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81. August 1948
DAS FEUILLETON
Othello wirbt um Desdemona
Von Charles und Mary Lamb
Im Verlag Kurt Desch, München, erscheint dem- nächst in der Uebersetzung von Kurt Wagenseil eine Auswahl der Tales from Shakespeare von Charles und Mary Lamb, die 1807 zuerst er- schienen den Inhalt der gewaltigen Dramen in kleinen Erzählungen behutsam und mit einem kleinen humoristischen Akzent wiedergeben, der den Hauptreiz der Erzählungen ausmacht. Brabantio, der reiche Senator von Venedig, hatte eine schöne Tochter, die sanfte Desde- mona. Wegen ihrer vielen trefflichen Eigen- schaften und ihres zu erwartenden reichen Er- bes warben viele Freier um sie. Doch unter den Bewerbern ihrer eigenen Heimat und Hautfarbe war keiner, den sie lieben konnte,
denn das edle Mädchen, das den Charakter der Männer höher achtete als ihre äußere Erschei- nung, hatte mit einer Eigenheit, die man eher bewundern als nachahmen sollte, zum Gegen- stand ihrer Neigung einen Mohren erwählt, einen Schwarzen, den ihr Vater schätzte und
oft in sein Haus lud.
Es fehlte dem edlen Mohren nicht an her- vorragenden Eigenschaften, die ihn der Liebe der vornehmsten Dame empfehlen konnten. Er war ein tapferer Soldat, und durch seine
Führung in den blutigen Kriegen gegen die
Türken hatte er es bis zum Range eines Ge- nerals in venezianischen Diensten gebracht; die mächtigsten Männer des Staates achteten ihn und schenkten ihm ihr Vertrauen.
Er war ein weitgereister Mann, und wie es die Art junger Mädchen ist, hörte ihm Desde- mona gerne zu, wenn er die Geschichte seiner Abenteuer erzählte, die er alle zum besten gab, soweit er sich nur erinnern konnte.. Er sprach von Schlachten, Belagerungen und Kämpfen, an denen er teilgenommen hatte, von den Gefahren, denen er zu Wasser und zu Lande ausgesetzt gewesen war, er berichtete, wie er bei einem Durchbruch oder als er auf die Mündung eines Geschützes zuging, nur um Haaresbreite dem Tode entronnen, wie er von dem frechen Feind gefangengenommen und in die Sklaverei verkauft worden war, wie er sich in dieser Lage verhalten hatte und dann geflohen war. Solche Berichte schmückte er mit der Schilderung seltsamer Dinge aus, die er in fremden Ländern gesehen hatte, wie die unermeßliche Wüste, romantische Höhlen, die Steinbrüche, Felsen und Berge, deren Gipfel in die Wolken ragen, die wilden Volksstämme, die Kannibalen, die Menschen fressen, und eine Menschenrasse, bei der der Kopf unter den Schultern angewachsen ist. Diese Reise- geschichten fesselten Desdemonas Aufmerk- samkeit so sehr, daß sie, wenn sie einmal einen Auftrag im Hause erhielt, diese Arbeit in al- ler Eile verrichtete, um möglichst bald zu-
ten, so konnte doch dieses Geheimnis nicht lange gewahrt bleiben, sondern drang zu Ohren des alten Brabantio, der in einer feier- lichen Senatssitzung erschien, um Klage zu erheben gegen den Mohren Othello, der, wie er behauptete, durch Zaubermittel und Hexe- rei die schöne Desdemona dazu verleitet habe, ihn ohne die Zustimmung ihres Vaters und gegen die Gesetze der Gastfreundschaft zu heiraten.
