Cartouche.
(Fortsetzung.)
Da Cartouche ein äußerst gewandter Erzähler war, wußte er wahrscheinlich mehr und genauer von der längst entschwundenen Jugendzeit zu erzählen, als der wirkliche Sohn selbst gewußt haben würde.
Als Charles Bourguignon, Sohn und Erbe der Frau Bourguignon zu Bar- sar- Seine — war er vor allen Nachstellungen der Polizei sicher.
Daß diese Nolle ihm aber auf die Dauer langweilig werden würde und er cs in dem kleinen Landstädtchen nicht lange anshalten würde, war voraus zu sehen.
Wie hätte ein Geist, wie der scinige, auch bei dem Klatsch der Nachbarn, Vettern und Basen Unterhaltung und Befriedigung finden können?
Ein halbes Jahr lang ertrug er diese selbstgeschmiedetcn Fesseln, die Eintönigkeit und die Langeweile des kleinstädtischen Lebens, wo eine Stunde der andern, ein Tag dem andern gleicht.
Eines schönen Morgens machte sich also der Pseudo-Sohn ohne Abschied wieder ans die Reise und die gute Frau Bourguignon mußte das Wellkind zum zweiten Mal beweinen.
Mit unendlichem Jubel wurde er in Paris von seiner Bande wieder begrüßt, wenigstens von Denen, die inzwischen dem Nad und Galgen auf dem Greve-Platze glücklich entgangen waren, denn die Bande war sehr gelichtet worden.
Cartonche forderte dessenungeachtet die strengste Rechenschaft von seinen Leuten, er lobte und tadelte, belohnte und bestrafte.
Bald wußte auch die Polizei, daß er wieder inmitten der Hauptstadt weile, und die Hetzjagden auf ihn nahmen ihren Fortgang.
Die Panzer tharen auf die Ergreifung des gefürchteten Gelübde und beteten, Cartonche selbst aber, dem die Wandelbarkeit des menschliche» Charakters nicht unbekannt war, hegte Furcht, daß sich der Eine oder der Andere von seinen Leuten durch den auf feinen Kopf gefetzten Preis verführen lassen könnte, ihn zu verathen.
Seine frühere Entschlossenheit, Sicherheit und Elastizität seines Geistes waren mit einem Male dahin. Ueberall witterte er nun Verrath, und nirgends hielt er sich mehr für sicher.
'Niemals schlief er in einem und demselben Hause oder Bette zweimal hinter einander, und oftmals fuhr er Nachts aus dem Schlafe und aus schweren Träumen empor, um sich nach den gefürchteten Häschern umzuschauen und ihnen zu entrinnen.
Die Folge von dieser steten Furcht und Selbstpeinigung war eine verdoppelte Strenge, die er von nun an gegen feine Leute ausüble — doch vergebens, feine Stunde hatte geschlagen, die Zeit seiner Entsetzen erregenden Wirksamkeit war um.
Ein junger Gardesoldat, der als stiller Theilnehmer mit zur Bande gehörte, war in einer schwachen Stunde so unvorsichtig gewesen, feiner tM-liebten, einer Schneidcrmamfell, seine Verbindung mit dem gefürchteten Räuberhauptmann zu verrathen. Diese harte ihm darauf das Versprechen abgenommen, aus der Bande auszutreten.
Dieser Verrath war aber Cartouche wieder hinterbrachl worden.
Er ließ deshalb die Mitglieder der Bande zusammen rufen, hielt dem Gardisten in beredten und niederschmetternden Worten seinen Eidbruch vor und ließ ihn auf der Stelle erwürgen und verstümmeln.
Anstatt aber durch diese grausame Strafe abzufchrecken, bewirkte Cartouche das gerade Gegentheil. Man fing an, ihn zu fürchten und zu hassen, und cs konnte nicht fehlen, daß bald ein glücklicherer Verrälherer aus der Bande, ihn erstechen würde.
Dieser fand sich denn auch wirklich in einem Edelmanne aus Poitou, Namens DnchLtelet, der wie der vorige, gleichfalls Gardesoldat und ein stiller Associe der Bande war.
Cartonche hatte dem DuchLtelet eine Mittheilung zu machen und ihn deßhalb auf 9 Uhr Morgens zu sich bestellt.
Duchätelet, welcher der Polizei das Versprechen gegeben hatte, den Räuber lebendig in ihre Hände zu liefern, wenn er selbst straffrei ausgehe, begab sich zur genannten Stunde mit 30 Soldaten, die von einem Sergeanten geführt wurden, in das augenblickliche Quartier des Rauberchefs; es war eine Schenke in der Courlille, ls Nistolst genannt.
Einer der Soldaten, welcher vorausgeschickt wurde, fragte den Wirth, ob Jemand bei ihm wohne.
Die Antwort fiel verneinend aus.
—- Wohnen denn nicht vier Damen hier?
— Ja, sagte der Wirth.
Dieses „Ja" war das Losungswort.
Rasch eilten die Soldaten in ein angewiesenes Zimmer im vbern Stock, wo Cartonche mit drei seiner Genossen noch im festen Schlafe lag, weil er sich erst Morgens 2 Uhr znr Ruhe begeben hatte.
Diese drei Spießgesellen wurden sofort überwältigt. Da der Sergeant aber befürchtete, daß Cartouche, welcher noch im Bette lag, sich selbst tödten oder in der Verzweiflung der Gegen- wr einen der Soldaten iödten könne, rief, um ihn sicher zu
machen, aus: „Verdammt! da ist uns der Hauptspitzbube entwischt! In, Cartouche ist wieder fort!"
