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Freitag, den 5. September 1947 ORGAN DER CHRISTLICH-DEMOKRATISCHEN UNION Nr. 2 /Jahrgang 1 / Preis20 PIg.

Europas letzte Hoffnung

Appell Trumans an die latein-amerikanisdien Republiken

Washington. Präsident Truman sagte vor den Außenministern der amerika­nischen Republiken auf der Konferenz von Petropolis, wenn auch viele Nationen noch einer ebensolchen Fremdherrschaft unterwor­fen seien, wie die Vereinigten Staaten sie bekämpft hätten, so glaube er doch nicht, daß die internationalen Meinungsverschieden­heiten, die zur Zeit bestünden, durch einen bewaffneten Konflikt entschieden werden müßten. Die Alliierten hätten sich nicht über die großen Linien der Friedensregelung einigen können. Der wirtschaftliche Wieder­aufstieg verzögere sich fast überall in Europa. Diese Situation sei hauptsächlich auf die lähmenden Wirkungen von Angst imd Beunruhigung zurückzuführen. Noch seien viele Nationen in der Welt einer Art von Fremdherrschaft unterworfen, gegen die die Alliierten angekämpft hätten. In Europa und Asien lebten zahlreiche Völker unter der drohenden Gefahr einer fremden Aggression. Die Vereinigten Staaten könnten nicht allen europäischen Ländern auf die gleiche Weise helfen wie Griechenland und der Türkei. Aber die alte Welt sei erschöpft, ihre Zi­vilisation sei in Gefahr und ihre Völker lit­ten. Sie lebten in Verwirrung, und Angst vor der Zukunft erfülle sie. Ihre Hoffnung müsse sich auf die neue Welt stützen können.

Der interamerikanische Verteidigungspakt morde am Dienstag von den Vertretern von

19 amerikanischen Staaten feierlich unter­zeichnet. Ecuador und Nicaragua waren nicht vertreten.

Auf dem Kongreß der Trade Unions in Southport sagte Bevin, man habe ihn be­schuldigt, daß er versuche, das Land an die Vereinigten Staaten zu binden, er wolle aber, daß Großbritannien sowohl vom Osten als auch vom Westen unabhängig sei. Er hoffe, daß die Dominien und die Kolonien sich mit dem Mutterlande über die Bildung einer Zollunion verständigen würden. Alles in sei­nen Möglichkeiten Liegende habe er ver­sucht, um die Beschlüsse von Potsdam zu verwirklichen, doch habe er einen Mißerfolg gehabt. Es sei sehr bedauerlich, daß die Frie­densverträge mit den Verbündeten Deutsch­lands nicht schon früher ratifiziert worden seien. Die Frage liege darin, ob eine neue Welt entstehen oder ob wir in das frühere Chaos zurücksinken würden. Von den Ver­einten Nationen sei der Sicherheitsrat der Mechanismus, der am meisten enttäusche, er werde allmählich zu einer Bühne der Propa­ganda, und die Vetos würden in absolut sturer Form angewandt. Die Zusammenkunft der Außenminister im November nannte Bevin die Vielleicht letzte Chance, die wirtschaft­liche Einheit Deutschlands und den Wieder­aufbau Europas zu erreichen. Er könne kel- nen Erfolg versprechen, aber er wolle sein Möglichstes tun.

Ruf in die Welt: Gerechtigkeit!

