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21. >1si 1946

gangen sind, ist in ihrer Existenz durch die Ent­nazifizierung bedroht. Es erweist sich als historische Paradoxie, daß just jenes Mittel, mit dem sie ihre Existenz zu erhalten oder zu verbessern suchten, heute der Beweisgrund ist, um ihre Existenz zu vernichten oder minstens zu gefährden. Darauf kann es nur eine psychologisch haltbare Reaktion geben: man versucht den Nachweis zu erbringen, daß nicht politische Ueberzeugung oder gar kämpfe­rischer Wille zu jenem Schritt führte, sondern daß man ihn gezwungenermaßen tat. Oder, manche, nicht viele, sind ehrlich genug zu sagen: sie haben es getan, um ihre Existenz zu -sichern. Auf jeden Fall: niemals sei man ein Aktivist gewesen. Und das Seltsame ist: solche Reden sind keine Ausreden. Es ist Tatsache, was sie anfiihren.

Es handelt sich bei dieser Betrachtung nicht um das Problem der Kollektivschuld, nicht einmal um das der Einzelschuld. Davon sei völlig abgesehen. Hier wurde nur versucht, das seltsame Phänomen zu erklären, daß ein Regime des Verbrechens von so vielen Millionen Menschen nicht nur geduldet, sondern gestützt werden konnte, so daß schließlich erst die gewaltige Macht einer ganzen Welt es zum Sturz bringen konnte. Und daß heute jeder erklärt, mit innerer Ueberzeugung: eigentlich sei er kein Nationalsozialist gewesen.

Eine Erklärung hierfür, nicht die einzige, liegt in der Psychologie des Spießbürgers, und zwar wesenhaft des deutschen Spießers. Denn Spießer gibt es an und für sich in der ganzen Welt. Es ist nur die Frage, ob etwa der Hrsnyois moven oder Mister Babbitt aus USA. oder ein Durchschnitts­engländer soweit hätten gebracht werden können. Aber diese Frage können wir nicht beantworten.

Ois Valilen »in 26. ^s»i

In 10 Städten der amerikanischen Zone mit mehr als 20 000 Einwohnern sind am Sonntag Gemein­deratswahlen, nämlich in 21 bayerischen, 9 groß­hessischen und 7 württembergisch-badischen. Man er­wartet eine stärkere Wahlbeteiligung als bei den Kreistagswahlen. Die Entscheidung liegt zum gro­ßen Teil in der Hand der Frauen, die an man­chen Orten doppelt so viel Wahlberechtigte stellen als die Männer. _

Don zwei Streitern siegt der Denkende. I,s»tso

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l VerliNnUIunKstuKe in 8ecii8 >1on»tenSvvvrinK »ls tzürt>n8tunK8/nuxn K»cc1er8

N ü rnberg. Am Montag waren sechs Monate scii Beginn des großen Kriegsverbrecherprozesses in Nürnberg verflossen, doch ist das Ende noch nicht in Sicht und man rechnet mit der Urteilsverkün­digung wahrscheinlich erst im Laufe des Monats August. Welch gründliche Arbeit in Nürnberg ge­tan worden ist, geht daraus hervor, daß das deutsch­sprachige Sitzungsprotokoll über die Verhandlun­gen bereits auf 10 000 maschinengeschriebene ame­rikanische Folioseiten angewachsen ist. Davon ent­fallen 5500 Seiten auf den Vortrag der Anklage­behörde, die weiteren Seiten umfassen dis Dar­legungen der Verteidigung, so daß beide Teile fast gleichmäßig zu Wort gekommen sind.

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In der fortgesetzten Vernehmung Naeders (Göring und Sauckel sind wegen Erkrankung ab­wesend) begann das Kreuzverhör des englischen An­klagevertreters Fyfe mit dem Angeklagten, der sichtlich nervös wird, weil ihm der britische Anklä­ger allerhand Dokumente vorlegt und Fragen stellt, die nicht gerade Raeders Harmlosigkeit beweisen Racder muß zugeben, daß Hitler seit dem Mai 1938 vor seinem neuen Generalstab der Absicht Ausdruck gegeben hatte, die Tschechoslowakei bei der ersten Gelegenheit anzugreifen. Der englische Ankläger begründet Raeders Schuld u. a. mit dem Hinweis auf die Besprechung vom 23. November 1939, an der auch Raedcr teilgenommen habe. In jener Be­sprechung habe Hitler u. a. gesagt, daß seine Ent­scheidung unwiderruflich sei. Nach Polen werde er Frankreich angreifen und dann England. Raeder gibt auch zu, vor Beginn des Krieges gegen Ruß­land den Angriffsbefehl auf rüssische U-Boote ge­geben zu haben. Daß diese Angriffe dann englischen U-Booten zur Last gelegt wurden, sei von Adolf Hitler angeordnet worden.