Dieser ließ sich durch den Ausruf täuschen und, unbemerkt glaubend, zog er sein Deckbett noch höher über den Kopf.
In demselben Augenblicke stürzten sich die Soldaten über ihn her, ergriffen, fesselten, und zerrten ihn mit sich nach den großen Gefängnissen des Chatelet.
Ganz Paris war siegestrunken bei dieser Nachricht und es fehlte nicht viel, so wäre die Stadt illuminirt worden.
In den Theatern wurden nur noch Stücke gespielt, die auf Cartouche Bezug hatten, alle andern Stücke hatten plötzlich ihre Zugkraft verloren, ja ein gewisser Grandvall verfaßte sogar ein Heldengedicht, welches den Namen des nunmehr gebändigten Räuberchefs trug. Es kommen in demselben folgende Verse, die wir in deutscher Uebertragung wiedergeben, vor:
„Da ist nicht Klein, nicht Groß, Marquis und Straßenjungen,
Der nicht ein Lied besitzt, bas von Cartouche gesungen,
Sein Name fliegt umber auf allen Slraßenbühnen,
Cr ist im Italic, selbst im Fransais erschienen.
Cartonche, Du Glücklicher, dem so etwas gelingt,
Dieweil man Helden erst nach ihrem Tod besingt.
Nach des Näuberhauptmanns Gefangennahme fuhr ein solcher panischer Schrecken in die übrigen Mitglieder der Bande, daß sie sich zerstreuten und ihr Heil in der Flucht suchten. Man behauptet, daß l50 Mann unter fremden Namen in die Regimenter eingetreten wären.
Cartonche wurde in seinem Gefängniß mit außerordentlicher Strenge bewacht. Während ihm der linke Arm vorn geschlossen war, war ihm der rechte hinten geschossen. Außerdem waren anfangs sortwährend sechs Schützen mit in der Zelle, die alle zwei Stunden abgelöst wurden.
Sobald indeß später die Schützen zurückgezogen wurden, sann Cartonche sofort wieder auf seine Flucht.
Aus dem Hellen Tone, welcher durch das Klopfen mit seiner Kette an die Gefängnißwand verursacht hatte, schloß er, daß ein Keller nebenan befindlich sein müsse. Diesen zu gewinnen, war sofort sein Bestreben.
Es gelang ihm endlich mit Hilfe eines neben ihm sitzenden Maurers. Beide brachen nach und nach mit unsäglicher Geduld und Ausdauer ein Loch durch die Wand, welches die Größe halte, daß eben ein Mensch durchgelangen konnte. Hinabsteigend kamen sie an einen Ort, auf welchen mehrere Kloaken mündeten, woraus sie schlossen, daß die Seine nicht weit entfernt sein könne.
Cartonche ließ sich indeß von dem Maurer verleiten, in eine Abzugsröhre nach oben zu klettern, von wo, wie dieser meinte, der Ausweg und die Flucht leichter sein würde.
Es war Nacht.
Sie gelangten in ein kleines Gemach und von da, nachdem sie das Schloß erbrochen, in den Laden eines Kistenmachers.
Da aber zu ihrem Unglück ein kleiner Hund ztt bellen an- sing, den sie vergebens durch Liebkosungen zu beschwichtigen suchten, wurde die Tochter des Kistenmachers wach und rief nach Hilfe.
Der Vater ergriff eiligst einen alten verrosteten Spieß und ein Licht und eilte damit in den Laden, aber schon der bloße Anblick des Räubers reichte hin, ihm Entsetzeu einzuflößen.
Licht und Spieß fallen lassend stürzte er die Treppe wieder hinauf.
Mittlerweile war aber die benachbarte Wache, durch den Hilferuf aufgefordert, unter das Gewehr getreten, und einige Personen hatten bereits die Hausthür des Kistenmachers erbrochen und die Flüchtlinge erre cht, noch bevor dieselben ihren Rückzug wieder antreteu konnten.
Natürlich wurden sie in das Gefängniß znrückgebracht und noch sicherer verwahrt als früher.
Kurze Zeit darauf ward Cartouche in Begleitung von zwei Gefreiten, die sich ihm znr Seite setzten, in einer Kutsche in die Conciergerie gebracht; acht Polizeireiter und elf Schützen begleiteten den Wagen.
Diese Vorsicht wandte man aus Furcht an, daß seine verwegenen Freunde einen Versuch zu seiner Befreiung machen könnten.
In einem Thurme wurde er in einen düstern Kerker geworfen und mit einer Kette angcschlossen, die von der Decke herabhing und ein solches Gewicht hatte, daß er sich kaum zu rühren vermochte.
Von den übrigen Mitgliedern der Bande wurden seitdem fast täglich einige eingefangen und alle wurden zu ihm in denselben Kerker geworfen. Ihre Zahl belief sich bald auf fünfzig.
Natürlich kannte Cartonche nicht einen von ihnen, er hatte sie nie im Leben gesehen.
Auf die Frage nach seinen Mitschuldigen erklärte er, er habe keine.
Auch seine eigene Person verleugnete er.
„Weder kenne ich den Louis Dominique Cartouche, noch bin ich es selbst," sagte er, „sondern mein Name ist Charles Bourguignon; ich bin ein Sohn des verstorbenen Krämers Thomas Bourguignon zu Bar-sur-Seine.
Bei dieser Aussage blieb er einstweilen. (Schluß folgt )