Sette 2 — Nr. 137
Nagolder Tagblatt »Der Gesellschafter-
Aufrührer, Studenten und Arbeiter, zurückgetrieffsn un'8 japanische Truppen seien gelandet, kleine Gruppen begehen aber immer neue Gewalttaten. Ein Japaner wurde schwer verwundet.
Der Hauptrat der kommunistischen Gewerkschaften in Moskau hat den Streikenden in Shanghai weitere 50 OG) Rubel übersandt.
Anschlag auf die bulgarische Ernke Sofia. 15. Juni. Die Regierung hat nach der „Sara' einen von dem Minister des früheren radikalen Kabinetft Oboff geleiteten Anschlag entdeckt, nach dem durch mehrer. Banden die Ernte in verschiedenen Teilen des Landes ir Brand gesteckt werden sollte. Die Regierung hat scharf« Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Oboff stammt aus dei Tschechoslowakei.
Deutscher Reichstag
Beschlußunfähig
Berlin, 15. I mi.
73. Sitzung. 2. Beratung des Gesetzentwurfs ü^er Depot- und Depositengeschäfte.
Abg. Fischbeck (Dem).: Eine Beschränkung des ^ mot- und Depositenge!-Käfts sei heute nicht mehr zu reck*^ gen. Unlauterer Wettbewerb sei im Bankwesen jeher i "''sch gewesen. Er beantragt nockmalige A"ssckiißbera':nw
Ein Regierungsvertreter bittet um Ablehnung dieses Antrag- hg die Vorlage am 1. Juli in Kraft treten mäste.
Die Auszählung ergibt 125 Stimmen für und 97 Stimmen gegen die Zurückweisung. Das Haus ist also beschluß- unfabig.
Rach 10 Minuten wird eine neue Sitzung eröffnet.
Abg. Dr. Heuß (Dem.) wendet sich gegen das Vorgehen mm evangelischen Kirchenbehörden gegen evangelische Vfar- rer, die bei der letzten Reichspräsidentenwahl sich für die Kandidatur Marx eingesetzt haben.
_Me Reichsregierung solle Uebergriffe kirchlicher Stellen
«vrhmdern. Nach unwesentlicher Aussprache wird das Ge- der Ministers des Innern bewilligt, ein Mißtrauens- inrrag der Kommunisten gegen die Stimmen der Antragsteller und der Soziademokraten abgelehnt.
Tagung des Deutschen Landwirtschastsrats
Friedrichs Hafen, 15. Juni.
Nach einer von der Württembergischen Landwirtschofls- 7ummer veranstalteten Rundfahrt auf dem Bodensee vereinigte sich gestern abend um 8.30 Uhr im Saalbau der Deutsche Landwirtschaftsrat, der am Montag und Dienstag hier seine diesjährige Tagung abhnlt, zu einem Begrüßungsabend, dem als Vertreter der württsmbergischeii Regierung Staatspräsident Bazille und Finanzminister Dr. Dehlinger, als Vertreter des Reichsernährungs- niinisteriums Ministerialdirektor Hoffmann und als Vertreter des Reichswirtschaftsministeriums Oberregiern-igsrat Müller, ferner der Präsident der preuß. Staatsbank Dr. Schröter, der Präsident der Deutschen Rentenbank, Staatsminister a- D. Exz. v. Lentze, der Vorsitzende des Reichsausschusses der deutschen Landwirtschaft, Frh. von Wangenheim, Landtaaspräsident Körner, Kommerzienrat Colsmann und Dr. Eckener vom Zeppelinluftschiffbau, sowie Vertreter der Länder und sonstiger Behörden beiwohnten.
