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Nr. iss
Gegründet 1827
Samstag, den 13. Juni 1931 Fernsprecher Nr 2 g 105. Jahrgang
Kabinettsumbildung? Auflösung des Reichstags?
Berlin, 12. Juni. Wie wir erfahren, wird der Reichskanzler d-ie Parteiführer erst am Samstag empfangen. Der Donnerstag war ausgefüllt mit einer Beratung innerhalb der Schoßes der Regierung Wer bas Ergebnis der England- Reise und über die weiter zu ergreifenden Maßnahmen. Im Anschluß daran ist Brüning nach Reudeck gefahren, um dem Reichspräsidenten Wer Cheguers Bericht zu erstatten. Am Sonntag spricht der Kanzler -in Hildesheim in einer Zentrumskundgebuu-g. Man wird aus dieser Rede wahrscheinlich schon einige Schlüsse ziehen können, wie Brüning sich die weitere Entwicklung denkt.
In der Oeffentlichkelt ist dieser Tage die Frage vielfach erörtert worden, ob nicht jetzt die Zeit für eine Kabinettsumbildung gekommen sei. Man weiß, daß die Führung ver Deutschen Volksparkei hierzu, drängt. Ebenso ist man in der Führerschaft des Christlich-Sozialen Volksdienstes der Auffassung, daß die kommenden schweren reparations- politischen Auseinandersetzungen eine andere Führung des Auswärtigen Amtes erforderlich machen. Brüning hat sich bisher gegenüber allen solchen Anregungen, die schon wiederholt während seiner Kanzlerschaft an ihn herangetrsten sind, bisher stets passiv verhalten. Er stellte sich auf den Standpunkt, daß eine Umbildung seiner Regierung schwere Erschütterungen herbeisühren würde, und er hat deshalb auch davon abgesehen, die im Lause der Zeit erledigten Posten des Reichswirtschaftsministers und des Reichsjustiz- mmisters neu zu besetzen. Wie es scheint, wird er sich aber diesmal sehr ernst mit dieser Frage auseinandersetzen müssen.
Dabei ist vor allem zu beachten, daß der rechte Flügel ferner bisherigen Mehrheit das entscheidende Gewicht nicht auf die Notverordnung, sondern auf die Remsionsfrage legt. Hieraus ergibt sich ohne weiteres eine starke Verschiedenheit vom sozialdemokratischen Standpunkt, der nur die Notverordnung und' ihre Folgen sieht. Die Besprechungen, die Dr. Brüning am Samstag in Berlin führen wird, werden noch deutlicher machen, um welche Fragen es jetzt eigentlich
geht. Allerdings find alle Namen, die im Zusammenhang mit einer etwaigen Umbesetzmrg des Auswärtigen Amtes genannt werden, einstweilen noch freie Kombinationen. Die Frage ist nur, ob es dem Reichskanzler auch diesmal gelingt. seine Auffassung, daß ein Maisterwechsel nicht stattfinden fob, bei den Parteien durchzudrücken. Die Notverordnung selbst dürfte vorläufig nicht geändert werden, zumal auch der preußische Ministerpräsident Braun von der Tribüne des Landtags am Donnerstag vormittag erklärt hat, daß die preußische Regierung zurzeit keine Veranlassung habe, bei der Reichsregierung die Aushebung der Notverordnung zu verlangen.
Wie sehr die Revisionsfrage im Mittelpunkt aller politischen Erörterungen steht, geht auch schon aus den jüngsten Aeußerungen des Reichsarbeitsministers Stegerwald hervor, der den unbeugsamen Willen Brünings dahin zu erkennen gab, daß die Erhöhung der Umsatzsteuer jetzt unter keinen Umständen in Frage komme, da diese .letzte steuerpolitische Reserve" für den Augenblick aufgespart werden müsse, in dem Deutschland vielleicht einmal im schweren reparationspolitischen Kampf stehe. Der Kanzler ist also entschlossen, in diesen Kampf nicht so unvorbereitet hineinzugehen, wie Deutschland vor drei Jahren, als der damalige Reichsbankpräsident Schacht ohne genügend« Vorbereitung zu aussichtslosen Verhandlungen nach Paris geschickt wurde. Die Reichspolitik hat für diesen Fall eines reparationspolitischen Kampfes zur Abwehr etwaiger französischer Pres- sivnsversuche auf finanzpolitischem Gebiet auch noch andere Reserven in der Hinterhand. Vielleicht genügt schon die Tatsache, daß Deutschland sich endlich einmal mrf einen solchen Ernstfall einrichtet, um der anderen Seite klar zu machen, daß unser Volk jetzt gezwungen ist, einen Kampf um sein ganzes nationales Dasein mit dem Einsatz aller seiner moralischen und wirtschaftlichen Kräfte zu führen. Das nächste Ziel der Politik ist, die Reichsregierung für diese Aufgabe so stark wie möglich zu machen.
Die Deutsche Volkspartei hat sich für die Einberufung des Reichstags und für eine Umbildung drs Kabinetts entschieden. Brüning widerscht sich. Die Lage für das Kabinett Brüning ist ernst.
