5. April 1947
Für besinnliche Stunden am Osterfest
Die Historie von der Pfarrgans der größte Teil der eingeweckten Gans ver-
Als in den letzten Wochen des Krieges das deutsche Heer in die Heimat zurückflutete, be- kam auch ein kleines Dorf im Taubergrund Einquartierung. Es war das erstemal in diesem Kriege gewesen, daß solche Scharen von Sol- daten in dem stillen Ort, der abseits lag vom Verkehr, erschienen. Auch das Pfarrhaus bekam seinen Soldaten, einen Obergefreiten, der Kraftfahrer war und den Wagen seines Haupt- feldwebels zu führen hatte. Den stellte er in der Pfarrscheuer unter und machte sichs der- weilen im Hause in dem ihm eingeräumten Gastzimmer bequem. Es tat doch gut, nach so mancher schlaflos am Steuer verbrachten Nacht wieder in ein richtiges Bett zu kommen und schlafen zu können. Zudem empfand er die freundliche Atmosphäre des Hauses als eine besondere Wohltat, sah man ihm doch man- chen Wunsch von den Augen ab und tat ihm manchen Gefallen, ohne daß er erst zu bitten brauchte. Die Pfarrfrau, die mit ihrer Kinder- schar allein im Hause lebte, dachte dabei im stillen, daß vielleicht ihr Mann, der als Sani- täter draußen stand, auch freundliche Men- schen treffen würde.
In dem Dorf hatten sich aber außer der Ein- quartierung der letzten Tage schon früher allerlei Flüchtlinge und Rückwanderer katho- lischen Glaubens niedergelassen. So gab es sich, daß von Zeit zu Zeit der katholische Pfar- rer eines Nachbarorts in den evangelischen Flecken kam, um seinen Glaubensgenossen im Saalbau des Ortes eine Messe zu lesen und sich nach ihren Nöten zu erkundigen. Dabei hatte der katholische Pfarrherr die Gepflogen- heit, auch der Frau seines evangelischen Kol- legen seine Aufwartung zu machen. Er war ein friedlicher Herr und hielt auf gute Be- ziehungen. Ostern stand vor der Tür und er fühlte sich gedrungen, zum Fest der Frau sei- nes Kollegen etwas Besonderes auf den im allgemeinen nicht allzu reichlich gedeckten Tisch zu bringen. Bei einem seiner Besuche zu Beginn der Karwoche brachte er ihr eine Gans. Die Freude war groß, denn etwas Derartiges hatte man lange nicht auf dem Tisch gehabt. Nur mischte sich ein Tropfen Wermut in den Becher der Freude: das Tier hatte noch den Schmuck seiner Federn und war nicht ausge- nommen, und niemand im Haus verstand sich so recht auf die Kunst des Rupfens und die Handgriffe, die nötig waren, den Braten pfan- nenfertig zu machen.
Da konnte nun der einquartierte Soldat hel- fen und sich für die ihm erwiesenen Freund- lichkeiten erkenntlich zeigen. Wohl war er sei- nes Zeichens auch kein Mann vom Fach und wußte besser mit der Schreibfeder als mit Gänsefedern umzugehen. Aber ein Soldat weiß sich in allen Lebenslagen zu helfen und nicht umsonst hatte er seiner Mutter über die Schul- ter geguckt, wenn sie die Martinsgans zube- reitet hatte. So bot er sich an, die Gans ihrer weißen Pracht zu entkleiden und auch das Ausnehmen zu besorgen. ,, Ich weiß schon, wos drauf ankommt", sagte er ,,, man darf die Galle nicht verletzen, sonst schmeckt der ganze Bra- ten nicht!" Solche sachkundigen Aeußerungen erhöhten das Vertrauen in seine Fähigkeiten und so überließ man ihm die Gans, mit der er bald auf dem Speicher des Hauses verschwand. Als man nach einigen Stunden nach ihm sah, war er eingehüllt in eine wogende Flaum- wolke, und als man ihn nach dem Fortschritt seiner Arbeit befragte, klagte er, daß er den Daumen seiner rechten Hand vor Schmerzen kaum mehr spüre. Man tröstete ihn mit der Aussicht auf ein besonders leckeres Stück, das ér als Lohn für seine Mühe und zugleich als Ostergeschenk haben sollte.