Der englische Ankläger bringt dann den Fall der Versenkung derAtheni a" zur Svrache. Raeder erklärt, er sei über die verlogene Darstellung des Propagandaministeriums empört gewesen, 'hätte

IXeue-Diemme 8ek1immei' »18

8>'8lein»ti8<1ie .^»spyitslchuuA voll HüitüllKell im D»8e1n»»in ^szlicti

Rastatt. Im Prozeß gegen das Lagerperso­nal von Neue-Bremme sind eine ganze Anzahl wei­terer Belastungszeugen gehört worden, die in über­einstimmender Schilderung die unglaublichen Zu­stände des Lagers näher kennzeichnetcn und über den Umfang der dort üblichen Mißhandlungen sehr gravierende Aussagen 'machen konnten. Einige junge Lothringer bestätigten aufs neue, daß sie sie­ben Wochen lang Tag und Nacht gefesselt waren und wie ein Hund das Essen aus dem Napf mit dem Mund aufnehmen muhten. Angehörige der französischen Widerstandsbewegung sind ebenfalls in Fesseln gelegt und schwer mißhandelt worden, auch Hungerkuren waren an der Tagesordnung und der Zeuge Larenaudie hat in drei Mo­naten 60 Pfund abgenommen und wog am Ende seines Deutschlandaüfenthalts nur noch 72 Pfund.

Ein französischer Oberst sagte als Zeu­ge:Ich war IS Monate in Buchenwald, aber nie habe ich mich dem Tode so nahe gesuhlt als in Neue-Bremme. Man halte den Eindruck, einem langsamen Tötungsprozeß ausgestefert gewesen zu sein. Wir sind während des ganzen Aufenthalts mit unglaublicher Grausamkeit behandelt worden und nur der kürze unseres Aufenthaltes ist es zu­zuschreiben, daß wir am Leben geblieben sind. 'Als wir aus Neue-Bremme in Buchenwald ankamen, hatten wir den Eindruck, von der Hölle ins Pa­radies gekommen zu sein."

Ein anderer Zeuge sprach von einerAtmo­sphäre der Verrücktheit", die in diesem Lager ge­herrscht habe. Die Häftlinge wurden unter Peit­schenhieben aus den Baracken getrieben, wieder zurückgeschickt und wieder Hinausgetrieben. Die Zahl der Todesfälle habe durchschnittlich 20 im Monat betragen. Scharf wandte sich dieser Zeuge auch gegen den russischen Lagerarzt, nach dessen Einspritzungen Häftlinge gestorben seien. Ein Jurist aus Karlsruhe, der selbst als Häftling

schwere Mißhandlungen erdulden mußte, charakte­risiert Neue-Bremme als das schlimmste Lager, das er kennengelernt habe. Der französische Arzt Cliguet bezeichnet die Ernährung ini Lager als Hungerkost. Sie sei vollkommen unzureichend ge­wesen mit Rücksicht auf die Schwere der Arbeite» und die dauernden Mißhandlungen. Auch der junge elsäfsische Architekt Spocrry, der fünf deutsche Konzentrationslager kennengclernt hat. muß Neue- Bremme als das furchtbarste Lager bezeichnen, in dem er gewesen ist. Fast alle Häftlinge seien syste­matisch im Duschraum des Lagers ausgepeitscht worden und drei französische Offiziere seien an den Folgen der erlittenen Mißhandlungen gestorben. In den 18 Tagen seines Lageraufenthalts hat der Zeuge 26 Tote gezählt. Auch dieser Zeuge bezeich­net Buchenwald als 'nicht so schlimm wie Neue- Bremme. Deutsche Emigranten, die in Mülbausen mit anderen Ausgewanderten in die Ftäiide der deutschen Truppen gefallen und in das Lager ver­bracht worden wäre«, sind nach Aussage eines Zeugen besonders grausam mißhandelt worden.

