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Der Knabe im Boot

Von Ernst Single

Die Fischersfrau Maria Emhardt aus einem kleinen Dörfchen am Bodensee war im vier­ten Jahre ihrer Witwenschaft eine zweite Ehe eingegangen, die, ohne sonderliche Hoff­nung und Erwartung geschlossen, eigentlich nur Ihrer Sicherheit und der Zukunft ihres drei­zehnjährigen Sohnes Johannes dienen sollte. Der Mann, gleichfalls am See beheimatet, hatte neben seinem Küferhandwerk, das er übrigens, obgleich vom Kriege her einarmig, noch immer mit Geschick meisterte, ein ge­messen Teil guten Willens in diese leiden­schaftslose Lebensverbindung eingebracht. Ja, eine Zeitlang hatte es sogar den Anschein, als ob auch' der Knabe, der anfänglich von beiden Teilen als ein Hindernis angesehen worden war, die beiden Gatten eher ein­ander näherbringen als entfremden sollte. Haberer, so hieß der Küfer, bemühte sich jedenfalls, und zwar nicht einmal ohne Er­folg, mit dem Sohne seiner Frau auf jenen .überlegen freundschaftlichen Fuß zu kom­men, auf den ein Mann in seinen Jahren .Eich mit einem dreizehnjährigen Jungen un­ter solchen Umständen eben zu stellen pflegt. Der Knabe, ein schmächtiger, aufgeschosse­ner Junge, an dem nur die schmalen Lip­pen und die oft lange halb geschlossenen Augen auf eine starke innere Leidenschaft­lichkeit schließen ließen, kam diesen Be­mühungen seines Stiefvaters nach einigem Zögern durch eine, wenn auch nicht hin­gebende, so doch merklich spürbare Bereit­willigkeit entgegen.

So schien sich während der ersten Monate dieser Ehe alles leidlich und' gut anzulassen, und das Leben der drei Menschen schickte sich an, nach dem Abebben der ersten Er­regung, die das Neue für jeden von ihnen '.mit sich gebracht hatte, gerade wieder in stillere Bahnen einzulenken, als plötzlich ein Ereignis eintrat, das mit einem Schlage den I kleinen Kreis unter tödliche Spannung setzte.

] Da es ein schulfreier Tag war, hatte sich der Knabe schon früh am Morgen in der dem mütterlichen Anwesen neu hinzugebau­ten Werkstatt seines Stiefvaters eingefunden,

wo dieser sich gerade mit einem ziemlich ungefügen Faß abmühte. Sei es nun, daß der Junge, der eine Weile selbst an einem Stück Holz herumgeschnitzt hatte, die Anstrengun­gen seines Stiefvaters gar nicht bemerkte, oder daß er sie in einer rätselhaft frühreifen Einfühlung in die Empfindsamkeit eines kör­perlich Behinderten glaubte mit Absicht übersehen zu müssen, die bald darauf ein-, ' tretende Mutter schien allen Grund zu Schelt­worten an den müßig dastehenden Jungen zu haben. Statt nun aber den Knaben, an den er vorher kein- Wort der Aufforderung, mit­anzugreifen, gerichtet hatte, in Schutz zu nehmen, stimmte Haberer mit einemmal in die Vorwürfe der Frau ein, nur daß sie aus seinem Munde den Jungen natürlich ganz | anders treffen mußten, als die doch mehr mütterlich verweisende Rede der Frau.

Ja, das hätte er schon lange einmal zur Sprache bringen wollen, daß die schönen Tage nicht ewig dauern könnten und er keine Lust habe, sich für einen Faulpelz ab­zuschinden, so etwa schalt der Küfer un­wirsch zum Fenster hinüber, wo der Knabe stand.