Es war Gründonnerstagabend, als er mit sei- ner Gans fertig war und sie stolz auf dem Kü-
schen Flüchtlinge, doch war mit ihnen auch schwunden. Als die Pfarrfrau gelegentlich wie- der nach ihren Gläsern schaute, mußte sie fest- stellen, daß alle geleert waren bis auf zwei. Als gute Christin kämpfte sie den Unmut nie- der, der in ihr bei dieser schmerzlichen Ent- deckung aufsteigen wollte.
Das Hoffen der Pfarrfrau auf die Heimkehr ihres Mannes war nicht umsonst gewesen. Eines Tages stand er unangemeldet da, schmut- zig und abgerissen, so daß man ihn gar nicht mehr kannte, als er durchs Dorf gegangen war. Keiner hatte ihn gegrüßt und beachtet, so sehr hatten ihn der Krieg und die Gefangenschaft verändert. Um so herzlicher war aber der Empfang zu Hause, wo ihm Frau und Kinder entgegenflogen und vor Freude weinten. Nun war der Tag gekommen, wo der Rest der Gans zu Ehren kommen sollte. Die Pfarrfrau erzählte ihrem Manne, wie es damit gegangen war, von dem Obergefreiten, der sie zubereitet
hatte und dann nichts mehr davon bekam und was hernach mit den Gläsern geschehen war. Der Pfarrherr war bewegt über diese Zeichen der Treue einer Frau, der es nicht schmeckt, wenn der Mann nicht dabei ist; zugleich sann er aber darauf, wie man dem Soldaten sein wohlverdientes Teil zukommen lassen konnte. Erst vor ein paar Tagen war eine Postkarte von ihm angekommen, auf der er berichtete, daß er wohlbehalten nach Hause gekommen und in der nahegelegenen Kreisstadt auf einem Büro tätig sei. Da kam dem Pfarrherrn ein Gedanke. ,, Die Gans essen wir nicht allein", sagte er zu seiner Frau ,,, wir laden zum näch- sten Sonntag den Kameraden ein und feiern dann das Fest der Heimkehr zusammen." Der Frau wars gleich recht, man schrieb dem Heim- kehrer und der stand in der Tat am nächsten Sonntag da, strahlend vor Freude, daß er, wenns auch lange gewährt hatte, doch noch zu seinem versprochenen Anteil an der Oster- gans gekommen war.
chentisch präsentierte. Noch warens zwei Tage Der verklärte Christus als Gärtner, wie er der Magdalena erscheint. Oelgemälde von bis Ostern und was konnte alles bis dahin Bartholomäus Spranger, gemalt in Prag um 1600
passieren. Vorher sollte es aber die Gans nicht geben, denn in einem evangelischen Hause iẞt man am Karfreitag kein Fleisch, sehr zum Kummer des Obergefreiten, und der Karsams- tag ist doch kein rechter Feiertag, an dem man Gänsebraten iẞt. So blieb es also bei Ostern.
Nicht umsonst hatte der Soldat seine leisen Befürchtungen gehabt, daß er am Ende doch um den Lohn für seine Mühe gebracht werde. In der Karfreitagnacht mußte er auf ganz kurzen Abruf seinen Wagen fertigmachen und als Vorkommandofahrer mit seinem Spieß nach neuen Quartieren suchen. So reichte es nicht einmal, daß man ihm wenigstens, trotz der strengen Karfreitagsitte, das Leberlein gebak- ken hätte.
Es war wieder still geworden im Pfarrhaus, nachdem die Soldaten abgezogen waren. Sollte nun die Pfarrfrau sich mit ihren drei Kindern an der Gans gütlich tun, oder wars nicht besser, sie einzuwecken und sie als Festessen bei der Rückkehr ihres Mannes auf den Tisch zu bringen? Für die Kinder war das fette Fleisch ohnehin nicht bekömmlich, und ihr allein wollte es nicht schmecken ohne ihren Mann oder einen anderen Menschen, dem sie damit eine Freude machen konnte. So beschloß sie, die Gans in Gläsern zu konservieren und freute sich, daß sie ihrem Manne etwas Gutes vorsetzen könnte, wenn der, wie sie hoffte, bald aus dem Krieg heimkehren würde. Sie baute die Gläser im Studierzimmer ihres Man- nes auf dem Bücherschrank auf, wo sie sich gut mit einem Globus, einem brüllenden Lö- wen aus Gips und Andrees Handatlas ver- trugen.