Aus der weiteren Zeugenvernehmung ist noch hervorzuheben, daß nach der Aussage von Fräu­lein Denise Carroy di^ Wächter des Lagers die männlichen Häftlinge in unmittelbarer Nähe der Frauenhäftlinge barbarisch mißhandelten, um die Reaktion bei den Frauen von deren Augen abzu­lesen. Ein Mann wurde einmal derartig brutal ge­schlagen, daß ein weiblicher Häftling ohnmächtig zusammenbrach. Der als Entlastungszeuge gehörte Eugen Heß aus Saarbrücken konnte dem Ange­klagten Leibfried das Zeugnis ausstellen, daß er zu den Häftlingen zu gut gewesen und deshalb entlassen worden sei. Im übrigen gab aus Befra­gen des Anklag'evertreters der Zeuge sein Urteil über andere Angeklagte ab und schilderte Hornetz, Regulski, Kunkel, Fries, Weiß und Schmoll als genau so unmenschlich und brutal wie die vorher gehörten Belastungszeugen,

aber diese Empörung nicht in die Tat umgesetzt, weil er als Soldat zum Gehorsam verpflichtet ge­wesen sei.

Der russische Anklagevertreter Oberst Pro- kovski erinnerte Raedcr daran, daß er nach sei­ner Aussage zweimal ein Rücktrittsgesuch bei Hit­ler eingereicht habe, aber erst 1913 zurückgetreten sei. Raeder:Man konnte nicht so zurücktreten, daß es nicht als Ungehorsam ausgelegt wurde." Raeders Bruch mit Hitler wurde im Dezember 1912 aus­gelüst, weil ein deutscher Angriff auf einen eng­lischen Geleitzug im Eismeer abgebrochen worden war. Hitler hätte sehr über die Marine geschimpft und Raeder habe daher um seinen Abschied ersucht. Da Hitler zunächst zögerte, habe Raeder ihm selbst den Vorschlag gemacht, ihn zum Admiral-Inspekteur der Kriegsmarine zu ernennen, um nach außen den Anschein des Unfriedens zu vermeiden.

Raeder bestätigte nach auf eine Frage des russi­schen Anklägers die Richtigkeit seiner Darstellung vmn 28. August 191g, wonach ec Göring als einen Menschen von unvorstellbarer Eitelkeit, Effekt­hascherei und Unwahrhaftigkeit, Selbstsucht, Hab­gier und Verschwendungssucht bezeichnet habe.

Der vernommene Entlastungszeuge, der frühere preußische Minister des Innern S e v e r i n g, hat Raeder im Oktober 1928 kennengelernt. Severing bestätigte, daß Raeder zu jenem Zeitpunkt erklärte, ein neuer Krieg wäre ein Verbrechen und man müsse endlich Schluß damit machen, den Versailler Vertraggetarnt zu verletzen".

Nach siebentägiger Verteidigung ist der Fall Rae­der am Mittwoch zum Abschluß gekommen.

Am Donnerstag hat die Verteidigung Baldur von Schi rachs begonnen, der unter der An­klage steht, die deutsche Jugend mit Nazitheorien vergiftet und den Angriffskrieg mit vorbereitet zu haben.

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Dachau. Nach dem Prozeß wegen der Verbre­chen von Mauthausen hat ein zweiter Prozeß we­gen der Erschießung von Kriegsgefangenen begon­nen. Unter Anklage stehen 71 Angehörige der Was- fen-SS., Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften der Leibstandarte Adolf Hitler. Es handelt sich um die Verbrechen gegen amerikanische Soldaten im Verlauf der Ardennenoffensive. Aus einer Erklä­rung von Sepp Dietrich, dem früheren Kom­mandeur der 6. SS.-Panzerarmee, geht hervor, daß Hitler diese Offensive in einer Rede vom 12. De­zember 1911 in Bad Nauheim, wo damals das Führerhauptauartier war. als Schicksalsstunde der Nation bezeichnet hatte. Ein Satz dieser Rede lau­tete:Es muß eine Welle von Schrecken und Tod vorangehen." Dietrich hat auf Grund dieser An­sprache dann rücksichtsloses Vorgehen seiner Trup­pen angeordnet, stellt aber in Abrede, den Befehl zur Erschießung von Kriegsgefangenen gegeben zu haben.