Koblenz. Einem Bericht desKirch­lichen Nachrichtendienstes über die Jahres­konferenz der deutschen Bischöfe in Fulda Ist zu entnehmen, daß der Oberbürgermeister der Stadt, Dr. Raabe, an den Bischof von Fulda ein Schreiben gerichtet hat, in dem es heißt:Wenn die deutschen Bischöfe in diesen Tagen sich erneut am Grabe des heiligen Bonifatius versammeln, dann dieses Mal wohl zu einer Notzeit, wie sie größer, stär­ker und allgemeiner vom gesamten Volk noch nicht empfunden wurde. Ich bin mir ge­wiß, daß die Fuldaer Bischofskonferenz zu den uns alle bedrückenden Lebensfragen unseres Volkes Stellung nimmt. Als Bürgermeister der Stadt Fulda erlaube ich mir daher, den Wunsch und die Bitte zu äußern, daß die geistlichen Oberhirten Deutschlands unserem Volke wieder eine richtunggebende Erklärung und eine Bot­schaft zur Stärke, zum Mut und zum Ver­trauen geben möchten, darüber hinaus der Welt eine Botschaft zum Frieden, zur Ver­ständigung und zur Zusammenarbeit der 'ker.

Zn der Schlußpredigt des Bischofs Dr. Wil­helm Beming von Osnabrück, über die bereits kurz berichtet wurde, dankte der Kirchen­fürst der Stadt Fulda für ihren Willkomm­gruß. Drei Gedanken stellte der Bischof in seiner Predigt heraus: 1. Die Bischofskon­ferenz ist eine Lehrerin der göttlichen Wahr­heit, 2. eine Hüterin der sittlichen Ordnung und 3. eine Heroldin der Nächstenliebe in einer Notzeit, wie sie noch nie dieser Art über dem deutschen Volke lastete. Zum ersten stellte der Bischof die Frage: Was tun wir Katholiken für die Ausgebombten, für die

Heimatvertriebenen, für die im Glauben ab­ständig gewordenen Menschen? Vor dem Bild des Apostels der Deutschen sollten all» den Entschluß fassen:Wir wollen Apostel Christi sein. Die Konferenz sprach zweitens von der sittlichen Ordnung. Der Jugend rief der Bischof zu:Rein bleiben heißt reif werden. Es gelte, den Boden zu bereiten für die Erneuerung unserer Gesellschaft von de» Ehe, von der Familie her. Die Gerechtigkeit nannte er die Grundlage der Ordnung. Unter Berufung auf den Wappenspruch und das Werk Papst Pius XII.Opus justitiae pax", das Werk der Gerechtigkeit ist der Friede, fragte er: Wann kommt der Friede? Gerech­tigkeit werde gefordert von den Siegermäch­ten wie ebenso das Recht auf Arbeit, men­schenwürdiges Dasein und' Wiederaufstieg zum Wohlstand. Gebt uns unsere Kriegs­gefangenen, rief der Bischof. Er dankt» für die Hilfe der ausländischen Katholiken, be­sonders in Amerika, und für die unausge­setzten Bemühungen des Heiligen Vaters, dem deutschen Volk in dringendster Nahrungs­not zu helfen. Die deutschen Bischöfe hätten namens des hungernden Volkes auch die Bi­schöfe des Auslandes angerufen. Notzeit werde zur Prüfungszeit für alle. Christentum sei die Religion der Liebe. Aus dieser Liebe rufe die Bischofskonferenz Gerechtigkeit für die Welt, Gerechtigkeit vor allem für die Aermsten der Armen, die mit Gewalt aus Ihrer östlichen Heimat Vertriebenen. Ge­rechtigkeit fordere sie auch von allen, die unsere Geschicke in der Hand, haben, Ge­rechtigkeit, nicht Almosen. Gerechtigkeit fordere sie endlich für die Eltern, daß eie selbst entscheiden dürften, ln weicne Schule Ihre Kinder gehen.

