Nachkriegszeit mit den Augen eines Kindes gesehen Renate Ritter- Stammheim Die Stunde Null war gekommen, sie bescherte großes Chaos. Einige Tage nach Kriegsende reisten meine Eltern zusammen mit meiner Schwester zu Fuß, den Handleiterwagen ziehend- bergab fuhr man- nach Stuttgart, um dort aus dem Zimmer unseres Vaters alles, was sich aufladen ließ, mitzubringen. Anderntags traten sie die Heimreise wieder an. Bei Ostelsheim befand sich die Grenze zwischen französischem und amerikanischem Sektor. Hatte man zu dieser Zeit keinen gültigen Passierschein, überschritt man die Grenze irgendwo im Wald, immer hoffend, nicht entdeckt zu werden. Bis sich die Zeit wieder etwas geordnet hatte, hungerten wir Kinder sehr. Das tägliche Schulvesper bestand aus einer Scheibe trockenen Brotes und einem Apfel. Kam man mit überwältigendem Hunger nach Hause, man mit Vorliebe kalte Kartoffeln mit der Schale, wofür man jedesmal ordentlich aus­geschimpft wurde, weil die Mutter doch Bratkartoffeln daraus hatte machen wollen. So war dann die Schulspeisung willkommen. Der fadenziehende Haferflockenbrei mit Rosinen gesüsst, schmeckte, wir konnten uns sattessen. Dies war eine Initiative der Amerikaner, obwohl wir in der französischen Besatzungszone lebten. Für mich persönlich endete dieser Zeitabschnitt mit einer schweren Stomatitis, infolge Mangel-ernährung, in deren Verlauf ich bis auf Haut und Knochen abmagerte. Mit Ährenlesen, Bucheckern sammeln ­Nußersatz- Waldbeeren suchen, sowie dem nach und nach wieder angepflanzten Garten, kam man über die Runden. Meine Mutter ging eines Tages zu Fuß nach Würzbach(zirka 18 km) zum Heidelbeersammeln, um später mit dem vollen Eimer wieder nach Stammheim zu wandern. Nicht vergessen werde ich die tägliche Milch von den Kühen unserer Tante, für die wir Kinder etwa 5 km zurücklegten, denn es war unsere Aufgabe, die Milch zu holen. Im Alter von etwa 13 Jahren sah ich zum erstenmal wie eine Banane aussieht und trank den ersten Kakao. Glücklich schätzen konnte sich, wer aus AmerikaCarepakete erhielt. Wir zählten nicht zu diesem Personenkreis. Menschen, die in Städten wohnten und weder Garten noch Feld anpflanzen konnten, kamen buchstäblich mit ihrer allerletzten Habe auf das Land, um zum Beispiel das Klavier gegen Mehl oder Öl einzutauschen. Mäntel aus Kleiderspenden der französischen Bevölkerung wärmten uns im Winter. Sie sahen alle gleich aus, waren dunkelblau und keiner störte sich daran, daß ein großer Teil der Einwohner sich damit kleidete. Ich besaß Halbschuhe, die aus allen Nähten platzten, weil sie einige Jahre passen mußten. Der Schuh­macher flickte sie immer wieder liebevoll zusammen. Im Sommer liefen wir barfuß oder in selbstgefertigten, geflochtenen Stroh­sandalen. Wolle spann man selbst und verarbeitete sie zu benötigten Kleidungsstücken. Weben, stricken, häkeln waren die Abendbeschäftigung. Schränke oder Handtücher bekam man aus Armeebeständen zugeteilt. Einer dieser Sperr­holzschränke steht heute noch bei uns im Schuppen. Bei uns in der damaligen Volksschule- heute Hauptschule- hatte ein Lehrer nach dem Krieg in einem Raum vier Schulklassen zu unter­richten. Später waren es noch zwei. Als Folge des Krieges waren Lehrer gefallen, in Gefangen­43