Einer der sechs amerikanischen Soldaten, Ober­leutnant Lar n. schilderte die Erschießung von etwa 130 amerikanischen Kriegsgefangenen, die ccküber- lcbte.

Lin mutiger Niiliter

Unter dieser UeSerschrift lesen wir in der Berliner ..Freien Gewerkschaft" lNr. 111 vom 11. Mai) aus Leipzig:

Der Keneralstaatsanwalt im Bundesland Sachsen, Dr. Schrocder, hat eine Enlschsidung in einer Anklage wegen Mordes getrosten, die von größter politischer Bedeutung ist. 1913 begeht ein Soldat Fahnenflucht. Ein Polizist will ihn festnehmen. Der Flüchtige schießt den Palizeibcamten nieder. Es ge­lingt ihm, in die Schweiz zu entkommen. Nach dem Zusammenbruch kehrt er nach Deutschland zurück. Er wird wegen' Mordes sestgcuommen. der Richter er­laßt Haftbefehl und der Staatsanwalt bereitet die Anklage vor.

..Entspricht es dem Rechtsbewußrsein der neuen Zeit, den Fahnenflüchtigen zur Verantwortung zu zie­hen. weil er im Kamps um sein Leben denjenigen gelötet Hai, der ihn dem sicheren Tod zuführen wollte?" so fragt Dr. Schroeder. Er antwortet daraus: Fah­nenflucht aus Hitlers Armee enthält für unser Rechts- austasiuitg keine Verfehlung, die den Flüchtigen ent­ehrt und seine Bestrafung rechtfertigt. And er folgert weiter, daß die Lage, in der sich der Flüchtling dem Beamten gegenüber befand, von ihm nicht pflicht­widrig herbcigeführt war. Aus diesem Grunde hat Dr. Schroeder die Freilassung des Verhafteten er­wirkt und das Verfahren gegen ihn eingestellt.

Ore «rirc/eT-e

^ enn vir cleo Kriex xevonnon ikäNkn - mit ^ oxonj)rs1I uocl Lturinxekranz. drmn värs Deotscklancl nickt rin retten nncl xkcke einem irrenkaus.

^lan vurcle uns nark Voten xäknien vie einen vilclen V ölkerstarnrn, vir Sjrrrirrxen, neun 8er§esrrten kämen, vom Trottoir nnä stüuilen stramm.

enn vir clen Kriex xevonnen dritten, dann vär' cler Bimmel national, clie Pfarrer trügen LpanleNen nncl Oott vär' clentscker Oeneral.

Die Oren^e vär' ein Lckiitzenxraken, cler ^loncl vär' ein OelreitenknopI, vir vürclen einen Kaiser Kaken nncl einen Relm statt einem Kopf.

Vl^errn vir clen Kriex xevonnen kätten, clann vären vir ein stolzer 8taat nncl preKten nock in nnsern Letten clie Däncle an clie Dosennakt.

Die Krauen müKten Kincler verken -- ein Kincl im ^akre! ocler Halt!

Der 8tsat krauckt Kincler als Konserven, nn6 öiut sckrneckt ikm vie Dimkeerssft.

^ enn vir clen Kriex xevonnen Kütten, clann vare zeclermann Lolclat, ein Volk cler Kskken nncl Kakelten, nncl rinxskernm vär' Ltsckelclrakt.

Dann vurcle suk Lekekl Zekoren. veil Uenseken rüemlick KÜlix sin^ nncl veil man mit Ksnonenrokren allein ^ie Kriege nickt xevinnt.

Dann laxe äie Vernnnkt in Ketten nncl stsncle stuncllick vor Oerickt, nncl Kriexe xäk's vie Operetten venn vir clen Kriex xevonnen kätten-

Anm Olück xevsnnen vir ikn nickt.

79W Fr/r/r Kätner

Ist es niclit ersckütterncl. 6a6 uns lüeso vor 2b lolirea ver/sülen mn! erschienenen Verse heute anmuten, als v!) sie neu viiren?

Lin/ik-ftunZ voll >X»/!-I-itoi»tur

Der alliierte Koordinierungsausschuß hat einen Befehl zur Einziehung von Büchern nationalso­zialistischen und militaristischen Charakters in Deutschland erlassen, der seit 20. Mai in Kraft ist.