Zu dieser Zeit war der venezianische Staat dringend auf die Dienste Othellos angewie- sen, da die Kunde nach Venedig gedrungen war, daß die Türken unter gewaltigen Vor- bereitungen eine Flotte ausgerüstet hatten, die neuerdings Kurs auf Zypern nahm, mit dem Zweck, dieses Bollwerk den Venezianern, in deren Besitz es damals war, wieder zu ent- reißen. In dieser Notlage warf der Staat den Blick auf Othello, den allein man der Vertei- hielt. So stand Othello, der vor den Senat ge- digung Zyperns gegen die Türken gewachsen laden worden war, vor den Senatoren zugleich als Bewerber um einen wichtigen staatlichen Posten und als Angeklagter wegen eines Ver- gehens, auf dem nach dem Gesetz Venedigs
die Todesstrafe stand. Brabantios Alter und
Rang als Senator verlangten, daß ihn die feier- liche Versammlung geduldig anhörte. Aber der entrüstete Vater brachte seine Anschul- digung so leidenschaftlich vor, wobei er Ver- mutung und Anspielung als Beweis bot, daß Othello, als er zu seiner Verteidigung aufge- fordert wurde, nur offen die Geschichte seiner Liebe zu erzählen brauchte. Er berichtete von seiner Werbung, die wir schon geschildert ha- ben, mit so viel natürlicher Beredsamkeit und entledigte sich seiner Worte mit so viel vor- nehmer Schlichtheit, die ja ein Beweis für Wahrheit ist, daß der Herzog, der als oberster Richter an der Versammlung teilnahm, nur
gestehen konnte, daß eine so erzählte Ge- schichte auch seine Tochter gewonnen hätte. Der Zauber und die Beschwörungen, deren sich Othello bei seiner Werbung bedient ha- ben sollte, erwiesen sich als nichts anderes als ehrliche Liebeskünste, wie sie den Män- nern zu Gebote stehen, und die einzige Hexe- rei, die er angewandt hatte, bestand in seiner Fähigkeit, eine gefühlvolle Geschichte erzäh- len zu können, um bei einem Mädchen Gehör zu finden.
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Die Aussage Othellos wurde durch das Zeug- nis Desdemonas bestätigt, die selbst vor Ge- richt erschien. Nachdem sie ihre kindliche Pflicht ihrem Vater gegenüber beteuert hatte, bat sie ihn um die Erlaubnis, sich zu einer noch höheren Pflicht bekennen zu dürfen, zu der Pflicht ihrem Herrn und Gemahl gegen- über, wie sie ja auch ihre Mutter bewiesen habe, als sie ihn Brabantio ihrem eige- nen Vater vorgezogen habe.. Der alte Senator, der seine Klage nicht auf- rechterhalten konnte, rief unter gramerfüllten Worten den Mohren zu sich und gab ihm weil es nun nicht mehr zu ändern war- seine Tochter, die er, nach seinen eigenen Worten, von Herzen gern von ihm ferngehalten hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Dann fügte er hinzu, er sei von ganzer Seele froh, daß er keine anderen Kinder habe, denn Des- demonas Verhalten hätte ihn sicher zum Ty- rannen gemacht, und er hätte dann wegen ihrer Pflichtvergessenheit seinen anderen Kin- dern Fesseln angelegt.
Nachdem diese Schwierigkeit behoben war, übernahm Othello, dem die Gewohnheit die Beschwerden des Soldatenlebens ebenso selbst- verständlich gemacht hatte, wie es für andere Männer Essen und Schlafen war, die Führung des Krieges in Zypern. Desdemona, die den mit Gefahren verbundenen Ruhm ihres Gatten höher schätzte als die leeren Freuden, mit de- nen jungverheiratete Paare gewöhnlich ihre Zeit verschwenden, willigte fröhlich ein, ihn zu begleiten.
Hochzeit in Freilassing
Von Friedel Eidens
Franziska schrieb:„ Ich glaube, es wird Zeit, daß wir jetzt unter allen Umständen heiraten. Wenn wir auf die Einsicht der Mächtigen oder auf einen Beschluß der Vereinten Nationen warten wollen, der den Grenzen gebietet wie dem Berg Sesam: tut euch auf, dann werden wir beide am Ende hundert Jahre alt und da- mit ist der schönste Teil des Lebens vermut- lich vorbei." Franziska ist sechsundzwanzig und der junge Mann, dem sie diese Rechnung zu bedenken gab, hat die Dreißig überschrit- ten wer den atemlosen Lauf der Zeit er-
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der die Menschen heute unerbittlicher schei- det als ein ganzer Ozean.
