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bewußt ist, daß von Akten und Papier Leben und Gesundheit lebender Menschen abhängt.
Wir haben einen schweren Winter vor uns. Er wird uns auf eine harte Probe stellen. Wenn wir ihn hinter uns haben, werden wir wissen, ob das Vaterland bloß Phrasengeklin- gel mit Militärmusik und Fackelzügen war. Wir werden wissen, ob das Christentum, zu
dem sich mit der Wahl ausdrücklich eine große Mehrheit unseres Volkes bekannt hat, mehr ist als eine Sonntagsgebärde. Aber auch die neuen Sozialisten und Demokraten haben, soweit sie sich zum besitzenden Teil des Volkes zählen, den Beweis guten Willens zu liefern. Werden wir die Probe bestehen?
Albert Ansmann
Nur Ausfuhrländer können helfen
LONDON. Der britische Ernährungsminister sprach vor einer Versammlung von Landarbei- tern in London über die Lebensmittellage in England. Er sagte, daß die Situation sehr ernst wäre und daß deshalb die Ernährungslage in der britischen Zone kaum unterstützt werden könne. Deutschland könne nur von den Ausfuhrländern geholfen werden. Für eine Besserung der Lebensmittellage bestän- den vorläufig noch keine Anzeichen. WASHINGTON. Das amerikanische Land- wirtschaftsministerium schätzt, daß die Welt- getreideproduktion voraussichtlich den Durch- schnitt von 1942 um etwa 8 Millionen Tonnen übersteigen wird.
SCHWABISCHES TAG BLATT
Ein britisches Weißbuch über Oesterreich
Außenminister Dr. Gruber hält sich zurzeit in Amerika auf
Die Alliierten haben Oesterreich als „ befreites Land" erklärt, ein Beschluß, der un- serem Nachbarn in Zukunft gewisse Erleich- terungen bringt. Die Lage des kleinen Lan-
des ist zurzeit schwierig genug. Besatzung, Wirtschaftsnöte, unter denen der Kohlenman- gel erst kürzlich zur gesamten Stillegung des Eisenbahnverkehrs geführt hatte, erschweren auch dort die Konsolidierung. Oesterreichs Regierung hat wiederholt in Denkschriften an die Alliierten ihren Standpunkt dargelegt. Der österreichische Außenminister Dr. Gruber weilt zurzeit in Amerika und versucht dort für die österreichische Forderung nach baldi- gem Abzug der Besatzung Verständnis zu
wecken. Dr. Gruber erklärte, daß die Verwal- tung Oesterreichs durch die alliierte Besatzung sehr erschwert werde. Außerdem bilden die 550 000 Verschleppten, die sich zurzeit noch in Oesterreich aufhalten, eine schwere Last.
In Beantwortung der österreichischen Wün- sche hat auf der letzten Sitzung des Alliierten Kontrollrates für Oesterreich in Wien, Gene- ral Mac Clarc Stellung genommen und u. a. erklärt, es sei der Wunsch der Vereinigten Staaten, daß bald in Oesterreich alle Zonen zusammengelegt würden, damit Oesterreich als einheitliches Ganzes behandelt wer- den könne.
Im Sommer dieses Jahres hatte eine britische Parlamentsabordnung Oesterreich einen Be- such abgestattet. Die Eindrücke dieser Reise sind in einem britischen Weißbuch niederge-
legt worden, das jetzt zur Veröffentlichung kommt. Es ist eine Uebersicht über die briti- sche Verwaltung der österreichischen Zone. Wirtschaftlich hänge, so wird in diesem Weiß- buch dargelegt, Oesterreich sehr von den Län- dern des Ostens ab, während in kultureller Beziehung früher enge Verbindungen sowohl zum Osten wie zum Westen bestanden haben. Das Weißbuch schlägt die Entsendung einer britischen diplomatischen Mission nach Wien vor, Beschleunigung der Erteilung von Ein- reisebewilligungen für Oesterreicher nach Großbritannien, Entlassung der österreichi- schen Kriegsgefangenen mit Vorrang, Entlas- sung der nicht schwerbelasteten Nazis in der britischen Zone Oesterreichs und Regelung des Verschlepptenproblems. In wirtschaftlicher Be- ziehung wird festgestellt, daß die österreichi- sche Ausfuhr in keinem Verhältnis zur Ein- fuhr stehe. So seien die Kohlen aus dem Ruhr- gebiet ohne Zahlung geliefert worden.
