich langsam und leuchtend der ausgehende Mond.

Antje war in einen der Kähne gesprungen, die an­gekettet am Ufer lagen, und hatte ihn mit schneller Hand von seinem Pfahl gelöst. Mit raschen, sicheren Schlägen ruderte sie durch die Schilfgasse hinaus auf das mondüber­flutete Wasser. Hoch in der Luft schrien die Wildgänse durch den stillen Augustabend. Schwer legte sich das Mädchen in die Ruder, und ihr schlanker Oberkörper bog sich geschmei­dig vor und zurück, in regelmäßigem Takt die Arme bie­gend. Und ihre junge Brust hob und senkte sich in tiefen, raschen Atemzügen.

Wie Silber floß das Wasser von den Rudern nieder, wenn sie sie aus der Tiefe hob.

Ob man in Danzig auch so allein umherrudern konnte?

Der Vater hatte erzählt, daß dort viel Wasser war, die Mottlau, und wie die Weichselarme alle hießen. Und dann die große, graue See selber.

Antje zog die Ruder ein und ließ den Kahn ein wenig treiben vom linden Abendwind. Ihre Jungmädchenseele begann unversehens zu träumen und sich die Zukunft auszu­malen. In weichen, lichten Farben, in Sonnen­schein und Blütenduft. Sie sah es so deutlich vor sich, das alte Patrizierhaus in der Langgasse zu Danzig. Mit der mächtigen eichenen Haustür und dem großen blanken Mes- singklovfer. Mit den breiten steinernen Stufen und den schönen Beschlägen, die weit in die Gassen hineinführten.

Ach, der Vater hatte es ihr oft beschrieben und erzählt, daß sie es deutlich vor Augen sah, obschon sie in Wirklich­keit noch niemals dagewesen dagewesen. Und dann die tiefe, große Diele mit den uralten, eichengeschnitzten Schrän­ken und dem zierlichen Schifflein, das in der Mitte an langen Schnüren von der rauchgeschwärzten Decke hing.

Eins konnte sich Antje gar nicht vorstellen. Nämlich, daß so viele Häuser eng neben einander lagen und lauter Menschen in den Gassen auf und ab gingen, die man oft gar nicht kannte. Das mußte spaßig und unterhaltsam sein! Hier lag die Burg so einsam und so ganz für sich, hart am See. Die trutzigen Mauern auf der einen Seite stetig von Wellen umspült. Und die wenigen Mannen und Hörigen, die innerhalb des Vurggeheges wohnten, kannte man ganz genau. Sonst waren keine Menschen weit und breit, nur noch etliche Fischer unten am See. Was eine Gasse war, konnte sich Antje gar nicht vorstellen, ebenso­

wenig einen Marktplatz und die Marienkirche, die ja so mächtig sein sollte, wie es der Vater gar nicht beschreiben konnte. Hier in der Burg war nur die kleine Kapelle, wo ein Priester sonntäglich die heilige Messe las. Ob in Dan­zig auch so viele Tiere waren? Und ob sie da immer reiten konnte wie hier?

Oft hatte sie auch schon versucht, sich den Klaus Vel- deke vorzustellen. Der Vater hatte ihn als Knaben gesehen, wo er groß und kräftig gebaut gewesen. Nun sollte er ein Mann sein von sechsundzwanzig Jahren, ein Kaufherr und Ratsmann von großem Ansehen und Reichtum. Eigene Schiffe sollte er haben, die auf der Ostsee mit Waren fuh­ren und jenem Bunde angehörten, so man Hansa nannte. Und eine alte Mutter war da auch noch, eine brave, statt­liche Matrone, die Anije unterweisen sollte in allen Zwei­gen eines städtischen Haushaltes. Und bei der Antje woh­nen sollte, bis das Jahr herum war. Ueber dies alles grübelte Antje nach, als sie jetzt den Kahn wandte und wieder dem Ufer zutrieb. Antje war nicht sentimental. Sie war an Arbeit gewöhnt und freudiges Schaffen. Früh hatte sie der Muhme Dörte helfen müssen bei den vielen Kindern, denn die Mutter war die letzte Zeit schon immer zart und hinfällig gewesen. Und der Vater brauchte auch allerhand Pflege und Wartung.

In Hof und Stallungen wußte Antje gut Bescheid, und ihre schönste Arbeit, wenn im Frühjahr die jungen Lämm- lein sprangen und die goldgelben Gänslein auf dem grü­nen Anger am Lebasee. Da gab es alle Hände voll zu tun, und sie half, wo nur Hilfe nötig war.

Die Seeluft und das viele Tummeln im Freien hatten ihr eine frische, gesunde Farbe gegeben, und ihre Hände waren gewohnt, zuzupacken bei aller Arbeit. Denn die Borckes hatten über keine großen Schätze zu verfügen und konnten sich keine Kammerzofen halten.

Antjes Kahn knirschte gegen den Strand. Sie machte ihn fest und sprang ans Ufer Hier in der Nähe der Burg kamen die Buchen bis hart an den See und ließen ihre uralten, knorrigen Zweige tief herniederhängen über das Wasser, das still und schwarz in ihrem raunenden Schat lag. Dunkel hoben sich die massigen Umrisse der Burg von, Abendhimmel, aus etlichen schmalen Bogenfenstern drang Lichtschein in die Dämmerung hinaus. (Forr, folgt)