Zum ersten Male sah sich dieser damit allein gegen den Fremden. Was jer stets dumpf und unklar gefürchtet haben mochte und was er durch eine fügsame Anpassung an seinen Stiefvater hatte verhindern wol­len, war eingetreten. Daß es zudem ein un­gerechter Vorwurf war, den man gegen ihn erhob, vermehrte noch die trostlose Bitter­nis, die sich heiß und salzig in ihm hoch­drängte. .Aber er weinte nicht. Als er stumm an den beiden Erwachsenen vorüberging, die inzwischen längst wieder von anderem spra­chen, zitterten nur seine Hände, in denen er noch das Holzstück hielt, an dem er zuletzt herumgebastelt . . .

So hatte es begonnen. Aber dieser Vorfall ; am Morgen würde wohl nicht genügt haben,

; jene letzte Entschlossenheit zur Reife zu bringen, die später die beiden Erwachsenen so sehr in Angst und Schrecken versetzte, i Vielmehr muß noch ein weiteres an Seelen- cjual hinzugekommen sein, um die Empfind­samkeit des Knaben so tödlich zu treffen. Am Tisch war während des Essens, vielleicht ge­rade im Anschluß an die morgendliche kurze Auseinandersetzung in der Werkstatt, zwi­schen den Eheleuten über den zukünftigen Beruf des Jungen gesprochen worden, wobei Haberer mit größter Entschiedenheit als Je bisher in einer Angelegenheit, die den Sohn seiner Frau betraf, den Plan äußerte, den Jungen in eine Küferlehre irgendwo bei einem seiner Bekannten im Württembergi- schen zu geben. Die Mutter, obwohl genau wissend ; daß Johannes einen anderen, für ihre Verhältnisse allerdings recht hochfah- ! renden Traum hatte, nämlieh Orgelbauer zu werden, nickte nur nachdenklich und bedäch­tig, als sei damit eine Sache, die sie selbst immer ein wenig beunruhigt hatte, auf ver- nünftige Weise entschieden und aus der Weit geschafft. Niemand beobachtete bei diesem Gespräch das Gesicht des Jungen, der, dis Schultern vornübergebeugt, wie von einem lautlosen innerlichen Beben geschüttelt, stumm dabei saß.

Den letzten Anlaß zur Katastrophe aber mochte einer jener kleinen unglückseligen Zufälle gegeben haben, wie sie so oft dem Schicksal die Wege bereiten: der Knabe wurde ungewollt Zeuge eines ungelenken Zartliohkeitsversuches seines Vaters gegen­über der Mutter, den diese weniger unwil­

lig als zerstreut abwies, dem Gatten aber schließlich doch einen flüchtigen Kuß auf den Mund gab.

Was in den darauf folgenden zwei Stunden bis zum Verschwinden des Knaben dann noch in dessen Seele vorging, wird nie er­gründet werden. Erst am späten Nachmittag fand sich jener Zettel, dessen Inhalt die ahnungslose Frau wie schmetternder Faust­hieb traf:

. . Wenn Du den Haberer mehr liebst als mich, will ich euch nicht mehr lästig fallen. Meine- Geige und die Bücher kannst Du verschenken, ich brauche sie nicht mehr. Das Boot will ich euch nicht stehlen, es wird schon irgendwo antreiben. Wenn ihr mir nach­fahrt, springe ich gleich in den See, sonst warte ich noch, bis es dunkel ist, weil ich mich dann weniger fürchte als am Tag und weil es bei Vater auch Abend war . .

Wunderlicherweise erstand in der Seele der Mutter bei aller tauben Fühllosigkeit, in die das Entsetzliche sie hatte erstarren lassen, sofort und unmittelbar der Entschluß, die Rettung des Kindes allein zu versuchen. Ihr Mann hatte hiermit nichts mehr zu tun, ja, er war auch ihr nun wieder so fremd ge­worden, fremd, als hätte sie nie die Tage und Nächte mit ihm geteilt.

So schien das Schicksal gerade auszuholen, zwei, wenn nicht drei Leben für immer von­einander zu trennen, als plötzlich eine neue überraschende Wendung eintrat: Der unbe­merkt hinzugekommene Haberer nahm der schreckgelähmten Frau die letzten Zeilen des Knaben aus der Hand, und es offenbart sich schon hierin vielleicht das wahre Wesen die­ses verschlossenen Menschen, daß er sofort ohne ein überflüssiges Wort die Mütze vom Nagel riß und durch den Garten zum nahen Seeufer hinunterstürzte.