Photo Näher, Reutlingen
Ostersonne Von Claus Woldemar Schrempf
Ostersonne ist uns ein Sinnbild der Auf- erstehung, ein Himmelszeichen für die Un- zerstörbarkeit des Lebens. Ist doch alles Le- bendige vom Sonnenschein erzeugt, vom Son- nenschein erzogen. Wir fühlen die Sehnsucht nach Sonne nie lebhafter als am Ostertag, wenn befreit vom Eise die Flüsse funkelnd zu Tal wandern, wenn mit dem ersten Grün die Hoffnung in uns erwacht, daß die Leiden des Winters vorüber sind. Sonne ist Gesundheit, ist Wohltat, ist Glück wie für den Körper so auch für die Seele. Ostersonne aber ist das Jawort des Lebens, an ihr entzündet sich der Auferstehungsglaube, erwärmt sich der Le- bensmut. Unter den Strahlen der Ostersonne leuchtet uns ein, daß etwas stärker ist als der Tod, unwiderstehlicher als Krankheit und Trübsal.
Osterfeier ist Sonnenfeier. Kein Halm kann ohne Sonne wachsen und blühen, um wieviel weniger ein Mensch. Sein Tag muß erhellt sein vom Lichte der Hoffnung auf ein besse- res Gelingen, vom Lichte des Glaubens an eine bessere Zukunft, wenn er seine Bestim- mung erfüllen soll. Solches Licht spendet ihm die Ostersonne, die ihn hinausruft, damit er die Auferstehung in der Natur betrachtet. An- getan mit allen Reizen ewiger Jugend steht sie vor ihm da, die lebendige Natur, in die ihn Gott hineingeschaffen. Da entfaltet jede Blüte im Sonnenlicht dasselbe Farbenspiel wie einst im ersten Erdenfrühling, ein Sinnbild der Notwendigkeit, der ewigen Beständigkeit. Anders der Mensch, der unbeständige, der vor sich selber flieht. Sein Dasein ist ein immer- währendes Auf- dem- Wege- sein aus einem un- haltbaren Zustand zu einem andern, von dem er hofft, er werde haltbar sein. Die Natur ruht still in sich, sie ist am Ziel. Sie ist es jeden Augenblick, und wenn sie im Herbst sich zu entfernen scheint, so nur, um wieder im Frühling auf sich selbst zurückzukommen. Der Mensch ist unterwegs seit Anbeginn, und wenn er auf die Stationen seiner Wanderung zurückblickt, so ist keine darunter, an die er
Die Kriegsfurie brauste auch über das stille Dörflein im Taubergrund. Es waren schwere Tage auch für die Pfarrfrau mit ihren Kleinen, die sich um die Mutter scharten wie die Küch- lein um die Henne, als eine Kanonade einen Teil des Dorfes in Schutt und Asche legte. Wie durch ein Wunder war das Pfarrhaus bewahrt geblieben. Bald kamen fremde Soldaten mit ungewohnten Uniformen und einer Sprache, die man nicht verstand, ins Dorf, doch blieben sie nicht lange; der Krieg drängte weiter. Zu den alten Flüchtlingen kamen neue, diesmal aus dem Osten, und auch das Pfarrhaus mußte einige von ihnen aufnehmen. Es waren so viele. daß man sie auch ins Studierzimmer zurückkehren könnte oder möchte. Ein Weg legon mußte, wo die Gläser mit der Gans stan- den. Allzulange blieben sie nicht, die schlesi-
voll Schuld und Verirrung liegt hinter ihm, und stünde ihm nicht die Zukunft offen mit
