Uwe Gast Das Kloster Hirsau und seine mittelalterlichen Glasmalereien Bemerkungen zu Überlieferung, Rekonstruktion und Einordnung* Seit mehr als 300 Jahren liegt Kloster Hirsau in Ruinen. Wer die altehrwürdige Klosteranlage der Benediktiner heute besucht, sucht also mit Sicherheit keine Glasmalereien es sei denn, er oder sie interessiert sich für die moderne Farb­verglasung von Wolf-Dieter Kohler(1928 bis 1985), welche die Marienkapelle als einen der wenigen erhaltenen Bauten schmückt. Wer Hirsau besucht, bestaunt die eindrucksvollen Reste, die von der Anlage geblieben sind, und findet vielleicht den Weg in das Museum, wo man sich umfassend über ihre Geschichte infor­mieren kann. Dort wird man mit umso größerem Erstaunen feststellen, dass die Ausstattung mit Glasmalereien, die das Kloster einstmals besaß, vergleichsweise gut überliefert ist(bzw. zu sein scheint) zumindest, was den Kreuzgang und die Allerheiligenkapelle betrifft. 1 Indes, wirklich überraschend ist dies nicht, denn schon im 19. Jahrhundert war Kloster Hirsau wegen seiner ehemaligen Glasmalereien berühmt. Dichter und Altertumsforscher, Kunsthistoriker und Glasmalereispezialisten die Reihe reicht von Justinus Kerner, Gustav Schwab und Franz Xaver Steck über Johann Dominik Fiorillo bis hin zu Michael Adam Gessert, Wilhelm Wackernagel, sie alle erwähnten sie in ihren viel gelesenen, mitunter mehrfach aufgelegten Büchern. 2 Ihr Referenzwerk war ein im Jahr 1773 erschienener Aufsatz von Gotthold Ephraim Lessing(1729– 1781). Als Bibliothekar der Herzog-August-Bibli­othek in Wolfenbüttel hatte Lessing in den Aufzeichnungen des Abtes Johannes Karg(Parsi­monius) eine 1579 datierte, detaillierte Beschrei­bung der Glasmalereien in Hirsau entdeckt. 3 Sein Aufsatz blieb für lange Zeit die maßgebliche Publikation. Zwar war seine These, dass die Glasmalereien des Kreuzgangs das Vorbild für die Blockbuchausgabe der Biblia pauperum abgege­ben hätten, im Grunde schon 1775 widerlegt worden; 4 doch die Diskussion darüber hielt an, sodass die Hirsauer Glasmalerei-Überlieferung bis tief in das 19. Jahrhundert hinein kunsthistorisch von großem Interesse war. 5 Ohne in diesem Rahmen allzu genau auf die allgemeine Forschungsgeschichte zu Hirsau ein­gehen zu wollen, so muss doch festgehalten werden, dass man sich in der Zeit um 1900 anderen Gegenständen zuzuwenden begann, vor allem der Architektur der Klosteranlage. 6 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg rückte deren eins­tige glasmalerische Ausstattung aufs Neue in den Blick. Hans Wentzel gelang es, für eine Gruppe spätgotischer Glasmalereien aus königlich-würt­tembergischen Besitz eine Herkunft aus Hirsau plausibel zu machen; 7 Markus Otto und Walde­103