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Das Lehrerseminar in Nagold
Für die Entwicklung der Stadt Nagold ist die Errichtung des Lehrerseminars von großer Bedeutung gewesen, und auch für den Bezirk und die weitere Umgebung waren damit manche Vorteile verbunden. Unser Vaterland nahm nach dem Krieg von 1870/71 in politischer, wirtschaftlicher und geistiger Beziehung einen gewaltigen Aufschwung. Mit besonderem Nachdruck wurde die Hebung der Volksbildung nach allen ihren Seiten verlangt und gepflegt. Neue Schuleinrichtungen wurden getroffen, neue Lehrstellen errichtet, neue Schulhäuser gebaut, die Bildungsziele höher gesteckt. Bald stellte sich Lehrermangel ein. Die vorhandenen Lehrerseminare Eßlingen und Nürtingen nebst den Privatseminaren Lichtenstern und Tempelhof genügten nicht; 1873 wurde das dritte Staatsseminar in Künzelsau errichtet; aber bald ge-, nügte auch das nicht mehr; man brauchte ein weiteres Staatsseminar. Da die älteren Seminare Eßlingen und Nürtingen mehr in der Mitte des Landes liegen und Künzelsau dem fränkischen Landesgebiet zugehört, so lag der Gedanke nahe, eine Schwarzwaldstadt hiefür zu wählen. Sulz a. N., Wildberg, Hirsau und andere Orte kamen in Wurf; in die engere Wahl kamen nur Talw, Herrenberg und Nagold. Wegen des weiten Entgegenkommens der Stadt und wegen der landschaftlichen Schönheit erhielt Nagold den Vorzug. 1877 wurde der Bau begonnen und 1881 vollendet. Auf einer Terrasse über der Nagold auf allmählich ansteigendem Hang ist das imposante Gebäude aus prächtigem Hochdorfer Lettenkohlensandstein erstellt worden. Der Bau ist gehalten in den edlen Formen der italienischen Renaissance, ist 93 Meter lang und zeigt besonders auf der Talseite schöne, reiche Gliederung. Ein erhöhter Mittelbau und 2 Seitenflügel, ein schöner, säulengeschmückter Eingang mit Balkon verleihen dem ganzen Vau eine vornehme Erscheinung. Lehrsäle, Schlafräume, Speiseräume, weite Wandelgänge füllen das Gebäude. Um das Haus dehnen sich schmucke Gärten und Höfe, ein großer Turn- und Spielplatz und eine Turnhalle. Außer dem eigentlichen Seminargebäude befindet sich in der Nähe das für die jüngeren Klaffen bestimmte „Präparandenan- staltsgebäude". Außerdem war mit dem Seminar etwa 2 Jahrzehnte lang eine Taubstummenanstalt verbunden.
Das Seminar war bestimmt anfangs für 8, später für 6 Klaffen, zu denen seit etwa 20 Jahren Nebenklassen kamen; die Klasse zählte 30—36 Schüler. So betrug die Zahl der Seminaristen 200—280, häufig auch mehr. In den Räumen des Seminars herrschte tagaus tagein bewegtes Leben. Eine feste Regelung des Tageslaufs, Unterrichtsstunden vom frühen Morgen bis zum späten Abend, Musik- und Turnübungen, Privatstudium und Erholungspausen füllten den Tag. Auch für die Stadt brachte das Seminar manche Vorteile: täglich gingen Bäcker, Metzger und andere Geschäftsleute aus und ein und sorgten für die täglichen Lebensbedürfnisse. In den Mittags- und Abendpausen zogen die Seminaristen mit ihren bunten Mützen durch die Stadt, machten Spaziergänge und besorgten Einkäufe. Wie viel Le-