Der Arbeitslohn ist für alle gleich, besteht aber nicht in Geld, das gar nicht mehr existiert, sondern in Kreditkarten, aus denen zum Eintausch der nötigen Lebensbedürfnisse kleine Vierecke ausgeschnitten werden. Der Unterschied zwischen anstrengenderen und leich­teren Berufsarten besteht darin, daß für die ersteren weniger Arbeitszeit als für die letzteren angesetzt ist, wodurch das Verhältnis zwischen Angebot und Nach­frage reguliert wird. Da jeder nicht für sich, sondern für die Nation arbeitet, so erhält er auch von der Nation auf Grund seiner Kreditkarte seine Lebens­bedürfnisse aus dem großen nationalen Warenlager, das allen Zwischenhandel überflüssig macht. Sämt­liche Gewerbe sind in lO große Berufsgenossenschaften geteilt; die Produktion reguliert der Staat, so daß Überproduktion kaum entstehen kann. Für besonders hervorragende Leistungen sind Medaillen, blaue und rote Bänder und der Dank der Nation vorgesehen; außerdem belohnt, da Geldheiraten nicht mehr möglich sind, die Tüchtigsten der Nation die Hand der edelsten Frauen. .Die Arbeitszeit dauert bis zum 45. Jahre, von welcher Zeit an der Mensch sich seiner geistigen Vervollkommnung und edlen wissenschaftlichen und künstlerischen Genüssen widmet, so daß der Nachmittag die schönere Hälfte des Lebens bildet. Die Besten und Hervorragendsten dienen übrigens als Generäle noch weiter und wählen aus sich den Präsidenten. Auch die Frauen gehören zum Arbeiterheer, da sie aber nur die leichteren und angenehmeren Arbeiten zu besorgen und ihre Kinder bloß bis zum 6. Jahr zu erziehen haben (worauf dieselben in eine staatliche Erziehungsanstalt gebracht werden), auch Kochen und Waschen in großen Anstalten besorgt werden, so können sie mehr Zeit auf die körperliche Pflege ver­wenden und haben es in jeder Beziehung besser als die Frauen des 19. Jahrhunderts; sie stehen in wirtschaftlicher Beziehung unabhängig da, und es giebt nur noch Heiraten aus Liebe. Da alle den gleichen Bildungsgrad erlangt haben, so giebt es keine Klassen mehr, und niemand sieht auf diejenigen herunter, welche dieselben Dienste thun, die er früher selbst gethan hat. Da nicht blos aus die geistige, sondern auch auf die körperliche Ausbildung die größte Sorgfalt verwendet wird, so ist die Menschheit kräftiger, gesünder, schöner und ausdauernder als in unsrer Zeit. Mit dem Eigentum fallen auch die meisten Verbrechen (auch die Sittlichkeitsverbrechen?) dahin, und die wenigen Verbrecher werden als Kranke behandelt. Es giebt keine Armee und keine Steuern; die Welt des 20. Jahrhunderts ist eine Welt der Ordnung, der Gerechtigkeit und des Glücks. Kranke und Krüppel werden vom Staat erhalten. Man fragt mit Recht: Woher soll denn das Geld zu dem allem kommen? Darauf giebt Bellamy die Antwort: Es giebt keine Ausgaben für Armee und Marine und sehr wenig für Armenwesen und Besserungs­häuser; die einfache Güterverteilung und die gemein­schaftlichen Einrichtungen ersparen ungeheuer viel Kräfte, da alle Industrie in den Händen der Nation liegt, so giebt es keine ungesunde Konkurrenz, keine Ueberproduktion mit nachfolgenden Verlusten, keine Krisen und Krache. Nun was sagt der geneigte Leser dazu? Es wäre ja alles schön und gut, wenn das Ganze nicht ein Traumbild wäre, das niemals zur Wirklichkeit werden kann, so lange die Menschen Menschen sind. Es müßte ein Wunder geschehen, aber daran glauben ja die Sozialisten am allerwe­nigsten; es müßte die ganze Menschheit sich von der Forderung des Evangeliums durchdringen lassen: Liebe deinen Nächsten als dich selbst!", aber vom Wort Gottes wollen ja die Sozialisten gerade nichts wissen. Es wäre ja zu schön, wenn innerhalb 100 Jahren die Menschheit sich so veredeln würde, daß jeder aus lauter Vergnügen an der Arbeit, aus lauter Liebe zu den Brüdern, aus lauter Aufopferung für die Nation seine Pflicht thun, sein Bestes leisten würde; aber verschiedenes Schütteln des Kopfes in der Versammlung zeigte, daß Bellamy bei uns nicht viel Gläubige findet, ist ja die Gelbsucht im Gegenteil im Zunehmen begriffen. Freilich wird manche Härte sich mildern, manche Ungerechtigkeit sich beseitigen lassen, und das zu thun, ist ja die ReichTgesetzgebung auf dem besten Wege; allein einen paradiesischen Zustand wird die neue Schrift so wenig herbeiführen ais ihre Vorgängerinnen in früherer Zeit, und wir werden gut daran thun, nüchtern zu bleiben, uns auch fernerhin schlecht und recht durchzuschlagen und uns an den Wahlspruch zu halten, mit welchem Redner seinen reichhaltigen Vortrag schloß: Bete und