Innerhalb van zwei Monaten müssen alle Buch­handlungen Leihbüchereien, Bibliotheken, Schu­len und wissenschaftlichen Institute die in ihrem Besitz befindliche Nazi-Literatur au Bevollmäch­tigte der Militärregierung ausliefern.

"Der Befehl erstreckt sich nicht auf Bücher im Pri­vatbesitz, doch sollen auch diese freiwillig abgegeben werden, damit man sie einstampsen und wieder Papier daraus machen kann.

Werke von geschichtlichem Wert werden nicht ver­nichtet werden, doch sollen sie nicht in Deutschland bleiben.

Oie letrte Ob »nee

Deutschland hat nach dem Sieg der Alliierten noch einmal die Chance, sich in das» Völkerganze als fried­fertiges und, nach Bewährung, auch gleichberechtigtes Glied einzufügen. Deutschland kann noch einmal den Anschluß an die Welt als geordneten Kosmos freier und gleichberechtigter Völker finden. Wird Deutsch­land diese letzte Chance wahmehmen?

Wenn es diesmal nicht endgültig die notwendigen Folgerungen aus dem Gang der Geschichte zieht, dann wird es für immer in geschichtslosem Dasein verdäm­mern und als Nation aufgehört haben zu bestehen. Die Welt hat dem deutschen Volk den Weg der Ge­sundung ermöglicht. Wenn es diesen Weg nicht wählt und in den mystischen Tiefen dunklen Eefühlsüber- schmanges. der ihm den Blick für reale Erkenntnisse trübt, verharrt, wird es den Weg in die endgültige Katastrophe antreten. (Neue Zeitung", Nr. 37.)

Wir haben ebensowenig das Recht, Glück zu ver­brauchen, ohne es zu erzeugen, als Reichtum zu ver­brauchen, ohne ihn zu erwerben. Leruiiarck S!>av

Herausgeber unü Lcbriktleiter: ZZ'NI Haans Aebsaeüer. IlitgNeüer <!er Keäalctiyli: Dr. IZrnst Zlüller, Hart Nliscli- wauQ, Dr. Lrieb Zcbairer, llosemsrie Zckritteubolm, -Itkreä

Die srkvsrrle kokaräe

Von Eosek Dbsrls

In den Oktobertagen des Jahres 1792 führte in Rottenburger Wirtschaften öfters ein junger Mann das große Wort am abendlichen Biertisch. Es war ein Schustergeselle aus Schwalldorf: er hatte län­gere Zeit in Paris gearbeitet und erzählte nun, heimgekehrt, seinen Landsleuten, wie es dort zu­ging. Alles hatte er mitgemacht, wenn man ihn hörte, vom Sturm auf die Bastille Anno 89 bis zur Aufrichtung der Republik im September 92. Er hatte gesehen, wie das Pariser Volk demdicken Schwein" so nannte es seinen König eine Jakobinermütze aufsetzte, wie die verhaßteOester­reicherin", seine Frau, ein Glas Wein aufs Wohl der Nation trinken mußte, wie man abgeschlagene Aristokratenköpfe auf einer Pike durch die Straßen trug, und wie der General Lafayette mit seinem dreifarbigen Federbusch vor der Nationalgarde sei­nen Schimmel tänzeln ließ; er hatte Danton und Robespierre gehört, kannte alle Verschwörungen, alle Hofintriguen und alle Machenschaften der Emigrierten und wußte genau, wer an den Men­schenschlangen vor den Pariser Bäckerläden schuldig war. Dabei warf der Schwalldorfer Danton, der übrigens Meyer hieß, patriotenmäßig mit Spitz- buben und Hundsföttern in französischer Sprache um sich und ließ durchblicken, so müsse es bei uns auch kommen. Die braven Rottcnburger überlief eine Gänsehaut, scheu sich umsehend langten sie Hut und Stock und entwichen den Greueln und Gesah- ren der Revolution, indem sie zu Hause neben ihren friedlich schnarchenden Weibern die baumwollene Zipfelmütze über die Ohren zogen noch tiefer als sonst. *

Für Rottenburg und Ehingen hatte man 500 Mann und 300 Pferde angesagt: als sie nun kamen, Grenadiere, Jäger, Husaren, Ulanen und Kano­niere, waren es doppelt so viele. Sie gehörten zur Legion des im Vorjahr zu Freiburg verstorbenen Grasen Mirabeau, die im Hohenbergischen Winter- quartier bezog. Kavaliermäßig, wie die ganze Ar­mee, in der fast jeder, vom einfachen Mann bis zum General, zahlreiche Adelsbriefe voriveiscn konnte, war auch ihr Einzug: in Wendelsheim schoj»

sen sich zwei Edelleute mit Pistolen, ein anderes Paar schlug sich am Oberen Tor mit Degen.

