Seite 4 Nr. 115

ie Wirkung auf Ursina war unverkennbar.

Die

ses überstürzte Englandprojekt ihre Tochter zu falschen Schlüssen führen könnte, und nun las sie in Barbs verdüsterten Augen nichts als feindselige Anklage. Sie beschloß, sich fürs erste natürlich zu geben und zu tun, als ob sie ihre veränderte Haltung übersehe, denn mit ein paar Worten zwischen Tür und An- gel war hier nichts getan. Sie mußte sich in Ruhe mit ihr aussprechen, dazu aber eine günstigere Gelegenheit abwarten, die Barb aufgeschlossen und- empfänglich fände.

Das Haus, das sie noch nicht kannte, ent- lockte Barb nicht mehr als ein reichlich bla- siertes Lob, das zu gewollt klang, um die Ab- sicht der Kränkung zu verbergen. Selbst in das reizende Zimmer, das Ursina ihr zurecht- gemacht hatte, trat sie ein, wie in ein unper- sönliches Hotelzimmer, das sie zu kurzer Rast aufnahm Sie wollte nicht sehen, mit welcher Liebe und mit welchem sorgfältigen Abwägen ihrer eigenen Geschmacksrichtung es einge- richtet worden war, sie wollte ihrer Mutter gegenüber hart und verschlossen bleiben und keine weicheren Gefühle aufkommen lassen. Während Ursina Barb von der Bahn ab- holte, hatte Walter telephoniert, daß er nicht. zum Essen kommen könne, er müsse plötzlich geschäftlich nach Bern.

Ursina wartete im Eẞzimmer auf Barb. Sie stand am Fenster und starrte in den Garten hinaus auf die große Weide, die sich bereits mit Kätzchen schmückte.

Alb Barb endlich kam, war die Suppe schon fast kalt. Sie hatte sich umgezogen und sorg- fältig hergerichtet, die Augenbraunen nachge- zogen, die Wimpern dunkel getuscht, die Lip- pen gefärbt, das Gesicht gepudert und ge- schminkt Obwohl sie es mit unleugbarem Ge- schick gemacht hatte, und es ihr gut stand, war Ursina entsetzt.

,, Barb! Wie kannst Du Dich so herrichten? Hast Du das nötig?"

,, Du tust es ja auch", sagte das junge Mäd- chen trotzig

,, Ich bin zwanzig Jahre älter als Du! Was würde Dein Vater sagen, wenn er Dich so sähe! Deine natürlichen Farben sind Dein größter Reiz."

,, Alle junge Mädchen tun es."

In dieser Form tun es Mädchen aus guter Familie sicher nicht", widersprach Ursina, die sich über Barbs Trotz zu ärgern begann. ,, Du verdirbst Dir Deinè schöne Haut. Hätte ich mich je so geschminkt, würde ich heute nicht mehr so aussehen. Meine Schönheitspflege be- stand fünfunddreißig Jahre darin, daß ich mich gut wusch, mit möglichst kaltem Wasser, das die Blutzirkulation antreibt; erst später habe ich angefangen, ein wenig nachzuhelfen." ,, Heute ist das eben Mode."

,, Barb", sagte Ursina streng ,,, Du gehst jetzt nach oben und schminkst Dich ab! Solange Du hier in meinem Hause bist, will ich Dich nicht wieder so angemalt sehen."

Barbara wurde blaß unter der Schminke. ,, Ich bin kein Kind mehr, und schließlich ist es meine Sache, ob ich meine Haut verderbe." ,, Barb? Hast Du verstanden, was ich gesagt habe?", fragte Ursina zornig.

,, Ja." Aufreizend langsam stand das Mädchen auf, und eine versteckte Drohung lag in ihren Augen. Sie preßte den Mund zusammen, um nichts mehr zu sagen und hätte sicher ohne ein weiteres Wort das Zimmer verlassen,

wenn Ursina in ihrem Zorn nicht noch hinzu- gefügt hätte, daß sie anscheinend zuviel Ta- schengeld habe, daß sie sich alle diese Schön-

heitsmittelchen kaufen könnte. Dies brachte

Barbs mühsame Beherrschung endgültig zum Einsturz. Schon an der Türe drehte sie sich noch einmal um und sagte zwischen zusam- mengebissenen Zähnen: Du hast ja nur Angst,

daß ich schöner sein könnte als Du!"