arbeite! Nachdem dem Herrn Kameralverwalter Bühler auf Anregung des Herrn Sannwald der Dan! der Versammlung gespendet war und darauf die Erregung der Gemüter in lebhaftem Privatgespräch sich Lust gemacht batte, ergriff Rektor Brügel das Wort, um andere Saiten in den Herzen erklingen zu machen. Mit ernsten, würdigen Worten erinnerte er an die Trauerbotschaft aus Berlin, wonach wieder ein Großer aus der großen Zeit, unser Feldmarschall Moltke, dahingegangen ist. Mit schmerzlicher Be­wegung kam die Versammlung der Aufforderung nach, das Andenken des großen Toten durch Erheben von den Sitzen zu ehren. Sein Name und seine Thaten werden im deutschen Volke unvergessen bleiben!

Nagold. (Eingesendet.) Wie verlautet, hat der seitherige Lehrer der hiesigen Mädchen-Mittel­schule, Herr Gutmann, eine andere ähnliche Stellung in Schwenningen angenommen und wird in Bälde dorthin übersiedeln, wohl zum allgemeinen Bedauern der Eltern, welche Töchter in dieser Schule haben und welche mit den Leistungen des Herrn Gutmann sehr zufrieden waren. Wie weiter verlautet, soll nun statt eines Lehrers eine Lehrerin angestellt wer­den wohl des billigeren Gehaltes wegen und erlaubt sich der Einsender von einem solchem Schritt

ehe es zu spät ist ganz entschieden abzuraten. Ein Lehrer leistet immer mehr als eine Lehrerin und eine Massige Schule mit Erfolg zu leiten, geht über die Kraft einer Lehrerin. Zudem ist zu be­fürchten, daß die Schule immer mehr zur Schule für Honoratiorentöchter wird, während sie doch für alle Kreise gebildet wurde, in denen sich begabte und strebsame Kinder befinden. Leider ist auch der heurige Zugang zu fraglicher Schule ein geringer und obwohl das Schulgeld relativ ein ziemlich hohes ist, so leidet die Schule an einem stetigen Defizit, das schließlich zur Auflösung derselben führen müßte.

Dies wäre nun sehr bedauerlich, vielmehr sollte

dies entschieden vermieden werden, was durch eine andere Organisation der hiesigen Mädchenschulstellen eicht zu erreichen wäre, ohne den Stadtbeutel son­derlich belästigen zu müssen, namentlich aber sollten sich die bürgerlichen Kreise mehr für die Mäd­chenmittelschule interessieren, zur Entlastung der Volksschule und zur Hebung der Mittelschule, welche auch für diese Kreise bestimmt ist. Den Beweis, wie eine Schule emporkommen kann, haben wir an un­serer Realschule. Soba'd sich die bürgerlichen Kreise herbeilassen, den großen Nutzen einer besseren Mäd- chenbildung anzuerkennen und so für das Wohl auch ihrer Mädchen zu sorgen, sobald wird auch die Mäd­chenmittelschule aufblüheu. Dann kann es sich aber nicht um eine Lehrerin, sondern nur um einen Lehrer, nicht um einen unständigen, sondern nur um einen verheirateten handeln. Die passende Persönlichkeit ist bereits in hiesiger Stadt und damit würde auch mancher Widerspruch und Jntrique und manches Aber gegen die fragliche Schule fallen. Die Sache ließe sich leicht einleiten und wenn die verehrlicheu bürgerlichen Kollegien, wie sie für die Knaben der hiesigen Stadt in so dankenswerter, ausgiebiger Weise gesorgt haben, auch einmal für die bessere Ausbildung der Mädchen ein Herz haben und bei sich bietender Gelegenheit warm für die Hebung der Mädchenmittelschule eintreten möchten, dann dürften sie sich des Dankes nicht blos der Ho­noratioren, sondern auch manches Bürgers versichert halten. Ein Bürger.

L Haiterbach, 28. April. Trau, schau, wem. Gestern Nachmittag kam ein Stromer von Schietin­gen her in unsere Stadt. Gleich im ersten Hause irach er vor und begehrte Wasser, da er sehr Durst zabe. Der allein im Hause anwesende erwachsene Sohn holte ihm solches in der Küche. Nachdem er getrunken, bat derarme Reisende" auch noch um Milch. Der Sohn begab sich wieder in die Küche, um dem Wunsch des Stromers zu entsprechen. Nachdem der letztere die Milch verzehrt hatte, ent- ernte er sich und zwar gleich wieder in derselben Richtung, in welcher er hergekommen war, Schietingen zu. Als später der Sohn seine Taschenuhr von der Wand nehmen und anlegen wollte, war sie ver- chwunden. Auch in Beihingen ist dieser Tage unter ganz ähnlichen Umständen von zwei Jndustrierittern eine Taschenuhr wegstipizt worden.