Beim damaligen Stadtpfarrer Dr. Häßler er­schien am Tag nach ihrer Ankunft der Legions- kommandeur mit seinem Adjutanten zur Antritts- oisite. Er nannte sich Charles-Joseph-Hyacinthe du Houx, Marquis de Viomünil.

Die Aufführung der Emigrierten in Rottenburg war im ganzen gut und ruhig. Auch geschahen nur wenige Exzesse, die meistens der Unkunde der Sprache und Ungleichheit der Sitten zuzuschreiben waren". Man darf dem liebenswürdigen Herrn Stadtpfarrer um so eher glauben, als er keines­wegs verschweigt, daß dieviermonatige Anwe­senheit von tausend jungen, ledigen, nicht ungebil­deten Franzosen eine Revolution in den Sitten" der biederen Rottenbüraer verursacht habe. Man kann sich's vorstellen! Wenn sie auch französisch parlierten, und die Rottenburger Schönen schwä­bisch schwätzten, so hat doch erfahrungsgemäß Un­verständnis der Sprache noch niemals Einverständ­nis in allgemein menschlichen Dingen gehindert.

Allmählich gewöhnte man sich aneinander in der Stadt. In den Taufbüchern der Rottenburger Dom­pfarrei steht neben ellenlangen französischen Adels- namen nicht selten der eines Rottenburger Bürgers, der, vielleicht als Quartiergeber, den in d.er Fremde geborenen Prinzlein, Gräflein, Chevaliers und Marquis Pate gestanden ist.

Mit Bestürzung, Schrecken, Schmerz und Trauer, mit Scham, Erbitterung und Haß vernahmen diese Heimatlosen die Nachricht von der Hinrichtung ihres Königs, dessen Kopf am 21. Januar 1793 un­ter der Guillotine gefallen war. In Rottenburq hielten sie ihm unter Beistand der geistlichen und weltlichen Obrigkeit in St. Martin ein feierliches Totenamt in tiefster Trauer. Alle Rottenbüraer Honoratioren erschienen schwarzgekleidet mit De­gen. Der Groß-Almosenier, Abbe Susanne de Mont- maure, zelebrierte die Seelenmesse; nachher hielt General Momenil eine kurze französische Ansprache. Als er zum Schluß den achtjährigen Dauphin, der mit Mutter, Schwester und Tante im Pariser Tcmple gefangengehalten wurde, unter dem Na­men Ludwig XVII. zum König ausrief, brachte der HMi-tzNtzrMei1« rqH" all« Aistgen

in der Kirche zum Zittern,bis vor die Stadt an den Neckar" soll er hörbar gewesen sein. Die Pro­klamation des neuen Königs wurde am 1. Februar festlich begangen.

Am 30. Januar 1791 kam Conde diesmal mit seinem ganzen Hauptquartier. Der Stadtschreiber von Bruchsal hat, als Condäs Generalstab dort im Quartier lag, eine Zusammenstellung gemacht. Dar­nach führten die Hauptpersonen, der Prinz von Conds, sein Sohn der Herzog von Bourbon, sein Enkel der Herzog von Enghien und der Herzog von Berry, der Sohn des Grafen von Artois, je 27 Pferde mit; zum Stab gehörten 11 Edelleute, 21 Adjutanten, 15 Stabsoffiziere, 3 Administration!--, 9 Jnssenieur- und 9 Jntendanzoffiziere, 2 Artillerie­generäle, 3 Sekretäre, ferner Feldkapläne, Post­meister, Fouriere, Apotheker, Chirurgen, 30 Hand­werksleute, 31 Kavalleristen und 160 gemeine Sol­daten. Die Hofhaltung der Prinzen umfaßte Kam­merdiener, Küchenmeister, Köche, Stallmeister, son­stige Domestiken und 8 Kavallerieordonnanzen. Pier Damen von erstem Rang mit Bedienung an verschiedenem Frauenvolk" vervollständigen die Liste, die es auf insgesamt 551 Personen und 303 Pferde bringt. Nach Rottenburg aber kamen über 1000.Hier sammelte sich für diesen Winter", mit Häßler zu spreche»,die Blume des alten franzö­sischen Adels. In den Abendgesellschaften funkelten und blitzten die Diamanten an den Fingern der Herren, die am Tag nur mit einem simpeln Frack bekleidet waren, und am Kopfputz der Damen, die man größtenteils des Tages in derDormeuse" und in,Neglige" sah."