Als die Türe zugefallen war, blieb Ursina wie versteinert sitzen.

Nein, nein!" flüsterte sie mit blassen Lip- pen,., das ist ja nicht Barb, die so spricht, es ist etwas Fremdes, Hintergründiges in ihr, das ich nicht kenne." Die Gedanken über- stürzten sich in ihrem Hirn. ,, Sie hat alle frü- here Zutraulichkeit verloren. Sie glaubt nicht mehr, daß ich es gut mit ihr meine, sie be- trachtet mich, ihre Mutter, als ihre Feindin. Warum dieses Ungeheuerliche? Was habe ich ihr getan? Was ist geschehen, das diese un- selige Wandlung in ihr hervorgerufen hat? Erst schien es doch, als ob sie sich an meinem Glück mitfreute, und nun geschieht das Ent- setzliche, daß sie mein einziges Kind, einen riesengroßen Schatten darauf wirft. Auch Walter fühlt das, er ist durch sie beunruhigt, sie stört ihn, er will sie nicht im Hause be- halten, anders kann ich mir sein Verhalten nicht erklären. Ich begreife nur nicht, was das anfänglich so herzliche Einvernehmen der beiden plötzlich so nachhaltig gestört. hat. Walter war immer reizend zu Barb, und doch war er auch damals froh, als sie wieder ab- fuhr und er mit mir allein bleiben konnte. Es ist irgend etwas an Barb, das sich nicht orga- nisch in unsere Gemeinschaft hineinfügen will, etwas Aufrührerisches, Unharmonisches, das uns alle um unsere Gemütsruhe bringt. Was kann das nur um Gottes willen sein, und was sollen diese merkwürdigen Worte bedeu- ten, daß ich fürchtete, sie könnte schöner sein als ich? Sie ist es doch allein schon durch thre Jugend, und ich werde nie so töricht sein, Vergleiche zwischen uns beiden zu ziehen. Ich stehe im Sommer meines Lebens und sie in der ersten prangenden Blüte, Gott mag ver- hüten, daß ich ihr diesen Vorzug je miẞgönne." Nachdem Barb nicht mehr heruntergekom- men war, räumte Fräulein Peter das fast un- berührte Essen kopfschüttelnd wieder ab. Ur- sina hatte Barbs Lieblingscreme als Nachspeise bestellt, und die Haushälterin ärgerte sich mit Recht, daß sie nicht einmal versucht worden

war.

,, Fräulein Barbara wird sie heute abend es- sen, sie verträgt das Bahnfahren nicht und fühlte sich schlecht. Lassen Sie sie schlafen und wecken Sie sie nicht zum Tee, wenn sie von sich aus nichts verlangt."

Mit einer Stunde Verspätung traf Ursina im Olympiaverlag ein und rief sofort bei der Schwesterfirma an, um zu erfahren, wann ihr Mann aus Bern zurückkomme.

SCHWABISCHES TAG BLATT

Wohin führst Du mich?

ROMAN VON DORIS EICKE

,, Aus Bern?" fragte das Bürofräulein ver- wundert ,,, aber Herr Doktor Roth ist doch hier, wollen Sie ihn sprechen?"

,, Nein, sagte Ursina rasch, ,, danke, Fräu- lein." Noch verwirrter, als sie ohnehin gewe- sen, legte sie den Hörer auf. Walter hatte ge- logen und eine geschäftliche Reise vorge- schützt, um nicht zum Essen nach Hause kom- men zu müssen. Warum? ,, Barb", dachte sie mit einem stechenden Schmerz in der Brust, ,, er will Barb nicht sehen. Wie nur finde ich einen Ausweg aus dieser entsetzlichen Lage? Wird das Schicksal mir wirklich die furcht- bare Wahl aufzwingen: sie oder ihn?

Als Roth Ursina am Abend abholte, sagte er nichts mehr von seiner angeblichen Fahrt nach Bern. Anscheinend scheute er davor zurück, diese Lüge unnötig zu wiederholen. Er fragte nach Barb, aber seine Gedanken schienen ganz anderswo zu sein, denn er hörte kaum auf ihre Antwort. Da er ihrer Tochter gegenüber so ablehnend eingestellt zu sein schien, wagte sie es nicht, ihm zu sagen, was sich zwischen Barb und ihr ereignet hatte, andererseits bangte sie davor, daß er die tiefe Störung ih- res gegenseitigen Verhältnisse ohne jede Vor- bereitung wahrnehmen würde. In seinen Ge-

,, Hallo Barb, was für ein Ölgemälde hast Du denn aus Dir gemacht"

danken vertieft fiel ihm Ursinas Schweigen

nicht auf.