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der Aussicht, nicht alles wieder gutzumachen denn wann hätte er es bisher schon einmal gutgemacht? sondern von Grund aus alles besser zu machen, dann müßte er an seinem Daseinsrecht verzweifeln. Seine Vergangenheit schafft ihm keine Rechtfertigung. Er muß sie hinter sich lassen als etwas Abgetanes, Totes, Begrabenes. Der Weg zur Auferstehung führt immer durch den Tod, durch die Lostrennung von dem, was vergänglich ist. Der zuerst von den Toten auferstanden ist, war zu Ostern auch nicht mehr derselbe, der am Karfreitag von hinnen ging. Die Welt, welche der Schau- platz seiner Prüfung und seines Leidens ge- wesen war, lag hinter ihm. Die Welt, zu der er auferstand, war nicht mehr das Reich des Herodes und des Pontius Pilatus, wo der Arm der weltlichen Ungerechtigkeit über ihn Ge- walt hatte. Er war ein Verklärter, verklärt im reinen Ostersonnenlicht seiner göttlichen Sendung. Die Erde, die er nun betrat, war die Gotteswelt, die dermaleinst den Menschen ge- hören würde, die auf Gottes Wort lauschen, und nicht den Machthabern, in deren Ohren nur das Geklirr der Schwerter gehört wird. So ist Auferstehung das Werden eines neuen Menschen, der sich entschlossen vom Vergan- genen löst. Denn das Vergangene, wie wir sehen, war verfehlt, und zwar im ganzen, nicht nur im einzelnen. Im Schein der Oster- sonne bekommen die Menschen und Dinge ein neues Gesicht, eine neue Bedeutung, die uns Gutes hoffen läßt. Die großen Veränderungen kommen nicht auf Befehl, nicht nach Berech- nung oder Beratung, sie kommen aus den Menschen selbst, die sich der Abgestorbenheit ihres Wesens bewußt werden und zu einem neuen Leben anschicken. An dem Tage, an dem alle Menschen ohne Ausnahme damit aufhören wollten, sich mit hoffnungslosen Kor- rekturen und Reparaturen der Vergangenheit zu beschäftigen, und statt dessen im Geiste einer gemeinschaftlichen Zukunft der Mensch- heit handeln würden, wäre nach langer Ver- irrung der erste Schritt auf ein Ziel getan, das in der Ostersonne leuchtet, die Erdenwelt als ein zufriedenes Zusammenwohnen unter ei- nem Dach, eine Oekumene der Menschheit.
Nr. 27/ Seite 3
FRÜHLINGSGLAUBE
Es wandert eine schöne Sage Wie Veilchenduft auf Erden um, Wie sehnend eine Liebesklage Geht sie bei Tag und Nacht herum. Das ist das Lied vom Völkerfrieden Und von der Menschheit letztem Glück, Von goldner Zeit, die einst hienieden, Der Traum als Wahrheit, kehrt zurück. Wo einig alle Völker beten
Zu Einem König, Gott und Hirt: Von jenem Tag, wo den Propheten Ihr leuchtend Recht gesprochen wird.
Dann wird's nur Eine Schmach noch geben, Nur eine Sünde in der Welt:
Des Eigen- Neides Widerstreben, Der es für Traum und Wahnsinn hält.
Wer jene Hoffnung gab verloren
Und böslich sie verloren gab,
Der wäre besser ungeboren;
Denn lebend wohnt er schon im Grab.
Gottfried Keller
Johannes Brahms
Zum 50. Todestag am 3. April
Bedarf der große und tiefe deutsche Meister der Tonkunst eines besonderen Gedenktages, daß wir ihn ehren und mit Stolz auf ihn blicken? Ist er uns nicht gegenwärtig, wenn wir zu Hause seine Lieder singen, die schwer- mütigen und die volksliedhaften, wenn wir am Radio seine Symphonien hören oder jetzt zu österlicher Zeit sein Deutsches Requiem? Steht sein Name nicht fast auf jedem Kon- zertprogramm, das Kammermusik und Kla- vierkonzerte mit Streichsoli bringt? Es ist so, Brahms hat keine Ehrenrettung nötig, wir brauchen ihn nicht aus dem Staube der Ver- gangenheit herausholen und ihn für das ei- gene Bedürfnis zurechtrichten. Er lebt und wird leben, solange die.deutsche, die abend- ländische Musik nicht nur bei uns, sondern ebenso in Frankreich und in ferneren Kultur- ländern in Flor und Würde steht.