Zn zahlreichen Städten des Reiches kam es gestern wieder zu schweren Zusammenstößen zwischen Kommunisten and Polizei.
Das Amtsgericht Gleiwih hak in Ausführung des Strafbefehls für den deutschnationalen Reichskagsabgeordneken Dr. kleinert eine Gefängnisstrafe von Z Monaten festgesetzt
Der neue Präsident der französischen Republik, Doumer» wird morgen von seinem Vorgänger in fein Amt Angeführt werden.
Außenminister Briand wird trotz aller Versuche der Rechtsparteien, die seinen plan, vor den ehemaligen Front- kämpfern in Gourdo zu sprechen, vereiteln wollen, am heutigen Samstag abend nach Gourdo reifen und dort am Sonntag ans "pem Bankett eine große politische Rede halten.
Hildesheim zu reisen, wo er am Sonntag in der Sitzung der Reichstagsfraktion und des Parteivorstandes der Zentrumspartei eine große Rede halten wird.
Andere Fraktionssitzungen finden erst nach weiteren Porteifnhrerbesprechungrn statt. Für Montag vormittag bat das L a n d v o l k, für den Nachmittag haben DVP. und Deutschnationale Fraktionssitzungen einberufen. Wahrscheinlich kommen gleichzeitig auch die Sozialdemokraten wieder zusammen. Am Dienstag früh versammelt sich die Bayerische Volksparte: wieder im Reichstag. Am Dienstag 12 Uhr wird auch die Sitzung des Aeltestenrates beginnen. Am Dienstag nachmittag tritt auch die Reichstagsfraktion der Deutschen Volkspartei noch einmal zusammen.
Brüning denkt nicht daran
Am Dienstag die Entscheidung
Berlin, 12. Juni. In Kreisen der Reichsregierun-g wieder- bo-lt mau auch heute, was gestern zu den Möglichkeiten gesagt -wurde:
daß die Einberufung des Reichstages den Rücktritt des Kabinetts zur Folge haben und daß es sich dabei nicht um eine Scheindemission handeln würde.
Der Beschluß der Deutschen Volkspartei von heute nacht hat also den Kanzler nicht veranlaßt, eine Umbildung des Kabinetts herbeizuführen. Es scheint nunmehr, daß er die Abstimmung im Aeltestenrat abwartet. Damit ist also kaum damit zu rechnen, daß die Entscheidung vor Dienstag fällt.
In parlamentarischen Kreisen ist man der Ansicht, daß -die Frage, ob es zur Einberufung des Reichstages kommt oder nicht, nicht von entscheidender Bedeutung ist. Das Hauptinteresse konzentriert sich gc» nicht so sehr auf die Haltung, die die Sozialdemokraten einnehmen werden. Mail glaubt sogar, daß der Beschluß -er Deutschen Volkspartei, den diese Fraktion gefaßt hat, m ö g l i ch e r w e i s e z u r ü ck- -gezogen wird. Dagegen scheint im Augenblick noch zweifelhaft zu sein, was -die Landvolkpartei beschließen wird. Denn sie bildet das Zünglein an der Waage. Ihre Fraktion ist auf D i e n s t a g v o r m i t t a q einberufen, um endgültig Stellung zu nehmen. Der Kanzler wird inzwischen Gelegenheit haben, bei einer Zentrumstagung seine Auffassung darzulegen. Aus den Kreisen der Deutschen Volks- varter ist man übrigens sich darüber klar, daß die Einberufung des Reichstages, wenn sie wirklich herbeigesührt werden sollte, keineswegs die Aufhebung der Notverordnung, sondern nur ihre Abänderung bedeuten kann.
Wie wir erfahren, ist Reichskanzler Dr. B r ü n i n g heute früh um 8 Uhr nach Neudeck gefahren, um dem dort weitenden Reichspräsidenten über die Besprechungen von Cheguers und über die politische Lage Bericht zu erstatten.
Sozialdemokraten beim Kanzler
Berlin. 12. Juni. Ueber den Verlauf der Besprechung des Reichskanzlers mit den Vertretern der Sozialdemokratie, an der auch der Reichsardeitsminisier Dr. Stegerwald teilnahm, berichtet der Sozialdemokratische Pressedienst, daß die Vertreter -der Sozialdemokratie dem Reichskanzler ihre B e- denken gegen die Notverordnung unterbreitet und ihn auf die politischen Folgen des Inkrafttretens, insbesondere derjenigen Bestimmungen der Notverordnung aufmerksam machten, die einen weitgehenden Abbau der sozialen Leistungen bezwecken. Der Reichskanzler betonte, daß : je Einbenrfuna des Reichstages mit schweren Gefahren für die Krcditverhältnisse verbunden sei und man im
gegenwärtigen Augenblick eine weitere Zuspitzung -er Wirt- ftyaftskrise. der Arbeitslosigkeit und der Finanzschwierig- ketten befürchten müsse. Ein endgültiges Ergebnis wurde nicht erzielt.