Die Frau war ihm gefolgt. Vielleicht im ersten Augenblick nur, um ihn, haßerfüllt, an der Rettung des Jungen zu. hindern, als er aber schon einen Kahn losgebunden und die Ruder fertig gemacht hatte, da setzte sie sich doch stumm, mit angstgeweiteten Au­gen neben ihn, um das andere Ruder zu er­greifen, das er wegen seines fehlenden lin­ken Armes nicht bedienen konnte \ . .

Der See lag ruhig. Im Westen stand noch wie ein großes leuchtendes Tor der Abend, während gegen Bregenz zu schon tiefblau die Nacht dunkelte und sich mit dem See in eins verwob. Diese Teilung der Welt in Nacht und Helle, wie man sie oft zu gewissen Zeiten abends am See beobachten kann, lastete über der Landschaft wie die unerbittliche Allmacht selbst, unter der auch der Mensch sich ohnmächtig dem Unabwendbaren aus­geliefert fühlt ...

Nach einer halben Stunde stummer, keu­chender Anstrengung sahen sie das Boot. Die Frau war es, die es im ständigen hasti­gen Umwenden des Kopfes schließlich zuerst entdeckt hatte und dabei einen kleinen tief­erlösten Schrei ausstieß. Und nun fielen auch endlich aus ihrem Munde die ersteh zusam­menhängenden Worte, denn bis dahin hatte sie nur immer sinnlose kleine Beschwörun­gen zu.Gott, Selbstvorwürfe und Anklagen vor sich hin gestammelt, während der Mann versteinerten Gesichts wie erstorben dasaß.

Er darf dich nicht sehenl keuchte sie und griff gleichzeitig- hinüber nach seinem Ruder, als müßte alles Weitere nun ihr selbst überlassen bleiben. Aber die Hand ward ebenso hastig zurückgestoßen, und wie­der war es eine Weile nur das schwere, stoß­weise Atmen und das Aufschlagen des Was­sers vorne am Bug, das zu hören war.

Du kennst ihn ja nicht! wimmerte die Frau und ließ wieder das Ruder gleiten. Hörst du, du weißt ja nicht, wie er schon als Kind immer gewesen ist. Er wollte ja schon damals in den See gehen, als sie seinen Vater krank heimbrachten. Immer der See! Als ob sein Vater ertrunken und nicht im Nebel herumgeirrt wäre, bis ihn das Fieber packte! . . .

Dies alles sagte sie mit soviel klangloser Verzweiflung in der Stimme, daß diese auch den Marin neben ihr plötzlich zu erfassen schien, der nach einigen weiteren Schlägen, die das Boot im Halbkreis drehten, gleich­falls das Ruder losließ und erschöpft den Kopf in die Hand stützte.

Durch das Wenden des Kahnes hatten sie das andere Boot jetzt unmittelbar vor sich. Der Knabe stand, deutlich sichtbar, mit dem Rücken gegen den niederen Mast gelehnt und schien die Herannahenden überhaupt nicht bemerkt zu haben. Und dies war es, was der Frau mit einem Male wieder Leben einflößte.

Still! raunte sie mit einem verzerrten Lächeln und faßte von neuem nach den bei­den Rudern, wobei sie den Mann fast von seinem Platz über Bord drängte. Still, er hat uns überhaupt nicht gesehen.

Aber dann, bei der Aussicht, das Boot und den Jungen beim Rudern wieder im Rücken zu haben, griff erneut verzweifelte Angst nach ihr. Einen Augenblick starrte sie an dem Mann neben ihr herunter, ob denn keine Möglichkeit wäre, daß dieser die Ruder allein handhaben könnte. Es war keine.