Der Präsident der württ. Landwirtschaftskammer, Adorno, entbot herzliche Willkommensgrüße. Er erinnerte an den genialen Bezwinger der Lüfte, den Grafen Zeppelin, und stellte dann mit Genugtuung fest, daß es diedeutsche Landwirtschaft gewesen ist, die das Vaterland zweimal vor dem Zusammenbruch bewahrt hat. nämlich in den Zeiten der Inflation durch die Errichtung der Deutschen Rentenbank und sodann durch dasaroßeHihfswerkderdeutschenLand- Wirtschaft. Die Landwirtschaft sollte aber auch das volle Verständnis der übrigen Berufe und der Regierungen finden. Ein Volk, das seine eigene Landwirtschaft aufgebe, würde sich selbst aufgeben. Nur eine wirklich gesunde, in sich gestärkte kräftige Landwirtschaft könne aus der gegenwärtigen großen Wirtschaftskrise retten. Der Redner Moß mit einem Hoch aus das Vaterland, worauf das Deutschlandlied gesungen wurde.
Weitere Begrüßungsansprachen hielten Stadtschultheiß Schnitzler und Oberamtmann Hofmeister.
Darauf dankte Staatspräsident Bazille zugleich im Namen des Landtagspräsidenten und der Vertreter der übrigen Länder für die Einladung und sprach die besten Wünsche für die Taauna aus. In wenimm Wockon G
führte der Staatspräsident weiter aus, wird im Reichstag die Entscheidung über die Zollvorlage fallen. Der Streit über die landw. Zölle in Deutschland ist schon ziemlich alt. Aber man hätte glauben können, daß die Erfahrungen der Vorkriegszeit soviel beigetragen hätten zur Belehrung des deutschen Volks, daß sich niemand mehr finden würde, der die Agrarzölle als etwas dem deutschen Volk Feindliches ansiebt. Und doch ist es de, Fall. Die Einwände gegen diese Agrarzölle sind ja ernster Art. Vor allen« wird gesagt, daß diese Zölle die Lebenshaltung verteuerten. Nun ist aber die Meinung, als hänge die Wohlfahrt eines Volks von niedrigen Lebensmittelpreisen ab, im wesentlichen durch die Erfahrungen längst widerlegt. Nicht so sehr die Höhe dar Lebensmittelprcise, als die Kaufkraft der Bevölkerung ist das Entscheidende. Davon kann keine Rede sein, daß die Leberm- mittelzölle die Kaufkraft des Volks schädigen. Auch die Kaufkraft des Industriearbeiters ist dadurch bedingt, daß die Indu st r ieprodukte einen Absatz finden und daß ein i n n erer Markt dauernd für die Industrie- Produkte besteht. Das gilt auch für die Landwirtschaft. Und ein altes Wort lehrt: „Hat der Bauer Geld, hat es die ganze Welt." Der zweite Einwand ist der, daß die Landwirtschaft die Zölle nicht brauche, wenn sie planmäßig wirtschafte. Keiner, der das ausspricht, dürfte bereit sein, ein landw. Gut zu übernehmen. Darüber kann kcin>Zwei- ^l sein: eine Ausfuhrindustrie, die nur aus dem Ruin der Landwirtschaft möglich i >t, , st k e in Segen für das deutsche Volk. Der höchste Gesichtspunkt für ein Volk muß immer sein: die Erhaltung des Volks im Ganzen. Ein Volk, das nicht imstande ist, auf eigener Scholle sich zu ernähren, das wird in den Riesenkämpfen der Gegenwart und der Zukunft unter ge hen müssen. Das alles hat die Vorkriegszeit gezeigt. Industrie und Landwirtschaft können nebeneinander in gleicher Blüte bestehen, wenn sie m gleichem Maß durch Zölle geschützt werden. So geht ^ die Agrarzölle nicht nur um die Landwirt-
lchaft, sondern um das gan z e Volk. Deshalb wird die wurttembergische Regierung stets an der Seite der Land- wir'ichast sein. (Stürmischer Beifall).
Der Präsident des Deutschen Landwirtschaftsrats, Dr. Brandes, faßte seine Dankesworte in einem Hoch auf die wurttembergische Landwirtschaftskammer zusammen.