Vorbehalte zum Industrieplan

Paris. Nach einem Bericht desKos­mos-Pressedienst es sieht man in Frankreich den Besprechungen amerikanischer, britischer und französischer Fachleute über die Ausfuhr von Kohlen und Koks aus dem Ruhrgebiet, die am 8. September in Berlin beginnen werden, mit Spannung entgegen. Man frage sich, ob Frankreich den Boden, den es in London verloren habe, in Berlin wiederge­winnen könne, und ob ihm größere Zuteilun­gen an Kohlen und Koks aus dem Ruhrgebiet zugebilligt werden würden. Dabei frage man sich allerdings auch, woher es die Dollars nehmen solle, die nötig seien, um die er­höhten Kohlen- und Kokslieferungen zu be­zahlen. In dem Beschluß, das deutsche In­dustriepotential zu erhöhen, sehe man eine 1 Jefahr für die europäische Kohlenversorgung. Die Steigerung der Stahlproduktion müsse lie Kohlenbedürfnisse Deutschlands erhöhen ind die Kohlenmengen vermindern, die zur Ausfuhr bestimmt seien. Darunter hätte Frankreich zu leiden. Es habe nichts gegen iie vorgesehene Erhöhung der Stahlerzeugung singewendet, sei jedoch der Ansicht, daß die deutsche Schwerindustrie nicht auf einen Stand gebracht werden dürfte, der es den anderen europäischen Ländern unmöglich machen würde, weiter deutsche Kohlen ein- tuführen.

In einem Südena-Bericht aus Paris wird lusgeführt, man könnte die Zusicherungen, li« d«r französischen Abordnung in London

im Prinzip gemacht worden seien, nur als befriedigend ansehen, wenn sie den Prozent­satz, den Frankreich von der erhöhten Ruhr­kohlenförderung erhalten sollte, präzis fest­legten. Die Bizone habe vor dem Kriege im Jahresdurchschnitt 120 Millionen Tonnen Kohle gefördert. 1951 würden es 121 Millionen sein. Die Koksproduktion, die zwi­schen 31 und 86 Millionen schwanke, werde 29 Millionen betragen und die Koksausfuhr, die 1929 zehn Millionen Tonnen erreichte, 5,5 Millionen Tonnen nicht überschreiten. Die deutsche Eisenerzförderung werde von sechs Millionen im Jahre 1936 auf 16 Millionen Tonnen erhöht, so daß die Einfuhr von Eisen­erzen, besonders französischer Herkunft, die 1938 16 Millionen Tonnen betrug, 1951 auf fünf Millionen Tonnen herabgesetzt würde. Der Bericht spricht davon, daß unter diesen Umständen der Industrieplan den französi­schen Anforderungen nicht Rechnung tragen würde.

Die Vereinigten Staaten haben sich gegen den Protest verwahrt, den die Sowjetunion wegen des neuen Industrieplanes erhoben hat. Das deutsche Industrieniveau, wie es am 27. März 1946 vereinbart worden sei, basierte auf dem Prinzip, Deutschland als wirtschaft­liche Einheit zu betrachten. Nach der Außen­minister-Konferenz in Moskau sei es aber offenkundig, daß auf diesem Gebiet® eine Uebereinstimmung in absehbarer Zeit nicht erwartet werden dürfte.

Wie vor 80 Jahren

hr. Berlin. Nach und nach werden Einzelheiten bekannt, welche Eisenbahn­strecken in der Ostzone stillgelegt werden soll­ten. Die Zentralverwaltung der Bahnen in der Ostzone lehnte eine Angabe der Strecken ab, an denen zur Zeit große Truppen den Abbau der Schienen, Signale und Blockstellen vornehmen. In erster Linie sind es die Strek- ken in der Nähe der Zonengrenzen. Man rechnet auf sowjetischer Seite offenbar nicht mit einer Oeffnung der Zonengrenzen, sonst würden nicht Strecken wie die von Nord­hausen nach Ellrich, über die früher Schnell­züge von Leipzig nach dem Rührgebiet lie­fen, oder von Wittenberge nach Dönitz, wo früher Anschluß nach Uelzen bestand, einbe­zogen. Auch die wichtige, vor allem dem Güterverkehr dienende Strecke von Schlesien über Wehrkirch, Falkenberg, Wittenberg, Dessau nach Magdeburg fiele der Spitzhacke zum Opfer, da auch die Schwellen ausgegra­ben werden müßten. Die bisher noch zwei­gleisige große mitteldeutsche Strecke von Wittenberg über Halle Erfurt nach Eise­nach sollte, wie vor achtzig Jahren, in Zu­kunft nur noch eingleisig befahren werden.