Und da endlich schien sie auch den letzten Rest aller Ueberlegung zu verlieren. Ihr Ge­sicht unter dem zerzausten Haar hatte kaum etwas Menschliches mehr, , als sie sich jäh emporriß und einen Namen* über das Wasser hinrief, gellend, ein einziger tödlicher Schrei: Johannes!

Der Knabe drehte sich um, langsam. Dann hob er für einen Augenblick die Hände vors Gesicht. Es war eine kurze, erschütternde Bewegung, ähnlich der mutlosen verzweifel­ten Geste, mit der seine Mutter vorhin das Ruder hatt« gleiten lassen. Und jetzt ging . er, jede Regung der dunklen Gestalt vor dem letzten flammenden Leuchten am Horizont deutlich erkennbar, nach hinten zum über­höhten Teil des Kutters . . .

Aller weiteren Vorgänge nach diesem letz­ten Blick auf ihren Jungen drüben im Boot erinnerte sich die Fischersfrau später . nur noch dunkel und schattenhaft, als hätte der Schrecken sie ohne jede bleibende Wahr­nehmung an jenem Abend durch einen furcht­baren Traum gehetzt. Aber ein Seltsames verband sie seit dem glücklichen Ausgang des Ganzen von da ab unlösbar mit dem Manne, den sie sich ohne sonderliche Nei­gung einmal zum Lebensgefährten envählt:

Das Gefühl, nicht er, sondern sie selbst sei es gewesen, die in jenen entscheidenden Se­kunden in den See sprang, urii den sich in der letzten Erschöpfung noch wild wehren­den Jungen zu retten. Nicht wie er, ihr

Kampf mit den Windmühlen

Von Miguel de Cervantes

Vor 400 Jahren am 29. September 154T -wurde Spaniens grÖßtStr Diehter, ja einer der größten der WeltUttrSttpr überhaupt Miguel de Cervantes Savedra, geboren. Sein Grat) ist unbekannt, aber sein WerkDon Quixote ist unsterblich. Es ist mehr als ein satirischer Ritterröman, es ist die Epopöe des träumenden Idealisten in die­ser Welt der unbarmherzigen, nüchternen Wirk­lichkeit überhaupt Wir drucken eine der bekanntesten Episoden aus dem Roman hier ab.

Indem entdeckten sie dreißig bis vierzig Windmühlen, wie sie auf Jener Ebene stehen, und so wie sie Don Quixote erblickte, sprach er zu seinem Schildknappen:Das Glück führt unsere Sache besser, als wir nur wün­schen konnten, denn siehe, Freund Sancho Pansa, dort zeigen sich dreißig oder noch mehr ungeheure Riesen, mit denen ich eine Schlacht zu halten und ihnen allen das Le­hen zu nehmen gesonnen bin. Mit ihrer Beute wollen wir den Anfang unseres Reich­tums machen; denn es ist ein edler Krieg und ein'wahrer Gottesdienst, diesen schnöden Samen von dem Angesicht - der Erde zu. tilgen.Welche Riesen? fragte Sancho Pansa.

Die du dort siehst, antwortete sein Herr, mit den gewaltigen Armen, die bei einigen fast zwei Meilen lang sind.

Seht doch hin, gnädiger Herr, antwortete Sancho.Das, was dort 6teht, sind keine Rie­sen, sondern Windmühlen, und was ihr für die Arme haltet, sind die Flügel, die der Wind umdreht, und die den Stein der Mühle in Gang bringen.

Man sieht, antwortete Don Quixote,daß du in Abenteuern nicht sonderlich bewandert bist. Riesen sind es, und wenn du dich fürch­test, so gehe weg und ergib dich in einiger Entfernung dem Gebete, indes ich hingehe, die schreckliche und imgleiche Schlacht mit ihnen zu wagen.

Mit diesen Worten gab er seinem Pferde Rocinante die Sporen, ohne auf das Schreien seines Schildknappen zu achten, der ihn ver­sicherte, es seien ganz gewiß Windmühlen und keine Riesen, was er anzugreifen ge­denke. Er hatte sich aber die Riesen so fest in den Kopf gesetzt, daß er die Stimme seines Schildknappen Sancho nicht hörte,

noch auch, obgleich er schon ziemlich nahe war, bemerkte, was er vor sich hatte, sondern mit lauter Stimme ausriefrEntfliehet nicht, ihr feigen, elenden Geschöpfe, ein einziger Ritter ist es, der euch die Stirn bietet.