Württemberg
'""n!. Vom Landtag. Im Mnnn,-
am ...ereil«, daß der R e i ch s f i n a «g e f
entscyieoen yabe, die Konsumvereine seien nicht als Gewerbebetriebe zu betrachten und deshalb von der Gewerbesteuer zu befreien. Der Württ- Verwaltungsgerichtshof hatte dagegen eine umgekehrtes Urteil gefällt. Finanzminister Dr. Dehlinger erklärte, eine Befreiung der Konsumvereine von der Gewerbesteuer widerspreche dem Grundsatz der gleichen Behandlung der Handelsbetriebe und iei auch hinsichtlich des Aufwands von Staat und Gemeinden, der agch den Konsumvereinen zugute komme, abzulehnen. Bei der finanziellen Not von Staat und Gemeinden könnte ja die Steuerbefreiung gar nicht verantwortet werden. Anders verhalte es sich mit der Körperschaftssteuer. Der soz. Antrag auf Steuerbefreiung wurde mit 10 gegen 4 Stimmen lSoz. und Komm.) abgelehnt. Der Finanzminister bemerkt, die Herabsetzung des Waldkatasters auf 110 Prozent berühre die Staaksfinanzen kaum, vielmehr die zei Drittel des württ. Waldbestands, die in Gemeinde- und Privatbesitz seien.
Zur Gebäudeentschuldungssteuer, die der Berichterstatter Winker (Soz.) ablehnte, erklärte der Finanzminister, die Steuer beruhe aus dem äußeren Zwang der Reichsgesetzgebung. Nach dem Vorschlag des Reichs- finanzministers sollen die Staaten und Gemeinden daraus eine Milliarde Mark ziehen: auf Württemberg entfalle sin Betrag von 40 Millionen. Mit Einschluß der Aufwend ng für Beamtenwohnungen sind in Württemberg 55 Prozent des Ertrags der Gebäudeentschuldungssteuer für den Wohnungsbau verwendet worden. Das sei aller Ehren wert. Ein Teil der Mietserhöhungen müsse den Zwecken des Wohnungsbaus und der Staatsbedürsnisse zugesührt werden. Die Lohnerhöhungen seien eine Frage für sich. Der Sprecker der DVP. bezeichnete die Gebäudeentschuldungssteuer in vielen Teilen als ungerecht, glaubte aber mangels anderer Dek- kung von einer Ablehnung abseben zu müssen. Ein Redner der Demokratie anerkannte die Schwieriokeiten der Deckung des Fehlbetrags, bezeicknete aber den Deckungsversuck des Finaneministers als einieitia. Die neue Scki,lseN»nn->e,eiO>nn
Dienstag, 16. Juni 1925
werfe den Etat der Gemeinden um. Seine Partei'--erd? gegen diese Finanzpolitik schärfste Opposition machen.
Der Finanzminister wies auf die außerordentlich hohe Besteuerung der Landwirtschaft Rn, die Rk einem Ertrag von nur 60 Prozent doch die vollen Kctaster- steuern habe bezahlen müssen.' Einen wenn auch unvollkommenen Ausgleich solle die Gebäudeentschuldungssteuer bringen. Diesen Weg habe unter dem Druck der Verhöftn'jft auch Baden beschreiten müssen, wo die Parteien, die in Württemberg in der Opposition sind, in der Regierung ätzen Bsreinfackungsmaßncibmen seien in Vorbereitung. Die (8^ meinden müssen ihre Finanzen ernstlich nnchprüftn Ein Abgeordneter des Bauernbunds erklärte, die Landwift- schatt sei scbon vorw"a mit 13 Prozent gegenüber dem Gewerbe vorbelastet. Die Städte macken vielfach zu großen Aufwand, auch in ihrer Beomtenvolitik. Ob der Satz och 12 Prvz. für die Gemeindeumlagen beibehalten werden könne sin iraoOck. E'n -"--»-et»'' des Zentrums f'"'rta aus. unverhältnismäßig hohe Besteuerung der Landwirtschaft könne nicht bestritten werden, es sei daher gerechtfertigt, '> non d-"- m^äudeenii-i'uldunassteuer ui be* "
samkestsmaßnahmen muffen weiter verfolgt werden. Zun, Schluß wurde ein Antrag Winker angenommen, die Regierung möge beim Reich darauf hinmirken, daß die Gebä ' -- Stsnerertag ganz für Wobnunasbauten verw>"-d-tt . hx. Angenommen wurde ferner ein demokratischer Antrag, bei der Reichsregiernng wegen der Behandlung, wie sie nach der Mitteilung des Finanzministers bei den Verhandlungen über die Post- und Eisenbahnabfindung dem Land Württemberg von den Reichsstellen zuteil oeworden sei, Einspruch zu erheben und auf Abbstfe zu drängen.