Nach Aussehen und Haltung war der alte Prinz von Conde das Muster eines vollkommenen Edel­mannes alten Stils, von offenem, wohlwollendem Gesichtsausdruck und mittelgroßer, aber kräftiger Gestalt. Sein Sohn, Louis-Hsnry-Joseph Duc'de Bourbon, damals 38 Jahre alt, gehörte schon mehr dem jüngeren, leichtsinnigeren Prinzentypus an. Er galt als tapferer Soldat.

Eine ritterliche und liebenswerte Erscheinung be­trat mit seinem Sohn, dem jugendlichen Louis- Antoine-Hcnrn de Bourban-Conde, Duc d'Enghie», unsere Stadt. An ihm, der bei seinen, Rottenburgcr Anstntholt 22 Jahre zählte, nahm die Revolution noch in ihrem letzten Vertreter und Würger zu-

gleich grausame Rache. 1801 ließ Napoleon den schuldlosen Bourbonenprinzen auf badischem Gebiet ausgreisen, nach Paris schleppen und nach einer militärgerichtlichen Farce eiligst im Festungsgraben von Vincennes erschießen.

Von fast allen Persönlichkeiten, die die Weltge­schichte damals eine kleine Nebenszene in Rotten­burg aufführen ließ, könnte man interessante Züge undÄnekdotsn beibringen: van der Prinzessin Louise de Conde, vom Herzog vo» Valentinois, Graf du Chillot, Marchese Grimaldi, Candüs Adjutanten, der in'seinem Rattenburger Quartier (Bärengasse 4) starb und in Sülchen begraben liegt, und so vielen andern. Nur einer Dame sei nach gedacht, der Für­stin von Monaco. Das Tagebuch eines Zeitgenossen, der sie 1792 in Mainz kennengelernt hatte, schildert sie folgendermaßen:Desto munterer und reizvoller zeigte sich die Fürstin Monaco, entschiedene Freun­din des Prinzen von Conde, die Zierde von Chan­tilly in guten Tagen. Anmutiger war nichts zu sehen als diese schlanke Blondine; jung, heiter, pos­senhaft; kein Mann, auf den sie's anlegte, hätte sich verwahren können ..." Der dies schrieb, war kein Unerfahrener, er heißt Goethe.

Am 13. Mai 1795 verließ das Korps mit der schwarzen Kokarde und alle seine Mitzügler Rot­tenburg und die Herrschaft Hohenberg für immer. Damit man sie nicht gar so schnell vergäße, hinter­ließen sie dem Kaufmann Ferdinand Bellino in Rattenburg ihre hocharistokratischen Namen, säuber­lich in ein Buch geschrieben; die Ziffern hinter dcz einzelnen Namen bedeuten jedoch nicht die Anzahl ihrer vornehmen Ahnen, sondern ihre gänzlich un- vornehmen Schulden insgesamt 3000 Gulden!

Heute erinnern an die Zeit dieser friedlichen fran­zösischen Invasion noch ein paar verwitterte Grab­steine, nicht wenige französische Brocken in der Rot- tenburger Mundart und ein Wirtshausschild, unter dem einstdie Blume des alten französischen Adels" bei Politik und Spiel, bei Neckarwein und man­chem Vers aus Herrn von Voltaires lockererPu- celle" seine Abende verbrachte. Diese Wirtschaft in der Stadtlanggasse heißt heute nochZur Bonne Auberge"Bohne'bersch" auf rotteuburgcrisch , und diesen Namen darf die ganze Stadt für sich in Anspruch nehme», denn sie ist den fremden Gä­sten wirklich einegute Herberge" gewesen.