Zugleich erhob sich ein leiser Wind, der die großen Flügel in Bewegung setzte. Als Don Quixote dies sah, sagte er:Streckt ihr auch mehr Arme aus, als der Riese Briarius, so sollt ihr mir es dennoch bezahlen.

Indem er dies sagte und sich mit ganzer Seele seiner Gebieterin Dulcinea empfahl, die er anflehte, ihm in solcher Gefahr bei­zustehen, sprengte er, wohl von seinem Schilde bedeckt und die Lanze eingelegt, in vollem Galopp mit Rocinante vorwärts und griff die vorderste Windmühle an. Während er nun ihr mit der Lanze einen Stich in den Flügel gab, drehte der Wind denselben so hef­tig, daß die Lanze in Stücke sprang. Pferd und Reiter aber umgestülpt und übel zuge­richtet in das Feld hineingeschleudert wur­den. Sancho Pansa eilte, was sein Esel nur laufen konnte, herbei und fand, als er an­kam, daß sein Herr sich nicht zu rühr«i im Stande war, so gewaltig war der Sturz, den Rocinante mit ihm getan hatte.

Gott steh uns bei! rief Sancho,sagte ich es Euer Gnadeft nicht, ihr möget. wohl Zu­sehen, was ihr tut, weil es nichts als Wind­mühlen seien, was jeder wissen muß, der nicht selber welche im Kopf hat.

Sei ruhig, Freund Sancho, antwortete Don Quixote;denn das Kriegsglück ist mehr als irgend etwas anderes dem bestän­digen Wechsel ausgesetzt. Dazu glaube ich noch, und es ist auch gewiß wahr, daß eben der weise Freston, der mir meine Kammer und Bücher geraubt, auch diese Riesen in Windmühlen verwandelt hat, um mir den Ruhm ihrer Besiegung zu entreißen. So groß ist die Feindschaft, die er gegen mich hegt; aber endlich, endlich werden doch seine bösen Künste nichts gegen die Güte meines Schwer­tes vermögen.

Gott füge es, wie er mag, antwortete Sancho Pansa, und half ihm sich aufrichten, worauf der Ritter wieder den Rocinante be­stieg, der den Rücken halb gebrochen hatte.

SftadjiS

Ich wandre durch die stille Nacht, da schleicht der Mond so heimlich sacht oft aus der dunklen Wolkenhülle und hin und her im Tal erwacht die Nachtigall dann wieder alles grau und stille.

O wunderbarer Nachtgesang:

Von fern im Land der Ströme Gang,

leis Schauem in den dunklen Bäumen,

wirrst die Gedanken mir,

mein irres Singen hier

ist wie ein Rufen nur aus Träumen.

Joseph Freiherr von Eichendortf

Mann, einarmig nur, sondern mit gebundenen Händen sogar, alle Kraft nur schöpfend aus einer tiefen heißen Liebe für dieses tod­bereite junge Leben.

Und dieses Gefühl war es auch, das die drei Menschen seit jener drohenden Kata­strophe auf dem abendlichen See nun auch untereinander für immer fester zusammen­schloß, als jede andere Bindung es vermocht hätte.

Reisen ohne Passierschein

Von Wilhelm Schüssen

Mit dem Leib kann ich heute manchmal bloß noch von Tübingen bis Bebenhausen reisen, also eben ein paar Kilometer weih.

Meine Seele aber vermag immer noch aller­lei Reisen zu unternehmen.