Der Bericht hebt die Notwendigkeit eines baldigen Friedensschlusses mit Oesterreich und des Abzugs der Besatzungstruppen her- vor. Großbritannien wird demnächst die Han-
delsbeziehungen mit Oesterreich wieder auf- von Maschinen, Rohstoffen und Kohle eine Anleihe gewähren.
19. November 1946
Maria Sevenich
Maria Sevenich, die vielgenannte Politikerin, will so lange nichts mehr essen, bis ihr Gewissen über das Schicksal des deutschen Volkes im kom- menden Winter beruhigt ist. Das ist ein gefähr- licher Entschluß. Wir fürchten, sie wird dabei ver
hungern oder, ehe es so weit ist, ihr Gewissen be- ruhigen. Beide Möglichkeiten wirken tödlich. Phy sischer Tod oder politischer Tod: Maria Sevenich wird wählen müssen.
An eine glückliche Wendung, die unser und Maria Sevenichs Gewissen beruhigen würde, glau- ben wir leider nicht. Wenn ein großer Teil der Welt hungert, können wir nicht satt sein. Das weiß vermutlich auch Frau Sevenich.
Warum dann diese Ghandi- Geste? Maria Sevenich hat den Drang zur Sensation, sie liebt die über- spitten Formulierungen. Das hat ihr und dem deutschen Volke schon manche Ungelegenheiten gebracht. Eine der alliierten Mächte hat ihr erst
vor
kurzem vorgeworfen, sie habe nach der Deutsche Schwarzen Reichswehr gerufen und der Frauenausschuß hat ihr deswegen eine starke Ab- fuhr erteilt.
Deutschland kann sich solche Extravaganzen nicht leisten, vor allem wenn sie von Persönlich- keiten kommen, die das Ohr der Massen haben. alan Wird das Frau Sevenich bald einsehen?
Nervenverbrauch in Bayern...
Auch die Engländer interessieren sich stark für eine baldige Gesundung Oesterreichs. Be- ROM. Italien hat einen Vertrag über Liefe- kanntlich weilt zurzeit eine Handelsabordnung nehmen und der Exportindustrie zum Ankauf des Münchener Rundfunks, Herbert Geßner, rung von 80 000 Tonnen Getreide aus der in Wien, um Möglichkeiten über die Anknüp- Türkei abgeschlossen. In Argentinien verhan- fung eines Warenaustausches zu untersuchen. delt eine italienische Handelsabteilung über den Ankauf von 80 000 Tonnen Getreide.
HAMBURG. 8500 Tonnen Getreide, darunter 500 Tonnen aus der sowjetischen Besatzungs- zone, sind hier und in Rotterdam für die bri- tische Besatzungszone eingetroffen. Die Sen- dung aus der russischen Zone ist das erste Kontingent von 100 000 Tonnen Getreide, das auf Grund eines Tauschabkommens aus der Sowjetzone an die britische Zone geliefert wer- den soll.
Das Vetorecht
Der politische Ausschuß der UN. hat wieder einmal über das Vetorecht lange debattiert. Die Meinungen darüber, ob das Vetorecht bei- behalten oder beseitigt werden soll, gehen aus- einander. Der amerikanische Senator Con- naly ist der Auffassung, daß das Vetorecht nur in wenig Fällen angewendet werden sollte.
Was ist das Vetorecht? Im Sicherheitsrat der UN., der sich aus fünf ständigen Mitgliedern, nämlich den Großmächten Amerika, China, Frankreich, Großbritannien und Rußland, und aus sechs nichtständigen, von der Generalver- sammlung alle zwei Jahre neugewählten Mit- gliedern, im ganzen also aus elf Mitgliedern zusammensetzt, kann ein Beschluß nur dann zustande kommen, wenn sämtliche stän- digen Mitglieder zustimmen. Wenn also zehn Mitglieder einen Beschluß fassen wollen und eine der Großmächte nicht zustimmt, so kann der Beschluß nicht zustande kommen. Auf Grund dieses Vetorechtes ist eine Groẞmacht
in der Lage, zehn andere Staaten an einer Be- schlußfassung zu hindern. Das ist insofern be- deutsam, weil der Sicherheitsrat im Rahmen der Vereinten Nationen eine besondere Stel- lung hat. Alle wichtigen Beschlüsse der Gene- ralversammlung der UN. sind von den Emp- fehlungen des Sicherheitsrates abhängig und diese Empfehlungen können immer wieder von einem Mitglied im Sicherheitsrat vereitelt wer- den.
Es ist deshalb verständlich, daß die kleine- ren Staaten eine Abänderung dieses Vetorech- tes wünschen.