Die Zurüstungen gediehen allen Schwierig- keiten zum Trotz, schon war das Mahl be- stellt, die Fleischmarken gesammelt, die Ku- chen gebacken. Der junge Mann und seine Hochzeitsgäste: zwei Freunde und seine Schwe- ster, mieteten eine etwas altersschwache, aber entgegenkommende Taxe, die den Eisenbahn- tarif erheblich unterbot und überdies die be- queme Möglichkeit verhieß, die Zutaten des Festes, Kuchen, Blumen, ja sogar ein paar
Nr. 70/ See
An die Wolken Und immer wieder, Wenn ich mich müde gesehn An der Menschen Gesichtern, So vielen Spiegeln Unendlicher Torheit,
Hob ich das Aug
Ueber die Häuser und Bäume Empor zu euch,
Ihr ewigen Gedanken des Himmels. Und eure Größe und Freiheit Erlöste mich wieder,
Und ich dachte mit euch Ueber Länder und Meere hinweg Und hing mit euch
Ueberm Abgrund Unendlichkeit Und zerging zulett Wie Dunst,
Wenn ich ohn Maßen Den Samen der Sterne Fliegen sah
Ueber die Aecker
Der unergründlichen Tiefen. Christian Morgenstern
fenden Regendächern zog die kleine Kaval- kade in das Gasthaus„ Zum Zollhäusl", das gerade gegenüberlag.
Das Gasthaus Zum Zollhäusl" war auf solche Festlichkeiten gut eingespielt, im Ne- benzimmer war der Tisch gedeckt, der Bür- germeister höchstselbst und der Standesbe- amte harrten des Brautpaars. Franziska war blaß, aber ihr ,, Ja" klang so entschieden, als müsse sie über alle Grenzen hinweg die ganze Welt von der sieghaften Kraft der Liebe über- zeugen.
Sie tafelten in strahlender Heiterkeit, doch Franziska senkte immer öfter den Kopf und der junge Mann schaute ab und zu verstohlen auf seine Armbanduhr. Da erschien plötzlich der Wirt. ,, Meine Herrschaften", verkündete er triumphierend ,,, die Herren von der Polizei haben noch eine Stunde zugegeben!" Fassungs- los vor so viel Großmut toastete die ganze Gesellschaft auf die Herren von der Polizei.
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, Weißt du", sagte Franziska leise ,,, wenn ich so denke, wie nahe der Mirabellgarten ist, und im Salzburger Dom hätte ich mir Mozarts Ave verum gewünscht ein weißes Kleid mit Schleier hätte ich getragen..." ,, Ich hab' eine Abneigung gegen Schleier", erwiderte der junge Mann und strich zärtlich über ihre Hand. " Ja", meinte sie nachdenklich ,,, das wäre auch nicht das Wichtigste, das nicht."
Als die geschenkte Stunde herum war, standen sie wieder an der Schranke unter auf-
rückzukommen und mit Leidenschaft Othellos mißt, der muß ihr recht geben. Geduld haben Flaschen Wein und einen silbernen Leuchter gespannten Schirmen, denn es hörte nicht auf
Worten zu lauschen.
Einmal nutzte er eine Stunde, in der sie sich sehr lenksam zeigte und ihn bat, er möge ihr ausführlich die ganze Geschichte seines Le- bens erzählen, von dem sie schon so viel, aber doch nur in Bruchstücken, gehört habe. Er
als er von einigen unglücklichen Schicksals- schlägen sprach, die er in seinen jungen Jah- ren erlitten hatte.
Als er seine Geschichte beendet hatte, be- lohnte sie seine Mühe mit vielen Seufzern und schwur auf ihre artige Weise, daß alles sehr seltsam und traurig, außerordentlich traurig sei. Es wäre, wie sie sagte, am besten gewesen, sie hätte seinen Bericht gar nicht vernommen, und doch wünschte sie sich, daß sie der Himmel zu einem solchen Mann ge- schaffen hätte. Dann dankte sie ihm und fügte hinzu, wenn er einen Freund habe, der sie liebe, dann brauche er ihn nur zu lehren, wie er seine Geschichte erzählen müsse; damit würde er sie gewinnen. Bei diesen Anspie- lungen, die sie mit ebenso großer Offenheit wie Bescheidenheit, mit bestrickendem Lieb- reiz und unter Erröten vorbrachte, mußte Othello sie ja verstehen. Jetzt sprach er frei- mütiger von seiner Liebe und gewann durch die Gunst der Stunde die Einwilligung der hochherzigen Desdemona, ihn heimlich zu hei- raten.