So weiß sie zum Beispiel, daß unsere Erde als dunkler Stern um die Sonne herum wandelt, die selber auch wieder nur ein Stern unter Sternen ist. Und die Gelehrten haben auch noch Fernrohre und die Him­melsfotografie erfunden, mit denen man sogar die Stemennebel am Himmel sieht. Diese Nebel aber bestehen, wenn man sie näher prüft, selber wieder aus lauter unendlich fernen Sonnen, um die am Ende ebenfalls wieder solche Sternlein wie unsere Erde kreisen, auf der Berlin liegt und Paris und Rom, wo ich auch schon gewesen bin, und Tübingen am Neckar, wo ich in dieser Stunde an meinem Schreibtisch sitze. Jene Sonnen aber sind so weit von uns entfernt, daß selbst der Lichtstrahl eine wahrhaftige Unzahl von Jahren braucht, bis er von dort auf der Erde anlangt. Die, Nebelsonnen sind sogar bereits wieder abgereist, wenn wir sie endlich zu sehen bekommen. Das ist bekannt. Das läßt sich alles ausrechnen.

Allein meine wanderlustige Seele reist tag­täglich, ganz nach Belieben und spielend dort­hin und noch weit, weit darüber hinaus und braucht nicht einmal eine winzige Sekunde dazu.

Meine wanderlustige Seele reist tagtäglich gleich ein paarmal um alle Welt und alle ihre Nebelsonnen herum.

Sie ist unendlich schneller als alles andere. Der Lichtstrahl, der schon in ein paar Mi­nuten um die ganze Erde herumzuspringen imstande äst, ist eifte förmliche Schnecke gegen meine unsterbliche Seele, die völlig mühelos über alle diese unendlich fernen Nebelsonnen hinaussteigt und auch dort noch haltmacht.

Was sind sie also, meine früheren Reisen nach Madrid und Rom und Budapest, gegen die Reisen, die' meine Seele auch heute noeh alltäglich unternimmt?

Solche Reisen aber kann auch der Invalide machen und der Blinde ebenfalls. Ja, er muß sie machen, denn die Seele, die rastlose Wan­derin verlangt danach.

Sie will und kann sich nun einmal nicht vorstellen, daß sie in Bebenhausen bei Tü­bingen schon am Endziel wäre.

Musikalische Hausregeln

Spiele immer, als hörte dir ein Meister zu. Klimpere nie! Spiele immer frisch zu, und nie ein Stück halb.

Spiele fleißig Fugen guter Meister, vor allem von Joh. Seb. Bach. Daswohltempe­rierte Klavier sei dein täglich Brot. Dann wirst du gewiß ein tüchtiger Musiker.

Fürchte dich nicht vor den Worten: Theorie, Generalbaß, Kontrapunkt etc.; sie kommen dir freundlich entgegen, wenn du dasselbe tust.

Die Bildung des Gehörs ist das Wichtigste. Bemühe dich frühzeitig, Tonart und Tori zu erkennen. Die Glocke, die Fensterscheibe, der Kuckuck forsche nach, welche Töne sie angeben.

Wie wird man aber musikalisch? Liebes Kind, die Hauptsache, ein scharfes Ohr, schnelle Auffassungskraft, kommt, wie in al­len Dingen, von oben.

Aber es läßt sich die Anlage bilden und erhöhen. Du wirst es nicht dadurch, daß du dich einsiedlerisch tagelang absperrst und mechanische Studien treibst, sondern dadurch, daß du dich in lebendigem, vielseitig-musi­kalischem Verkehr erhältst, namentlich da­durch, daß du viel mit Chor und Orchester verkehrst.

Bemühe dich, und wenn du auch nur wenig Stimme hast, ohne Hilfe des Instrumentes vom Blatt zu singen; die Schärfe deines Ge­hörs wird dadurch immer zunehmen. Hast du aber eine klangvolle Stimme, so säume keinen Augenblick, sie auszubilden, betrachte sie als das schönste Geschenk, das dir der Himmel verliehen!

Ohne Enthusiasmus wird nichts Rechtes in der Kunst zuwege gebracht.

Die Gesetze der Moral sind auch die der Kunst.

(Aus denMusikalischen Haus- und Leben f- r egeln von Robert SchumannJ