Der Sicherheitsrat der UN. hat in einer neuen Sitzung sich wiederum mit dem Veto- recht beschäftigt, nachdem der politische Aus- schuß eine Entscheidung darüber verschoben hatte,
Herausgeber und Schriftleiter: Will Hanns Hebsacker, Dr. Ernst Müller, Rosemarie Schittenhelm, Aifred Schwenger und Werner Steinberg( zurzeit erkrankt)
MARIE
Don Francis Jammes Übersetzt von Jakob Hegner( Nachdruck verboten)
5] In Maries Seele nun war die jungfräuliche Begnadung stetig angewachsen und nunmehr zur Entfaltung gelangt. Ihr schien aber jeder Gedanke an ein Leben im Kloster fern zu liegen, und sie sagte das wie früher schon, wenn man sie danach fragte, auch jetzt noch jedem, der es hören wollte. ,, Ich bin da, um wie die Mutter mit Gottes Hilfe eine Mutter zu werden", wiederholte sie ganz einfach. ,, Mir fehlt viel zur Nonne, und außerdem habe ich eine Vorliebe für den Haushalt." Sie war keine Frömmlerin, aber durchaus gewissenhaft, sie befand sich in einem völ- ligen Gleichgewicht. Sie war nicht hübsch im Sinne der Welt, doch ihr Wohlbefinden drückte sich reizvoll aus in ihrer Gestalt, in ihrem Gesicht.
Im Maimonat 1886 wurde Marie von einer köstlichen, ihr unerklärlichen Unruhe durch- drungen. Es war genau zwölf Uhr mittags,
sie trat aus dem Pfarrhause, wo sie gewöhn- lich den Kindern die Glaubenslehren bei- brachte. Da stand sie geblendet vor all dem, was sie sah. Namenlose Freude ergriff sie, so sehr, daß sie beim Anblick eines in der Sonne erglänzenden Lorbeerlaubes die Hand an ihr Herz legen mußte, so stark schlug es. Als sie ein wenig weiter Fliederbüsche ge- wahrte, flossen ihr Tränentropfen über die braunen Wangen, ohne daß sie dafür einen andern Grund hätte angeben können als die- ses Glücksgefühl, von dem sie bisher nichts geahnt hatte. Gewiß, der Frohsinn war ihr nicht fremd, sie war fröhlich von Kind auf, als ganz kleines Ding schon auf den Knien ihrer Mutter und dann bei ihren Spielen im Garten, wenn sie durch das Blätterdickicht das leise Lied der Geige vernahm. Selbst in ihrem Kummer war sie der Gnadengaben inne die das Herz wieder aufheitern, und kein Kind hatte wohl eine höhere Seligkeit
Abänderungsanträge zu Triest
NEW YORK. Obwohl zwischen Jugoslawien und Italien direkt über die Triester Frage ver- handelt wird, gehen die Beratungen im Rat der Außenminister über Triest weiter. In der vergangenen Woche sind durch Außenminister Molotow 13 Abänderungsanträge zur Triester Frage bzw. zu den dazu vorliegenden französischen Vorschlägen, die seinerzeit in Paris angenommen worden waren, eingebracht worden. In mehreren Sitzungen, die zum Teil nur im engsten Kreise der Außenminister statt- gefunden haben, wurde besonders die Frage der Befugnisse des zukünftigen Gouverneurs erörtert. Diese Befugnisse sollen in normalen und anomalen Zeiten verschieden sein.
Um Deutsch- Südwestafrika NEW YORK. Im Bevormundungskomitee der UN. haben sich der Vertreter der Ver- einigten Staaten und Mexikos gegen den An- trag, Deutsch- Südwestafrika der südwestafri- kanischen Union einzuverleiben, ausgespro- chen. Der britische Vertreter unterstützte den Antrag des Premierministers Smuts. Die Ukraine und Venezuela lehnten die Anglie- derung ab. Der indische Delegierte schlug vor, das Mandat unter die Treuhänderschaft der UN. zu stellen. Einem Unterausschuß soll diese Frage vorgelegt werden.