Mische kose sür öriimng
Berlin, 12. Juni. Verhandlungen werden allerdings erst am Montag stattfinden können. Heute früh ist nämlich Reichskanzler Dr. Brüning nach Ostpreußen gefahren, um dem Reichspräsidenten von Hindenburg Bericht zu erstatten. Da Brüning für den Fall der Einberufung des Reichstages mit seinem Rücktritt gedroht hat, wird bei der Besprechung zwischen dem Reichskanzler und dem Reichspräsidenten die Frage die Hauptrolle spielen, was geschehen soll, wenn der Reichstag tatsächlich aufgelöst werde.
Dr. Brüning wird am Samstag früh in Berlin zurückerwartet. Er hat für Samstag vormittag zunächst Besprechungen mit den Führern der kleineren Parteien in Aussicht genommen, nämlich mit Dr. Weber (Staatspartei), dem Abg. Drewitz (Wirtschaftspartei) und dem Abgeordneten Simpfendörffer (Christl.-Soz. VD.i. Am Samstag nachmittag beabsichtigt der Reichskanzler nach
Der Kampf um die RenLabilitäisgrundlage der bäuerlichen Wirtschaft
Paderborn, 12. Juni. Auf der Generalversammlung der westfälischen Bauernvereine hielt heute Reichsernährungsminister Dr. h. c. Schiele «ine großangelegt« Rede, in der er zu der gegenwärtigen Lage der bäuer - lichen Wirtschaft im Rahmen der gesamtpolitische» Situation u. a. aussührte:
Mit Ser Notverordnung vom 6. Juni fordert die Reich;- regierung vom deutschen Volk eine letzte und äußerste Anstrengung, um durch Opfer von bisher nicht gekanntem Ausmaße Leben und Freiheit unseres Volkes zu sichern. Alle Schichten unseres Volkes, erklärte der Minister weiter, sind von der harten Faust der Not gepackt, vor allem auch unser deutsches Bauerntum. Der Kampf um die zielklare Fortführung einer gesunden und organischen Agrarpolitik ist immer schwieriger geworden. Das deutsche Bauerntum tritt jetzt zum Endkampf an um sein Recht und fei» Leben. Aus den riesigen Leistungen, die die deutschen Landwirte trotz aller Not aus eigener Kraft erbracht haben, folgt der moralische Rechtsanspruch darauf» daß endlich die Wendung im Geschick des deutschen Bauern herbeigeführt wird und die Lücken der agrarpolitischen Maßnahmen geschlossen und die Voraussetzungen sür weitere Leistungen im Inker-
Oesterreich in goldenen Fesseln
Paris, 12. Juni. Die unter Führung der Banst von England eingelcikete Großaktion sür die Oesterreichische Kreditanstalt wird am Quai d'Orsay mit lebhaftem Interesse verfolgt. Die Schwierigkeiten, in die die Kreditanstalt geraten ist, scheinen sich als größer herauszustellen, als zuerst angenommen wurde. Insbesondere heißt es, daß die Be, - niögensverluste, die ursprünglich genannte Ziffer von 120 bis 160 Millionen weit übersteigen, so daß eine weitere Finanzhilfe über die Aktion des Stillhaltekonsorkiums hinaus erforderlich wäre.
Dadurch erscheint für Frankreich in gewissem Sinne eine neue Situation gegeben, da die weitreichenden Beziehungen der Kreditanstalt auch die Interessen der mit Frankreich ver- bundencn Nachfolgestaaten stark berühren. Wie zuverlässig verlautet, ist der Gesandte Frankreichs in Wien, Gras Elauzel. berciis beauftragt worden, ln diesem Sinne bei der österreichischen Negierung veffkeüig zu werden. Selbstverständlich geht man am Quai d'Orsay von der Voraus- Huna aus, daß im Austausch einer mit französischer Hilfe > cfelgten Konsolidierung der österreichischen Wirtschaft, Oesterreich bestimmte Garantien gibt, die eine aeaen die
französischen Interessen irr Mitteleuropa gewandt« österreichische Außenpolitik ausschliehe.
Dieser neueste Borstoß Frankreichs gegen Oesterreich unter Ausnützung -er österreichischen Nottage verdient die stärkste Beachtung. Praktisch bedeutet seine Verwirklichung natürlich in erster Linie die Aufgabe der deutsch-österreichischen Zoll-Ilniou und damit der österreichischen Selbständigkeit überhaupt: ganz ungeachtet anderer weittragender staats- polittscher Folgen, die sich aus diesem Vorstoß ergeben müssen. Damit tritt das ein, was schon seit Wochen vorauszusehen war: Frankreich legt mit seiner Hilfe für die österreichische Kreditanstalt dem deutschen Bruderstaat an der Donau die goldene Fessel um und zwingt ihn zu willenlosen Helfersdiensten. Me Selbständigkeit Oesterreichs, dieser Schein von Selbständigkeit, den die Friedensverträqe ihm noch gelassen hakten, ist damit zu Ende. Zu Ende ist damrr aber auch die Möglichkeit einer Politik, die dem Blut und dem Willen unserer Brudernation entspricht. Dabei ist es deutsches Tridutgeld, mit dessen Hilfe die Erpressung an Oesterreich ausgeübt und seine moralische wie politische Annektierung durchgesührt werden soll.