Barb kam ihnen in der Halle entgegen. Sie hatte sich abermals umgezogen. Von einer Befolgung des mütterlichen Befehls war nichts zu entdecken, sie war noch ebenso sorgfältig

und raffiniert hergerichtet wie am Mittag,

und der Blick, den sie Ursina zuwarf, war ausgesprochen herausfordernd.

,, Grüß Gott, Walter!" sagte sie mit all der Herzlichkeit, die sie ihrer Mutter neuerdings

vorenthielt. Ursina hatte sie zwar immer von Walter reden hören, daß sie ihn nun aber ein- fach mit Vornamen anredete, kam ihr doch unerwartet. Er dagegen schien es nicht zu bemerken.

,, Hallo, Barb", sagte er stirnrunzelnd ,,, was für ein Oelgemälde hast Du denn aus Dir ge- macht, Wie kannst Du Dich nur so verunstal- ten, Mädchen?"

Barb wurde glühend rot.

,, Sie hat Dich also auch schon aufgehetzt?" stieß sie wütend hervor.

,, Wieso? Wer ist sie'? Doch wohl nicht Deine Mutter?"

, Wer anders? Heute mittag hat sie mich ab- gekanzelt wie ein Schulkind-" ,, Du wirst es verdient haben."

und nun hat sie auch noch Dich dazu gebracht, ins gleiche Horn zu blasen."

Ursina stand einen Augenblick ratlos neben den beiden und spürte fast körperlich Walters maẞlose Verwunderung.

,, Barb hat heute einen schlechten Tag", sagte sie begütigend ,,, und dann kann es ihr niemand recht machen. Wir haben bisher noch keine drei Worte von Dir gesprochen, Kind, und keinesfalls über unsere Meinungsverschie- denheit von heute Mittag."

,, Dann war es also Zufall, daß Walter das gleiche sagte wie Du?" fragte Barb in unver- hohlenem Unglauben. ,, Merkwürdig!" ,, Merkwürdig finde ich hier lediglich den Ton, den Du neuerdings Deiner Mutter ge- genüber anschlägst", griff Roth mit gewichti- gem Ernst ein. Wir haben hier bisher glück- lich und friedlich gelebt, ich hoffe nicht, daß Du die Verantwortung dafür übernehmen willst, daß das anders wird."

Er wandte sich zur Treppe und stieg hinauf. Als man später zu Tisch gehen wollte, war Barb nicht da.

,, Fräulein Peter, sagen Sie doch bitte oben Bescheid, daß gegessen wird", ordnete Roth an. Das wirkte. Barb, verheult wie ein Schul- mädchen und ganz ohne die aufreizenden Al- lüren einer jungen Dame von Welt, kam gleich hinter Fräulein Peter herunter und drückte sich verlegen in einen Stuhl.

,, Na also", sagte Walter aufmunternd und gab ihr einen kleinen Klaps auf die Schulter, der beinahe einen neuen Tränenstrom hervor. gerufen hätte. Um ihr Zeit zu lassen, sich zu beruhigen, plauderten Walter und Ursina so ungezwungen wie möglich über irgendwelche Tagesereignisse und zogen auch Barb zuwei- len ins Gespräch. Allmählich merkten sie, daß

( 13. Fortsetzung)

die innere Verkrampfung, in der sich das junge Geschöpf befand, zu lösen begann.

Gegen neun Uhr klingelte es, und Kolb stand vor der Tür. Er sagte nichts darüber, ob er das Datum von Barbs Ankunft behal- ten hatte, oder ob die Uebereinstimmung sei- nes Besuchs mit ihm ein Zufall sei. Er war es gewohnt, in diesem Hause gut aufgenom- men zu werden und betrachtete es fast als

sein Recht. So überströmend herzlich wie heute aber war die Begrüßung noch nie ge- wesen. Jeder der drei Menschen empfand sei- nen Besuch geradezu als Gottesgeschenk, je- denfalls gab er der ganzen Stimmung die entscheidende Wendung ins Harmlos- Gemüt-

liche.