land wird dieses Material zu 75 Prozent an
18 westliche Alliierte und zu 25 Prozent an Polen und die Sowjetunion verteilt werden. Aus dem Verzeichnis der Industriebetriebe,
die in den drei Westzonen für die Demontage vorgesehen sind, bringen wir die nachstehen- den bekannten Firmen aus Süddeutschland: Dornierwerke Oberpfaffenhofen, Aubing, Neuaubing, Wollheim, Graßweil, Bad Tölz, Messerschmitt- A.G., Eschenlohe, Maybach- Friedrichshafen, Pulverfabrik Hasloch, Atlas- werke, Zweigstelle München, Schnee- For- schungsstation in Inzell, Hoernel- Anhänger- fabrik Etterschlag, Franziskanerkeller Mün- chen, Gustav Genschow Durlach, Dynamit- A.G. Landsberg, Deutsche Waffen und Muni- tion Grotzingen, Collitz Metallwerke Nörd- lingen, Collitz Metallwerke Reichenbach- As- lon, Bachmann& Blumental Aschaffenburg, Frühwald& Jäger Nürnberg.
Wie aus Berlin gemeldet wird, ist ein Abkommen zwischen den Sowjetbehörden und der Leitung der Zeiß- und Schottwerke in Jena zustandegekommen. Die Werke sollen an die Sowjetunion etwa tausend Werkzeugma- schinen liefern. Der Bedarf an optischen In- strumenten für Deutschland soll sichergestellt werden. Arbeitern, die den Wunsch haben, nach Rußland zu gehen, wird von ihrer Fabrik ein regulärer Arbeitsvertrag ausgestellt wer- den.
Nach dem Zwischenspiel Geßner- Dr. Pfeif- fer, das damit endete, daß der Kommentator von seinem Posten zurückgetreten, Minister Dr. Anton Pfeiffer trotz der gegen ihn ge- richteten Angriffe aber im Amt geblieben ist, wird die bayerische Bevölkerung erneut in Spannung gehalten durch einen Angriff gegen Dr. Josef Müller, den Landesvorsitzenden der CSU.
Die ,, Süddeutsche Zeitung" veröffentlicht knappe Auszüge aus einem 35 Seiten umfas- senden Protokoll der bayerischen politischen Polizei vom 9. Februar 1934. Der Zweck dieser naziverdächtigen Politiker zu diffamieren; denn Veröffentlichung ist, Dr. Josef Müller als einen nach diesem Protokoll hat Dr. Müller u. a. ge- sagt, daß er den neuen Staat absolut eindeu- tig bejahe".
Im Mitteilungsblatt der CSU. wird der ,, Süd- deutschen Zeitung" geantwortet und darauf hingewiesen, daß Dr. Müller damals unter der Anklage des Hochverrats und der Beteiligung an einem Plan zur Beseitigung Himmlers von der bayerischen politischen Polizei, der Vor- läuferin der Gestapo, verhaftet und seine Ver- nehmung durch Himmler selbst geleitet wor- den sei. Wer hätte damals, so meint das Blatt der Union, auf die Frage, ob er ein Staats- feind und Nazigegner sei, mit einem lauten Ja geantwortet? Das Blatt der Union führt diesen Angriff gegen Dr. Müller auf ein Kom- plott jener Kreise innerhalb der eigenen Par- tei zurück, die das Heil Bayerns in einem hoff-
nungslosen Partikularismus sehen,
Der amerikanische Vorschlag, den Hauptsitz der UN. entweder nach New York, San Fran- zisko, Boston oder Philadelphia zu legen, ist 15 Jahre Zuchthaus für Helene Schwärzel( Flüchtlingsfrage, Ernährungssorgen) gemein- im Hauptausschuß der UN. mit 39: 3 Stimmen angenommen worden.
Die Demontage
BERLIN. Zur Ueberprüfung der Fortschritte in der Zerstörung und Demontage von Rü- stungswerken in allen vier Besatzungszonen Deutschlands wurden Vier- Mächte- Untersu- chungskommissionen gebildet, die ihre Arbei- ten in etwa zehn Tagen aufnehmen werden.
Bekanntlich haben über den Grad der Aus- merzung von Rüstungsbetrieben innerhalb der einzelnen Zonen verschiedene Auffassungen bestanden. Die neuen Untersuchungen sollen deshalb wohl ein einwandfreies Bild über die Verhältnisse in allen vier Besatzungszonen geben.
Die Demontage des für Reparations- zwecke vorgesehenen Materials geht weiter. Nach Angaben der Wirtschaftsabteilung der amerikanischen Militärregierung für Deutsch-
empfunden als sie damals, die sich auf Marie senkte in der Kirche zu Arbouét sieben Jahre zuvor, am Tage ihrer Firmung.
Aber die Trunkenheit, die heute von ihr Besitz nahm, entstammte nicht ganz dem Ho- heitsbereich der Muttergottes, die bis zu die- ser Stunde ihre Kindheit, ihre Jugend ein- gegrenzt hatte.