H e r r e n b e r g, 27. April. Oberamtsbaumeister Braunbeck von hier ist heute nach längerem schweren Leuten verschieden. Derselbe war 27 Jahre im Be­

zirk als Oberamtsbaumeister, Wasenmeister und Feuer­löschinspektor thätig und langjähriger Vorstand deS Gewerbevereins, der Gewerbebank und der Deutschen Partei.

Horb, 27. April. In einer hiesigen Wirtschaft gab es heute Nacht zwischen mehreren Arbeitern eines Mädchens wegen Streit. Auch auf der Straße wurde der Streit noch fortgesetzt, wobei es zu Thät- lichkeiten kam. Ein Knecht des Spitals holte eine Mistgabel und traktierte damit einen Schuhmacher­gesellen auf schauderhafte Weise. Ein dritter Betei. ligter rannte dem Knecht ein Messer in den Leib. Knecht wie Schuster liegen jetzt im hiesigen Kran­kenhaus hoffnungslos nebeneinander. Der dritte Raufbold ein Kupferschmied ist im Amtsge­richtsgefängnis untergebracht.

Stuttgart, 27. April. Zur Beisetzung Molt­ke s begeben sich General v. Wölckern und die Oberstlieutenants v. Reischach und v. Gilgenheimb nach Berlin. Die Armeetrauer bei den württember- gischen Truppen ist auf 8 Tage festgesetzt.

Eisenach, 27. April. Der Kaiser und die Kaiserin werden am Mittwoch in Weimar und am Donnerstag auf der Wartburg eintreffen.

Erfurt, 25. April. Für den Tag der Kai­serparade ist hier jetzt schon kein Wagen mehr zu haben. Für einen viersitzigen Wagen werden bis

zu 50 Mark bezahlt.

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Kaiser Wilhelm II. vor Moltkes Leiche. Kaiser Wilhelm befand sich auf einem Jagdausfluge auf der Wartburg in Thüringen, als ihn die Kunde von dem plötzlichen Hinscheiden des von ihm so hochverehrten Feldmarschalls ereilte. Das Beileidstelegramm des Monarchen an die Fa­milie des Grafen Moltke soll folgenden Wortlaut gehabt haben:Ich bin tief erschüttert. Ich habe eine Armee verloren. Ich kehre sofort zurück." Der Kaiser traf auch bereits am Sonnabend Nachmittag 5 Uhr wieder in Berlin ein und begab sich sofort in das Generalstabsgebäude, vom gegenwärtigen Chef des Generalstabes, dem Grafen Schlieffen, so­wie dem Grafen Waldersee empfangen. Der Kaiser reichte den Herren die Hand und schritt sodann die Treppe hinauf, wo die Gattin des Majors von Moltke, die Nichte des Toten, den hohen Besuch begrüßte. Kaiser Wilhelm nahm dann aus der Hand eines Dieners einen bereitgehaltenen Kranz. Dieser aus Blütenknospen tragendem Lorbeer geflochten, trägt eine lange weiße Schleife mit dem kaiserlichen Monogramm in Golddruck. Mit dem Kranz in der Hand begab sich der Kaiser durch das Arbeitszimmer in das angrenzende Sterbegemach. Mit Thränen in den Augen .trat der Monarch an das Sterbebett heran, während alle übrigen Personen in einem Nebenzimmer zurückblieben. Nachdem der Kaiser einige Zeit im stillen Nachdenken verharrt hatte, legte er den Kranz auf das Bett nieder und wandte sich dann wieder der Familie des Toten zu. Er gedachte der Größe des Verlustes und sprach der trauernden Familie sein Beileid aus in ergreifenden Worten. Erst nach einer Viertelstunde verabschiedete sich der Kaiser und fuhr, von der Menge begrüßt, nach dem Schloß zurück.

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Der Kaiser, der nach seiner Ankunft in Berlin vom Bahnhof unmittelbar nach dem Trauer­hause geeilt war, legte persönlich einen großen Kranz, rer bereitgehalten war, zu den Füßen des großen Toten nieder, kniete hierauf am Totenbette und weinte ange. Der Anblick erschütterte die wenigen Personen, die seiner teilhaftig wurden, aufs tiefste. Der Kaiser hatte sich bei seiner Ankunft beim Major v. Moltke und dessen Gattin Liza v. Moltke, geb. Moltke- Hwildfeld, der er beim Kommen und Scheiden die Hand küßte, lebhaft nach den letzten Stunden des Dahingeschiedenen erkundigt. Der Monarch stand während seines ganzen Verweilens im Generalstabs­gebäude unter dem Banne einer tiefen inneren Er­regung. In heiße Thränen war am Totenbette Moltkes auch die Erbprinzrssiv von Meiningen ausgebrochen. Männer wie den Herzog von Ratibor, den Reichstagspräsidenten von Levetzow und den Reichskanzler v. Caprivi sah man mit den Thränen ringen.

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Fürst Bismarck hat ein sehr warm gehaltenes Beileidstelegramm wegen Moltkes Tod nach Berlin, gesendet.