,, Nun, schon Reisefieber vor der großen Fahrt, kleines Fräulein?" fragte Kolb gön- nerhaft.

Barb hatte einen solchen Ton nicht gern. , Wissen Sie das auch schon?" fragte sie ein wenig schnippisch.

27

,, Ich war sogar dabei, als die Bombe platzte und mein Freund Ihrer Mutter den ganzen Plan verriet, ich kenne ihn also aus erster Hand. Wie hat denn die Ueberraschung bei Ihnen gewirkt? Ihre Mutter war anscheinend von der schnellen Trennung von ihrem Töch- terchen nicht gerade begeistert."

" O", sagte Barb, und niemand begriff, war- um das so erschrocken klang.

Als Barb herausgeschickt wurde, um den Mokka zu bestellen, blieb sie in der dunklen Diele einen Augenblick stehen, bevor sie das Licht aufflammen ließ.

,, Ich habe mich gegen Musch gemein be- nommen, und ich habe ihr fürchterlich un- recht getan. Mein Gott, in was habe ich mich denn verrannt? Walter behandelt mich wie ein dummes Gör, und es ist nichts. gar nichts von alldem da, was ich mir eingebildet habe. Er hat ja nur Augen für Musch das tut weh, ach, warum tut mir das nur so weh? Er hat recht, daß er mich fortschickt, es ist das einzig Richtige. Drüben in England wer- de ich andere Männer kennenlernen und ihn vergessen."

Barb richtete in der Küche ihre Bestellung aus und kam dann langsam über die Diele zurück.

دو

, Wo bleibst Du denn, Kind?" fragte Ursina verwundert Sie war herausgekommen, weil Barb so lange nicht wiederkehrte. ,, Hast Du den Kaffee bestellt?"

,, Ja, Musch."

,, Dann komm, wir wollen den Tisch vorbe- reiten", schlug Ursina freundlich vor. ,, Du bist doch nicht zu müde? Oder möchtest Du lieber schlafen gehen?"

belanglose Worte, die sie miteinander wech- selten, aber Ursina spürte deutlich, daß die rätselhafte Feindseligkeit aus Barb gewichen war. Einträchtig deckten sie miteinander den Tisch.

,, Nein, ich bin ganz frisch." Es waren nur

gemütlich. Als man endlich zur Ruhe ging,

Der Abend verlief mit Kolbs Hilfe ziemlich

kämpfte Ursina mit sich, ob sie nicht aus alter Gewohnheit zu Barb hinübergehen, sie zudecken und ihr die Lampe löschen sollte.

Sie unterließ es schließlich auf Walters aus- drückliche Bitte hin.

,, Du mußt es ihr nicht zu leicht machen, Ur- sina, laß sie nur ein wenig zappeln, sie ver- dient für ihr Benehmen keine Belohnung."

Sie sprachen noch lange von Barb, da aber keines von ihnen seine letzten Gedanken aus- sprach, kamen sie zu keinem Ergebnis, das ih- nen in diesem schwierigen Fall weitergehol-

fen hätte.

4. Dezember 1948

seelische Band, das diese beiden Menschen an- einander fesselte.

Als der vierte Tag herangekommen war, hielt Barb es nicht länger aus. Ihre Nerven waren angespannt wie immer dünner wer- dende Saiten, und ihr ungestümes Tempera- ment schrie nach einer Erlösung aus all die- ser nie gekannten Qual. Bevor sie nach Eng- land ging. und es gab nichts, was sie da- vor retten konnte, wollte sie wissen, wie es um Walter stand. Wenn es ihr nur für ein paar Minuten gelang, Walter allein zu sprechen, so würde sie seine Zurückhaltung schon ins Wanken bringen, das traute sie sich zu.

Aus solchen Gedanken heraus entstand Barbs verzweifelter Plan, Walter einen Brief zu schreiben und ihn unter einer Drohung. die ihm ernst genug erscheinen mußte, zu ei- nem Stelldichein zu zwingen. Kein anderer Mann hätte sie zu einer derartigen Tat ver- anlassen können, denn sie war durchaus nicht ohne Stolz. Walter aber war so viel älter, er stand in gewisser Weise hoch über ihrer acht- zehnjährigen Weisheit,' ihm gegenüber zerfie- len alle landläufigen Begriffe von Stolz, und sie war nichts mehr als ein sehr junges, sehr ver-

liebtes Mädchen, das vor Sehnsucht nach ihm fast verging.