Der Deutsch« Reicksral wird am nächsten Samstag zum Besuck der Wanderausstellung der Deutschen Landwirtschafts- Gesellschaft nach Stuttgart kommen. Im Lauf des Samstag- Nachmittags wird ein Empfang durch die Stadt in der Villa Berg stattfinden.
Sommerpolizeistunde in Skuktaark. Das Ministerium des Innern hat namentlich mit Rücksicht auf die vielen Ausstellungen usw. in diesem Sommer das Polizeipräsidium Stuttgart ermächtigt, kür den Stadtgemeindebezirk Stuttgart mit Zustimmung des Gemeinderats die Bolfteistunde für die Zeit bis 15. Oktober d. I- allgemein auf 1 Uhr nachts feft- zusetzen.
Vom Tage. Am Sonntag vormittag ertrank bei der Daimlerbrücke beim Baden im Neckar ein junger Mann, der in eine Untiefe geriet und des Schwimmens n>ckt genügend kundig gewesen zu sein ick»int. Unweit derselben Stelle k'vpte nachmittags ein Kobn, in dem ein Mann und seine Frau saßen, dadurch, daß stch einige badende Buben an den Kahn anhänaten. Die Insassen sielen in den Fluß, und die Frau ertrank.
Adolzhausen OA. Mergentheim, 15. Juni. Seltenheit. Auf einem hiesigen Hühnerhof schlüpfte in den letzten Togen ein vollständig gesundes, munteres Küchlein mit 4 Beigen «rs dem Ei. Der Besitzer wendet der Auszucht dieses Solcher- di« größte Sorgfalt zu.
Oberndorf a. 71.. 15. Juni. Bubenstreich. Vor Schloß Lichtenegg bei Harthausen wurde zweimal an einem Tag in etwa 114 Meter Höhe ein Draht über die Straße gespannt. Zwei Autofahrer bemerkten aber jedesmal rechtzeitig das Hindernis und so konnte ein Unglück verhütet werden.
Kleineislingen OA. Göppingen, 15. Juni. Gestohlene s A u t o. In der Morgenfrühe ersuchte ein Mensch, der mit einem neuen Personenkraftwagen hier ankam, einen Anwesenbesitzer, den Wagen in seiner Scheuer einstellen zu Hürden-, er müsse schnell nach Stuttgart, um seine Papiere zu holen. Der Kerl verduftete und ließ sich nicht wieder blik- ken. Der Wagen, an dem Nummer und Markenzeichen fehlen, ist offenbar gestohlen. Er wurde von der Polizei beschlagnahmt.
Ulm, 15. Juni. U eberfahren. Auf dem Berschiebe- dahnhof wurde der Ankuppler Anton Straub aus Deggingen OA. Geislingen überfahren und getötet.
Blaubeuren, 15. Juni. Verdorbene Jugend. Zmei Ulmer Bürschchen im Alter von 12 und 16 Jahren hausierte» hier mit Schuhnesteln: der Vater sei gestorben, die M'stiei schon lange krank usw. Beim Verlassen eines Hauses entwendeten sie den Zimmer- und den Hausschlüssel — lm spätere Besuche. Der Diebstahl wurde aber bald entdeckt, und die frechen Jungen konnten vom Landjäger, bald ergrii- fen und in sicheren Gswgbriom gebracht w-"ck?n.
Der Bismarck von ^erschien
tA) Ein luftiger Roman von Fritz Skowronnek Loprrixrd 1024 dx Kurl Köhler u. Lü.. Berlin rv lS
(Nachdruck verboten.)