Wer sich in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts auskennt, weiß, daß Brahms einmal heftig angefeindet war und als lang- weiliger Beethovennachfolger und romanti- scher Sinnierer verschrien war. Die ihn an- griffen, standen im Lager der damals neu- tönerischen Meister Franz Liszt, Richard Wag- ner und Anton Bruckner, die nach 1870 das Pu- blikum mit ihren rauschenden Orchestern und ihren kühnen Harmonien zu begeistern be- gannen. Kein Geringerer als Hugo Wolf schrieb über jede Aufführung einer der vier Brahms- symphonien, die zwischen 1877 und 1886 ent- standen, so vernichtende und lästerlich ge- meine Kritiken, daß, wollte ein Musikkritiker von heute sich diese Sprache erlauben, er un- fehlbar seines Amtes entsetzt würde. Um so treuer und begeisterter hingen die Freunde damals in Wien der Brahmsschen Musik an und der Streit zwischen Brahmiden und Wag- nerianern verhallte, wurde wesenlos, und ge- blieben sind zwei Richtungen deutscher ro- mantischer Kunst, die wir heute als völlig gleichberechtigt hören und verstehen. Da steht er vor uns, der Norddeutsche Brahms, wir sehen sein bärtiges Antlitz, die gütigen Augen und seine mächtige gewölbte Stirne, die Heim- statt bewegten Schmerzes und freundlicher Tröstung. Wir kennen seinen Verzicht auf Ehe, seine heimliche Liebe zu Clara Wieck, der Gattin seines Freundes Robert Schumann, und wissen, daß er gar kein schwächlicher Träu- mer war, sondern eine kraftvolle Natur be- Erbe saß, vor allem aber die große Gabe des klassischen deutschen Geistes, seine tief wogenden Gefühle zu ordnen, sie in herbe und geschlossene Formen zu bannen. Wildes, chao- tisches Strömen war ihm verhaßt, es mußte in seinem Leben alles in menschliche Gren- zen, zu Maß und Größe verwandelt werden. Darum lehnte er die symphonischen Riesen- schlangen" Anton Bruckners ab, darum ging er seine eigenen Wege und studierte unablässig die großen Meister Händel, Bach, Haydn, Beet- hoven, nicht um sie nachzuahmen, sondern sie mit seinem eigenen Geiste, dem Geiste der Romantik zu füllen und weiterzubilden. Daß ihm das gelungen ist, darüber herrscht heute kein Streit mehr. Jeder musikalische Laie er- kennt sofort den Brahmsschen Klang, keiner hat so aus der Herzensfülle atmende langsame Sätze geschrieben wie er, keiner hat das lo- gische Zusammenpiel der einzelnen Instru- mente so wundersam beherrscht wie er, keiner hat auch so viel echt volkstümliches Lied- und Motivgut in seine Musik aufgenommen wie er, wenn wir etwa an seine Vorliebe für die ungarische Musik denken. Zugleich bekundet er sein Ernstnehmen alter, erprobter Musik- formen. Mit Beethoven teilt er die Liebe zur Variation, und wir erinnern an die herrlichen Variationen über den Haydnschen Chorale St. Antoni, mit Bach verbindet ihn das Bevor- zugen der Vielstimmigkeit und die Freude an der Giaconne, einer sehr strengen musikali- schen Form.
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Und wieviel Freude und Gelöstheit spen- den uns nicht seine 200 Lieder! Manche gehen im schlichtesten Tone, wieder andere sind kunstvoll gearbeitet und mit einer Klavier- begleitung versehen, die ein reiches, ganz ei- genes harmonisches und rhythmisches Leben haben. Nur ein Meister konnte es wagen, nach der Fülle der Schubertschen Melodie gleich gute Melodien zu sorgsam ausgewählten Tex- ten zu erfinden. Wir spüren in alledem doch immer hindurch, daß Brahms ein Pianist er- sten Ranges war, daß klavieristische Partien sein ganzes Werk beherrschen und ihm des- wegen auch die Verehrung aller Klaviervir- tuosen eingetragen haben.
Solange Brahms geliebt und gesungen und gehört wird, wird Deutschland, wird Europa noch sein eine lebendig wirkende geistige Macht. E. M.
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