Ursina und Walter waren wie immer gegen zwei Uhr wieder in die Stadt gefahren, doch hatte sie sich am Kantonsspital absetzen las- sen, um Herrn Meyer, der dort von einem quälenden Ekzem geheilt wurde, einen Be- such abzustatten.

Als Roth in sein Büro trat, sah er auf sei- nem Schreibtisch einen Expreßbrief mit einer weiblichen Handschrift liegen, die er von ih- ren Briefen an Ursina her sofort als diejenige Barbs erkannte. In böser Ahnung öffnete er Ihn und überflog die wenigen Zeilen.

,, Walter, ich muß Dich unbedingt sprechen. und es ist heute mein vorletzter Tag. Ich er- warte Dich heute nachmittag, wir werden al- lein sein da Fräulein Peter Ausgang hat. Wenn Du nicht kommst, werde ich Musch heute abend sagen, daß ich Dich liebe.

Barb." ,, Verflucht!" sagte Roth zwischen zusammen- gebissenen Zähnen und schleuderte den brief auf die Schreibtischplatte zurück wie ein ge- fährliches Reptil, dann nahm er in seinem Büro eine stürmische Wanderung von Wand zu Wand auf und schickte jedermann hinaus. der ihn zu stören wagte.

Sie stellte ihm ein Ultimatum, diese raffi- nierte, kleine Person! und was für eines! Ur- sina! Die Vorstellung, daß Barb ihre Dro- hung ausführen könnte, machte ihn toll. Es war nicht zu leugnen, daß diese Kleine ihn zuweilen aus der Ruhe brachte, daß er ihre frische Jugend in allen Nerven begehrlich spürte, aber das war doch nichts, nichts ge- genüber dem, was er für Ursina empfand. Sie durfte nicht beunruhigt, nicht mit dem Schat- ten eines Verdachtes gequält werden.

Walter schaute auf die Uhr: Es war halb drei vorbei. Eines war sicher: Er mußte die- ser kleinen Wilden den Willen tun, hinauf- fahren und ihr den Kopf zurechtsetzen, un- mißverständlich und ein für allemal, Er würde ihr sagen, daß sie nicht eher in sein Haus zurückkehren dürfe. als bis sie mit ihrer Ver- blendung fertig geworden war. Er mußte ener- gisch, aber nicht mit allzu großer Härte auf- treten, denn schließlich war Barb noch ein halbes Kind. und er wollte ihr nicht weher tun, als notwendig war. Immerhin hatte er eine solide Wut auf sie, und wenn ihm ihre Vernarrtheit in ihn zuweilen doch ein unbe- wußtes Vergnügen bereitet hatte, so spürte er jetzt, daß es ernst wurde, nicht das Gering- ste mehr davon.

Aergerlich riß er den Mantel vom Haken und stopfte den Unglücksbrief in die Tasche. Er würde ihn zu Hause verbrennen. Im Vor- beigehen hinterließ er, daß er in einer Stunde zurück sein würde, und stieg in den Wagen. Er sah im Spiegel, daß sein Gesicht von einer grauen Blässe überzogen war, die Geschichte nahm ihn doch mehr mit. als er wahrhaben wollte.

Als er am Kantonsspital vorbeikam und ging, kam ihm eine Dame entgegen. Obwohl bei der Dermatologischen Klinik in die Kurve er durch einen riesigen Lastwagen mit An- hänger, der vor ihm fuhr, gezwungen war. verhältnismäßig langsam zu fahren, achtete er

und sah auch ihn.

Da es ihr einen Augenblick schien, als ob er sie ansehe, hob Ursina die Hand, um ihm zu winken, aber sein versunkener Blick ging achtlos an ihr vorbei. Ein eisiger Schreck durchzuckte sie. Sie hatte scharfe Augen, und eine Sekunde genügte ihr, um zu erkennen. daß Walter nicht aussah wie sonst. Was war in der Dreiviertelstunde geschehen, seit sie sich hier, fast an der gleichen Stelle, getrennt hatten, und wohin fuhr Walter jetzt mitten in seinen Bürostunden?