sie lange genug bewiesen. Das letzte Mal sahen sie sich auf einem zweitausend Meter hohen
Berg, das war vor einem Jahr, und dies letzte Mal war zugleich das erste Mal seit dem Ende des Krieges. Franziska wohnt in Oesterreich, willigte ein und entlockte ihr manche Träne, liegt zwischen den zwei Ländern, so, daß die der junge Mann lebt in Bayern, und der Berg Grenze gerade mitten durch das Unterkunfts- haus auf seinem Gipfel läuft. In diesem Haus haben sich viele tausend Menschen getroffen, deren Herz nach einem Wiedersehen verlangte und die einander anders keine Hand reichen konnten: Eltern und Kinder, Bruder und Schwester, und die Liebenden hüben und drü- ben. Franziska war mit ihrer Mutter hinauf- gestiegen, die alte Dame hatte das Unterneh- men rüstig bestanden, und der junge Mann, der Franziska im Grunde lieber allein für sich gehabt hätte, war doch gerührt über so viel mütterlichen Opfersinn. Damals hatten sie be- schlossen, noch ein wenig mit der Heirat zu Bayern nach Oesterreich und von Oesterreich warten. Es mußte bald möglich sein, von nach Bayern zu fahren und in Salzburg oder in München Hochzeit zu feiern. Aber sie hat- ten sich getäuscht, sie hatten sich die Welt- geschichte zu einfach vorgestellt, und weil es sich mehr und mehr erwies, daß sie alles andere als einfach war, darum bekam Fran- ziska es mit der Angst zu tun, daß sie ihre Hochzeit überhaupt nicht mehr erleben würde. Der junge Mann überlegte nicht lange, er begab sich mit Tatkraft ans Werk. Und als er ausgekundschaftet hatte, daß in Fällen wie dem seinen mit Unterstützung menschen- freundlicher Grenzpolizei der Schlagbaum aus- nahmsweise für zwei Stunden gehoben wer- den könne, telegrafierte er an Franziska: Hoch- zeit findet in Freilassing statt. Freilassing ist eine kleine bayerische Stadt am Rande der Berge, sieben Kilometer von Salzburg entfernt. Die internationalen Züge haben sie früher hochmütig passiert, aber in Freilassing liegt jener Schlagbaum quer über der großen Straße,
Weder die Gesichtsfarbe Othellos noch sein Vermögen ließen die Hoffnung zu, daß Bra- bantio ihn als Schwiegersohn anerkennen würde. Er hatte zwar seine Tochter selbstän- dig wählen lassen, aber er erwartete doch, daß sie sich, wie es Sitte bei den vornehmen vene- zianischen Mädchen war, über kurz oder lang für einen Gatten in dem Rang oder mit dem Vermögen eines Senators entscheiden würde, und darin sah er sich enttäuscht. Desdemona liebte den Mohren, obwohl er schwarz war, und schenkte ihr Herz und ihre Habe seiner Tapferkeit und seinen trefflichen Anlagen. Wenn sie sich auch heimlich vermählt hat-
Moderne Malerei
Von Kurt Groos
Gigol hatte das große Landschaftsbild mit mälde abgeholt. Gigol schrie nicht sofort auf den vielen Pappeln, tanzenden Nymphen, wie am Vortag, er verdrehte erst eine Weile Faunen und rosaroten Wolken fertiggemalt. die Augäpfel, daß man manchmal nur das Leider kam sein sechsjähriger Sohn André Weiße sah, und machte dazu unschöne, knak- kende Bewegungen mit dem Kiefer. Dann allerdings schrie er anhaltend, seine Frau schluchzte wie nie zuvor, und das Kindermäd- chen schoß weinend in die Besenkammer und schloß sich ein.
in das Atelier und setzte sich auf das zum Trocknen auf eine Kiste gelegte Gemälde mit den noch feuchten Farben. Es entstanden hier- durch zwei restlos abstrakte Bildwerke, eins auf der Leinwand, das andere auf Andrés Hosenboden.
Gigol tobte und raste, seine Frau schluchzte herzzerreißend, das Kindermädchen zitterte, und nur die abstrakte Landschaft blieb an- klagend stumm. In dieses Bild hatte Gigol sein ganzes meisterliches Können gelegt, und nun war es ein unenträtselbares Durchein- ander aus verschmierten Oelfarben.