.Na, und wegen der Kinder reden wir noch einmal, wenn die Geschichte vorbei ist," meinte der Alte treuherzig, als ihn Mey- höser zum Gehen aufforderte. Er soll sich beim Krämer die Uniform Napoleons anprobieren lassen, damit sie nach seiner etwas dürftigen Gestalt eingenäht werden könnte.
Der Schuster, der schon lange nicht soviel Geld besessen hatte, war in seiner freudigen Stimmung natürlich zuerst im Wirtspaus eigekehrt, von wo sich bald im Dorf die freudige Nachricht verbreitete, daß der Napoleon endlich gefunden sei und zwar ein Napoleon mit Prügel.
In etwas gehobener Stimmung ging Paluttke zum Krämer, um sich die Unijorm anpassen zu lassen. Zum Unglück traf er den Mann nicht zu Hause. Kurz entschlossen lieh er sich von der Frau die Uniform geben. Seine Weibsleut würden zu Hause die Aenderung schon vornehmen.
Schon nicht mehr ganz nüchtern, wunderte er am Nachmittag nach Hause, aber nicht mehr auf dem geradesten Weg, sondern mit einem kleinen Umweg über das Gestüt. Er wollte Zusehen, ob er nicht von den jungen Beamten ein paar Bestellungen auf neue Stiefel erhalten konnte. Bisher hakten sie ihm nur die Flickarbeit überlassen.
Er fand eine ganze Anzahl junger Leute in ihrer Kantine versammelt. Redselig erzählte er, daß er am Sedantage in Kerschken den Napoleon spielte und ein großes Stück Geld verdiente. Zum Beweis schlug er das blaue Tuch auseinander und zeigte die Uniform des Napoleons. Die übermütigen jungen Burschen hatten nun nichts Eiligeres zu tun, als den Alten zum Anlegen der Uniform zu beschwatzen.
Natürlich versäumten sie nicht, den Schuster durch Schnapsspenden betrunken zu machen. Das gelang ihnen denn auch bald so gründlich, daß Paluttke gegen Abend die Straße nach Hause torkelte. Den Unisormrock hatte er an. Sein Feiertagsrock war in der Kantine liegen geblieben.
Die Spaziergänger blieben lachend stehen. Aus den Tagelöhner-Katen vor dem Tor stürzten scharenweis die Kinder, sogar Erwachsene schlossen sich an. Es war auch ein zu komischer Anblick, denn Paluttke torkelte nicht mehr, sondern er focht mit
den Händen in der Luft herum und murmelte allerlei vor sich hin. Ab und zu blieb er stehen, um seinem Gefolge zu verkünden, daß er jetzt der Napoleon wäre. So zog er, von einer johlenden Menge umgeben, über den Marktplatz bis zu seiner Wohnung.
11 .
Marie hatte ihr „Fähnchen" angezogen, ein einfaches, aber geschmackvoll gearbeitetes Kleid, das ihre schlanke Gestalt sehr vorteilhaft zur Geltung brachte. Ein kleidsames Hütchen, mit einem kleinen Strauß Vergißmeinnicht vollendete den Anzug. Daß Kleid und Hut schon vier Jahr alt und längst aus der Mode waren, genierte sie nicht. Ebenso wenig, daß alle Damen und Herren des Kränzchens das Kleid schon ebenso lange konnten.
Sie stand eben in dieser Beziehung über dem Kreis, in dem sie verkehrte. Im Grunde genommen, war der Berkehr etwas einseitig. Er beschränkte sich auf das Kränzchen, bei dem sie sozusagen Lehrerin war, denn sie erhielt von der Veranstalterin, einem ältlichen Fräulein, eine winzige Entlohnung für ihre Teilnahme. Dafür hatte sie die Verpflichtung, mit den jüngeren Teilnehmern des Zirkels französisch zu sprechen.