Sie stieg hinauf in ihr Zimmer, und wie der süße Taumel ihr Herz weiter ergriffen hielt, sank sie mit jener Einfalt, die ihr nim- mer verloren ging, auf die Knie vor dem kleinen Bildwerk, das ihr die ersten Tage ihres Daseins wieder wachrief. Die Tränen flossen ihr aufs neue bei der Erinnerung an
so viele Einzelheiten der Vergangenheit. Es war ihr, als öffne sie irgendeinen alten Koffer und zöge all das heraus, eines nach dem an- dern. Sie sah Roquette- Buisson wieder, das Vaterhaus, die Schule, Isabellas Schloß und die Schuhe, deren sie sich einen ganzen Nach- mittag lang geschämt, sie aber dann gern gehabt hat, wegen der Muttergottes, die über- haupt barfuß geht. Jetzt hörte sie in ihrem
lenzgestimmten Herzen die Geige des gelieb-
ten Vaters. Es war freilich keinerlei kostbare
Geige; der anspruchslose, untergeordnete Be- amte hatte mit seinem Spiel immer nur sein etwas eintöniges Leben, zumal als Jungge- selle, bereichern wollen.
Das Tönen drang zu Marie durch die Son- nenstrahlen und die Bienen von ehemals, es brach plötzlich ab mit dem Tode Michaels; bei ihrer Erstkommunion hob es wieder an, dann erstarb es im Dunkeln zugleich mit seinem sanften Spieler. Nun aber war die Weise end- lich zu neuem Leben erweckt, schwer und süß an diesem Maimittag, nicht gleich rührend, nicht gleich rein, nicht gleich weihevoll, je- doch zitternd angeweht von einem bis dahin unbekannten Seelentrieb.
Marie ging wieder hinunter, zum Mittag- essen. Unterwegs, im Garten, pflückte sie eine Rose und steckte sie vor ihr Mieder. Niemals zuvor hatte sie das getan.
BERLIN. Der Prozeß gegen Helene Schwär- zel, die Dr. Karl Gördeler im August 1944 denunzierte, begann am Donnerstagfrüh unter außerordentlichem Andrang von Publikum und Presse im Moabiter Schwurgericht. Die An- klage lautet auf Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit im Sinne des Gesetzes Nr. 10 des Al- liierten Kontrollrats in Tateinheit mit Mord.
Die Angeklagte behauptete, in großer Er- regung gehandelt zu haben, als sie Dr. Gör- deler in einem Gasthaus in Konradswalde er- kannte und seinen Namen auf Veranlassung einer Kollegin auf einen Zettel schrieb, den sie dem am gleichen Tisch sitzenden Ober- zahlmeister zuschob. Sie erklärte, nicht dar- über nachgedacht zu haben, daß dies für Gördeler das Todesurteil bedeutete.
Das Urteil lautete auf 15 Jahre Zuchthaus und Einziehung des Vermögens zugunsten des Allierten Kontrollrates. Der Oberstaatsanwalt hatte lebenslänglich beantragt.
Einige Tage danach blies ein warmer, re- genträchtiger Wind, doch das schöne Wetter blieb beständig, und die niedere, dunkelblaue Pyrenäenkette trat deutlicher in den Gesichts- kreis. Marie, mit Magdalena bei einem alten Junggesellen und einer alten Jungfer zu Be- such geladen es waren Bruder und Schwe- ster, die es gern sahen, wenn sich die Jugend mitunter in ihrem Hause, nahe bei Navarreux, versammelte saß bei Tisch neben einem
jungen Mann, der Michael Geronce hieß. Als
sie seinen Namen nennen hörte, konnte sie
gar nicht anders als an ihr Brüderchen den- ken, das sie, ach, so klein verloren hatte, ebenso blond wie dieser hier, mit Augen von
gleicher Himmelsbläue und, wäre ihm ein Ael-
terwerden beschieden gewesen, sicherlich von nicht minder bestrickender Anmut.
Als Michael Geronce Marie ansprach, fühlte sie eine Art von Erschauern in ihrem Herzen. Nach dem Essen verstreute man sich im Garten. In der Ferne donnerte es, und die Fliederbüsche leuchteten in einem seltsamen Glanz. Süßer Honigduft hob sich von der gro- Ben Rasenfläche, deren Mitte für Spiele ein-
gerichtet war. Magdalena und ihre Freundin-
nen warfen einander schon die Bälle zu. Auf dem grauen, mit goldenen Moosen überglit- zerten Stufenbau blickten die Alten nach dem immer noch dunkelvioletten Himmels-
rand.