Am nächsten Morgen aber durchbrach eine strahlende Sonne all das dunkle Gewölk. Der Bote kam mit einem Brief des Ausstel- lungsdirektors wieder:„ Lieber Freund und Meister! Sie haben sich selbst übertroffen, sind ein anderer, neuer geworden. Ihr wun- dervolles Bild haben wir in den ,, Salon der Modernen" gehängt. Da es noch keinen Na- men trug, taufte ich es„ Blinder Narr im Rübenfeld", und das trifft wohl gut den Kern der Sache. Die Jury der Abstrakten hat Ihrem Gemälde den ersten Preis zuerkannt; ich gratuliere herzlich. Scheck liegt bei."
ohne alle Beschwernis mitzunehmen.
So rollten sie am festgesetzten Tag in ge- hobener und heiterer Stimmung südwärts nach Freilassing und es störte sie nicht, daß der Regen in dichten Schleiern auf Feld und Wald Dach der Kutsche tropfend, auf ihre hochzeit- und bald auch, unablässig durch das morsche lichen Gewänder niederging.
Als sie vor dem Schlagbaum hielten, stürzte Franziska, einen kleinen roten Schirm über sich schwingend, aus dem Zollhaus und fiel dem jungen Mann über die Schranke hinweg um den Hals. ,, Mama ist noch drin", sagte sie atemlos, der Schirm warf einen zarten roten Widerschein auf ihr Gesicht und ihre Augen schimmerten ganz golden. Mama erschien wür- devoll mit dem Gefolge der Grenzpolizei, zwei Mann in Grün, die nach eingehender Prüfung aller Stempel und Papiere lächelnd den Schlag- baum hochgehen ließen; der junge Mann bot Franziska den Arm, und unter runden, trie-
zu regnen, und der Wagen für Franziska und Mama wartete auf österreichischem und der
für den jungen Mann auf bayerischem Boden. ,, Behüt dich Gott", sagte er. Franziska sagte gar nichts, sie lächelte und die Tränen liefen flüchtig, denn die Polizei und die ganze Hoch- ihr übers Gesicht. Sie küßten sich zart und zeitsrunde schauten zu, selbst der Wirt vom Zollhäusl" stand beobachtend unter der Tür. Der junge Mann bemühte sich um tröstliche Festigkeit in seiner Stimme.„ Jetzt kann es wirklich nicht mehr lang dauern", versicherte er. Franziska nickte. ,, Etwas ist vergessen wor- den", flüstere sie: Wo du hingehst, da will " sie wandte sich um und auch ich hingehen lief zum Wagen.
Dann fuhren die beiden Wagen davon, sie fuhren auf derselben Straße, aber der eine rollte nach Osten und der andere nach Westen und zwischen ihnen lag einsam der hölzerne Schlagbaum.
Der gestirnte Himmel
Von Richard Gerlach
Die Weindrosseln waren verstummt, die immer weit weg. Und darum sieht es so aus, Dunkelheit sank herab. Einen Augenblick grif- als ob sie mitgingen." fen die nächsten Zweige überdeutlich in das letzte Stück Helligkeit. Dann breitete der Abend die grauen Eulenflügel aus.
Wie ein Stecknadelkopf blinkte am Hori- zont der erste Stern auf, Venus, der Planet, den die Alten nach der Göttin der Liebe nann- ten. Die Stunde zwischen Tag und Nacht war der Aphrodite geweiht. Ich fühlte die unzäh- ligen Augen, die zugleich mit den meinen auf dem ersten Stern ruhten. Ein junges Mädchen hob die Stirn und wußte nicht, wonach es sich sehnte. Auch ein Gefangener, der seine Wange gegen die Gitterstäbe preßte, sah ihn. Mit rußigem Antlitz blickte der Heizer aus der Luke des Kohlendampfers. Der Kranke im Fieber streckte die Hand aus, um das Licht vom Firmament einzufangen wie eine Silber- motte. Glänzende Augen und weinende sahen gleichzeitig zu der Venus empor; die Ver- zweiflung starrte sie an, und den Glücklichen schien sie sich entgegenzuheben. Aber nun leuchteten neben ihr andere Sterne auf, und sie war nicht mehr der einzige.