Der ganze Bildungsdrang der Honoratioren des kleinen Städtchen entlud sich in diesem Kränzchen. Da wurden französische Theaterstücke — natürlich nur ganz stubenreine Klassiker ältester Observanz — mit verteilten Rollen gelesen. Nach jedem Akt leitete Fräulein Neumann, die ganz perfekt französisch sprach, eine Erläuterung ein. bei er sich außer Marie meistens nur einige ältere Damen beteiligten. Dann begann die freie Konversation in der fremden Sprache, für die das Fräulein den Stoff angab. Zur Vorsicht wurde jedem Mitglied unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt, über welches Stoffgebiet am nächsten Abend geplaudert werden sollte. Dann übten ehrgeizige Mitglieder die fünfzig Phrasen ein, die ihnen ein Hilfsbuch in die Hand gab.
Dann entwickelte sich die Unterhaltung folgendermaßen:
Frl. Neu mann: „Haben Sie in diesem Jahr eine Reise gemacht, meine Freundin?"
Zwei Backfische: (gleichzeitig): .Aber ja, Madame, wir sind gewesen in Berlin."
Frl. N.: „Ah, Sie sind also gewesen in der Hauptstadt des Deutschen Reiches. Haben Sie bewundert ihre Sehenswürdigkeiten?"
Erster Backfisch: „Allerdings! Wir haben gesehen die Kirchen, die Museen, die Theater."
Zweiter Backfisch: „Wir haben bewundert die Meisterwerke der Kunst, die zahlreichen Denkmäler, mit denen ein kunstliebender Monarch geschmückt hat seine Hauptstadt. ..."
In diesem Stil ging es ganz ernsthaft weiter, bis die fünfzig Phrasen abgehaspelt waren. Dann durfte deutsch gesprochen werden. Nur einige, die wirklich etwas lernen wollten, scharten sich um Marie. Und oft wurde ihr die fremde Sprache, die sie meisterhaft ebherrschte, zu einer guten Waffe, um plumpe Schmeicheleien junger Herren und versteckter Bosheiten allerer Jungfrauen geschickt abzuwehren... Aber es war doch ein Hauch aus einer anderen Welt, der sie dort anwshte . . . eine Abwechslung gegenüber dem ewigen Einerlei des Alltags . . . Deshalb ging sie so gern dorthin.
Marie stand gerade in der Haustür, und zog sich ihre Glace Handschuhe an, als sich ein johlender Haufen von Kindern, Frauen und Männern auf ihr Häuschen zuwälzte. Mitten drin ein Mannn in einer fremdartigen Uniform, der torkelnd und fluchend die Straße daherkam. Halbwüchsige Burschen zerrten ihn an den Schößen seiner Uniform oder gaben ihm gar einen Stoß. - -
Eben war Marie in den Flur zurückgetreten, als sie an dei Stimme ihren Vater erkannte. Einen Augenblick drückte sie beide Hände gegen das klopfende Herz, dann sprang sie hinaus, fanden alten Mann unter den Arm und zog ihn schnell in die Tür, die sie hinter sich zuschlug und verriegelte.
Aber nun war ihre Kraft und Beherrschung zu Ende. Während der Alte schwankenden Schrittes in die Stube ging, sprang sie hinaus in den Garten, lehnte den Kopf an die Pfosten der Laube und begann bitterlich zu weinen. Die ganze Well war über ihr znsammengestürzt. Daß der Baker manchmal einen über den Durst trank und in gestörtem Gleichgewicht nach Hassn kam, war ihr kein Geheimnis mehr. Aber gesehen hatte sie ch» noch nicht in diesem Zustand.
Und die Schande dazu! Der Menschenhaufen, dem die Sensation so plötzlich abhanden gekommen war, stand noch vor dem Hause, johlend und lärmend. Deutlich hörte sie rufen: „Napolirum komm raus! Napolium, verkrauchst dir im Busch?" Und stimmte ein stimmbegabter Lümmel das Lied an: .
.Napoleon, du Schneidergeselle..Ein Kerl schrie ^la« dazwischen: „Das is ja kein Schneider, das is'n Schuster."
Plötzlich verstummte der Lärm. Marie wußte nicht, daß ch" Mutter mit einem strubbligen Besen ams der Haustür geflurzr war und iü« ganze Bande m die Flucht geschlagen hott», (Fortsetzung folgt.)