Michael Geronce schritt langsam an Maries Seite, sie hörte ihm mit einer selbstverlorenen Zärtlichkeit zu. Er redete aber nur, wie ein junger Mann zu einem jungen Mädchen redet. Und ein Regenbogen stieg im Hintergrund auf, die Büsche der veilchenblauen Schwert- lilien, die sie bei ihrem Gehen streiften, wur- den dunkel wie das Gebirge. Die beiden ver- loren sich in einen schlecht gepflegten Pfad, der zum Gießbach hinunterführte. An seinem Ende stand ein hundertjähriger Springbrun- nen, von Lorbeer überdeckt. Wer mochte einstmals in früheren Tagen diese Einsamkeit wohl aufgesucht und hier seine Träume ge- sponnen haben?
Die bayerische„ Kulissenpolitik" scheint einen bedauerlichen Grad erreicht zu haben. Es wäre gut, wenn man sich in Bayern darauf besinnen wollte, welche schwierigen Probleme sam zu lösen sind. Anstatt die Nerven unnötig durch politische Skandale zu verbrauchen, wäre es angebracht, mehr praktische Ar- beit zu leisten, anstatt sich gegenseitig zu ver- unglimpfen. Dem Ansehen der Demokratie sind derartige politische Attacken auch nicht gerade förderlich.
,, Volksgemeinschaft"
Die in Legelshurst aus Kehl evakuierte Emma Fleischmann wird vermißt. Sie hat seit etwa 10 bis 12 Tagen ein Zimmer mit Ver- pflegung oder Kochgelegenheit gesucht, wurde aber wegen der Verpflegung überall abgewie- sen. Seit einiger Zeit befaßte sie sich mit dem Gedanken, ihrem Leben durch Ertränken im Rhein ein Ende zu bereiten. Es ist anzuneh- men, daß sie den gefaßten Entschluß wahr gemacht hat.
Legelshurst ist eine der Gemeinden, die be- reits vor 1933,, Hochburgen" des Nationalsozia- lismus waren.
Michael redete, und Marie sog die Worte dieses fünfundzwanzigjährigen Kindes in sich; sie hörten sich an wie der Sang eines Vogels im Walde. Sie bewunderte ihn unverzüglich. Als sie dann immer mit dem gleichen lang- samen Schritt zu der weiten Grasfläche und den Kindern zurückkamen, die rosenrot er- hitzt, die matten Ballschläge mit ihren Ausru- fen begleiteten, ließ Marie von ihren freimüti- gen roten Lippen die unschuldigen Worte fallen:„ Magdalena, Peter und ich hatten ein ganz junges Brüderchen, das starb, es hieß wie Sie: Michael."
Kaum war er von ihr gegangen, um sich einer Gruppe von Freunden beizugesellen, da setzte auch schon dröhnend der Hagel ein. Er
fiel dünn und übergoß mit seinem Widerschein die Apfelbäume im bebenden Blütengarten. Die spielenden Paare und die Zuschauer flüch- teten mit den andern, die auf den Stufen ver- blieben waren, in das große Empfangszimmer. Dort drin, wie sehr war Marie süß betrof- fen, spielte Michael Geronce auf der Geige. Um den Augenblick ungestört zu genießen, sonderte sie sich ab in das Zwielicht, das an einem der großen Fenster durch das Sieb eines alten geblümten Vorhangstoffes hin- durchdrang, und fühlte ihre Seele wie eine Quelle in sanfter Kristallwoge überfließen. Draußen verzog sich das Gewitter, man ver- nahm es kaum noch. Sie schloß die Augen. So hatte Vater die armselige Stube mit Zauber erfüllt; so hatte er vor dem Schloß- herrn von Roquette- Buisson gespielt, worauf sie so stolz gewesen war, damals als ganz kleines Mädchen mit ihren vom Dorfschuster angefertigten Schuhen; so hatte er, lange nach Michaels Tode, am Tag ihrer Erstkommunion, wieder nach dem dunkel- und lichtschillern- den Bogen gegriffen; dann war ein langes Schweigen um das Grab des armen Steuerein- nehmers entstanden, ein Schweigen, das, wie Marie glaubte, nunmehr für immer andauern mußte. Jedoch heute entströmte viel, viel jün- geren Händen der göttliche Wohlklang aufs ( Wird fortgesetzt)
neue.
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