Barb wartete lange auf ihre Mutter, und als sie ausblieb, fühlte sie sich grenzenlos ver- lassen, hin- und hergerissen von widerstrei- nicht auf sie, sie aber erkannte den Wagen tenden Gefühlen, mit denen ihre Jugend und Unerfahrenheit nicht fertig wurde. Ihre Ge- danken spielten begehrlich immer wieder um den Einen, der ihr doch schon einmal so nahe gewesen und jetzt wieder ferner gerückt war. Auch Walter Roth dachte an sie, obwohl er sich ehrlich bemühte, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Sobald er die Augen schloß, tranzte dieses kapriziöse, quick- lebendige Persönchen wie hinter den Schlei- ern eines Halbtraumes vor ihm auf und ab, lachte ihn in ihrer besonderen charmanten Art an und warf ihm Kuẞhände zu. Walter emp- fand diese Visionen als ausgesprochen quä- lend, und er haßte Barb beinahe, weil sie ihn wider sein Wünschen und Wollen derart be- unruhigte. Er liebte Ursina, nur sie, aber er konnte es nicht hindern, daß in seinem Traum, nach endlich gefundenem Schlaf, die beiden Frauen geheimnisvoll in eine ver- schmolzen, und daß ihm Ursina, mit Barbs köstlicher Jugend, ihrem drolligen Uebermut und ihrer schwerelosen Lebensfreude wie ein fernes Ideal vorgaukelte.

Die fünf Tage, die Barb in Zürich war, blie- ben bewegt und ohne wirkliche Harmonie, keiner der drei Hauptbeteiligten erkannte ge- nau, was gespielt wurde, niemand deckte wirk- lich seine Karten auf, und jeder war nur auf ängstliche oder hoffnungsvolle Mutmaßungen angewiesen. In Barb, die bisher noch niemals geliebt hatte, brannte diese erste stürmische Liebe wie ein fressendes Feuer. Jedes freund- liche Wort, das Walter zu ihr sprach, jedes kleine Geschenk, das er ihr machte, deutete sie auf ihre Weise, und sie wurden, ohne daß Walter es wollte, die Nahrung, die dieses Feuer aufrecht erhielt, ja immer glühender anfachte. Aber sie nährte ihre Liebe auch mit Verzweiflung, wenn Walter sie zu wenig be- achtete oder Ursina in ihrer Gegenwart ir- gendeine Zärtlichkeit erwies. Sie spürte mit brennendem Neid das ungewöhnlich starke,

Als hätte jemand einen Vorhang vor ihren Augen weggerissen, ahnte Ursina auf einmal,

wohin und zu wem Walter fuhr. Barbs son- derbares Benehmen, ihre krampfhaften Ver- suche, ihm zu gefallen. ihre Feindseligkeit und ihr brennender Neid gegen sie, die Mutter, erhielten auf einmal eine neue Deutung. Es war nicht das erste Mal, daß ihre Gedanken sich in dieser Richtung bewegten, aber sie hatte diese vermeintlichen Hirngespinste bis- her mit ihrer ganzen inneren Kraft von sich gewiesen. Jetzt auf einmal hatte sie den Mut, sich einzugestehen, daß sie vielleicht bittere, entsetzliche Wahrheit waren.

Und Walter? Auch er war zuweilen sonder- bar gewesen, und sie hatte ihn nicht immer verstanden. Wenn sie seine impulsive Zunel- gung bei Barbs erstem Besuch bedachte und seine fast strenge Kühle bei ihrer jetzigen Rückkehr damit verglich, so schien er ihr zwi- schen zwei Extremen zu schwanken. Was ver- barg sich hinter dieser zwiespältigen Haltung? Ursina wäre es selbst jetzt als ein Frevel erschienen, hätte sie an Walters Liebe ge- zweifelt. Er hatte ihr niemals auch nur den geringsten Anlaß dazu gegeben, seine Zärt- lichkeit und liebende Fürsorge waren sich gleich geblieben wie am ersten Tag. Und hat- ten sich inzwischen nicht unzerreißbare Fäden zwischen ihnen gespannt, die tief im Urgrund ihres Wesens wurzelten?( Fortsetzung folgt)