Jeder der Sterne, die Millionen Jahre brau- chen würden, um in fliegender Geschwindig- keit den Raum zu überbrücken, der mich von ihnen trennt, folgt der Bahn, die ihm vorge- zeichnet ist. Welten halten sich kreisend und schwingend im Gleichgewicht, und ihre Kräfte durchdringen sich und durchdringen auch uns. Der Knabe war noch nie im Dunkeln draußen gewesen. Im vorigen Herbst war er noch zu klein. Jetzt legte er den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Er überlegte lange. Dann sagte er: ,, Die Sterne gehen mit."
So war es. Wenn man sich bewegte, sah es aus, als ob die Sterne sich auch bewegten. Wenn man zögerte, zögerten sie auch. Wir standen auf der Stelle. Der Knabe sagte: ,, Jetzt stehen sie stille."
,, Sind sie so groß wie meine Hand?" fragte der Knabe und meinte die Sterne.
,, Nein, viel größer. Wie ganz große Later- nen."
,, Und wer zündet die Sterne an?"
"
,, Dafür ist auch jemand da."
,, Und wo wohnt der?"
,, Im Himmel."
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, Wir wollen hingehen und zugucken."
,, Es ist sehr weit; wir kämen heute nicht mehr dort hin."
Der Knabe überlegte, wir gingen langsam weiter.
,, Sieh nur, die Sterne gehen mit", jauchzte er. Der gestirnte Himmel ist, war und wird sein. Wenn wir zu ihm aufsehen, werden wir uns der eigenen Winzigkeit bewußt. Indem wir das Gesetz der ewigen Ordnung auch in un- serem kleinen Leben erkennen, überwinden wir das Gefühl hoffnungsloser Nichtigkeit und nennen die Bahn, die uns bestimmt ist, unser Schicksal.
Dreitausend Jahre braucht das Licht, bis es von einem der kleineren Sterne zu uns dringt und im Fernrohr wahrgenommen werden kann. Der Strahl, den ich sehe, ist nicht in diesem Augenblick aufgeleuchtet, sondern als Europa noch ein Urwald war. Das Licht, das der Stern jetzt aussendet, wird erst in dreitau- send Jahren die Erde treffen. Was wird von unseren Problemen dann noch übrig sein? inzwischen Hundert Generationen werden dahingegangen sein, und jede sah die Welt ein wenig anders als die vorhergegangene.
Hipparch zählte über der Insel Rhodos tausend Sterne. Heute haben wir Fernrohre, in denen dreißig Millionen Sterne sichtbar werden. Was für Fernrohre wird man in Himmel reichen? dreitausend Jahren zum Oder wird sich das Menschengeschlecht bis dahin austilgen, und werden die Hasen wie- der über die Heide hoppeln an der Stelle, wo die großen Städte zerfielen? Dreißig Mil-
Während wir emporschauten, sagte er nichts. Als wir aber weitergingen, schrie er hinaus: ,, Nun gehen sie wieder mit!" Nach einer Weile fragte er: ,, Warum tun sie lionen Sterne sind dreißig Millionen der das?"
Am nächsten Morgen kam der Bote der großen Kunstausstellung, um das Bild abzu- holen. Außer Gigols alter Tante befand sich niemand im Haus, und die Tante wußte von nichts. ,, Zeigen Sie mir nur das Atelier, liebe Dame", sagte der Bote ,,, ich finde mich schon An diesem Tage bekam Gigols Sohn von zurecht." Er nahm das Bild mit den ver- seinem Vater eine große Tafel Schokolade, schmierten Oelfarben und verschwand. von seiner Mutter einen langen Kuẞ. ,, Auch er muß Maler werden", sagte Gigol, und der Als Gigol, seine Frau und das Kindermäd- chen spätabends zurückkamen, erzählte die verwirrte André sah Tränen der Rührung in ,, Was so nah ist wie die Laterne hier, daran Tante, die Kunstausstellung habe ein Ge- den Augen des Vaters.
Ich suchte nach einer Erklärung.
,, Die Sterne sind sehr weit weg", sagte ich. gehen wir vorüber. Aber die Sterne bleiben
Sonne vergleichbare Weltkörper. Die Astro- nomen schreiben die Sterne in ihre Kataloge. Da stehen sie nun. Ob die tausend Sterne des Hipparch nicht nachdenklicher betrachtet wur- den?