Da auch zahlreiche weniger bekannte Strecken in Mecklenburg und Mitteldeutsch­land auch die Oderbruchbahn bei Frankfurt demontiert wurden, würden viele Städte künftig entweder ohne Eisenbahnanschluß oder nur durch eine kleine Nebenbahn an den Verkehr angeschlossen sein und ange­sichts des Fehlens von Kraftfahrzeugen wirt­schaftlich zu kleinen Landstädtchen zurück­sinken. Insgesamt sind 1200 Kilometer Gleise angefordert worden.

Der Generaldirektor der Eisenbahnen in der Sowjetzone, Willi Besener, sagte nach einem Gespräch mit Vertretern der sowje­tischen Militäradministration, der Abbau der

Gleisanlagen sei zunächst abgestoppt. Die demontierten Gleise würden nicht mehr ab­transportiert, und gegen den Wiederaufbau der abgebauten Strecken sei kein Einspruch erhoben worden* .

Ehards Stellung gestärkt

M. B. München. Die bayerische Presse bezeichnet die politische Lage in Bayern nach der Eichstätter- Tagung der CSU als unge­klärt. Die Parteiführung der SPD hat ihren Landesvorstand für Mitte September nach München einberufen. In sozialdemokratischen Kreisen zweifelt man daran, ob das Ver­trauensvotum für den Ministerpräsidenten auch auf die Kcs-litionspolitik anwendbar Ist. Außerdem wird behauptet, daß die innere Auseinandersetzung in der CSU lediglich vertagt und durch die Eichstätter Beschlüsse keineswegs beseitigt worden sei. Man stützt sich dabei auf Aeußerungen aus Kreisen deg Bauernverbandes, die mit dem Vertrauens­votum für Dr. Josef Müller nicht einver­standen sein sollen. Auf einer Tagung der SPD-Fraktion in Bemeck ist neben einer Reihe von Gesetzentwürfen ein Mißbilligungs­antrag gegen den Emährungsdirektor Schlange-Schöningen beschlossen worden. Der bayerische Landtag erkläre, so heißt es in dem Antrag, daß Schlange-Schöningen in­folge seiner politischen Vergangenheit für das bayerische Volk untragbar sei. Außer­dem wird in dem Antrag gegen die Ernen­nung des Verkehrsdirektors Dr. Frohn prote- i stiert. Unabhängig von allen parteipoliti­schen Unklarheiten hat Ministerpräsident Dr. Ehard, dank seinem ausgleichenden und ge­schickten Auftreten, weiter an Boden gewon­nen. In politischen Kreisen hat man dea Eindruck, daß er stärker als bisher den Lan­desvorsitzenden der CSU mit der Verant­wortung für die bayerische Regierungspolitik belasten möchte.

Die unteilbare Not

Es sei keine Freude mehr zu leben, hört man heut« oft, und gemeint ist damit die groß» Not, die über uns gekommen ist. Die Sorge um das nackte Leben macht unsere Gesichter faltig, düster und alt und läßt uns unser Dasein nur noch als schwere Last empfinden. Millionen ängstigen sich um ihre Existenz und um die ihrer Kinder. Existenz Ist für uns die Sorge um die täglichen Ra­tionen, um Schuhe, Wäsche und Arbeits­kleider, um Holz und Heizmaterial, um Me­dikamente geworden. Höhere Ansprüche an das Leben zu stellen, wagt man kaum mehr.

Wie nie zuvor ist der Mensch von heute täglich vor die Frage seiner Existenz gestellt. Dürfen wir noch existieren und ist unsere Existenz mehr als nur ein trauriges Faktum und ein rätselhaftes und düsteres Muß? Die Not geht auf der ganzen Welt um. Wenn sie uns Deutschen am meisten zusetzt, dann sind wir dafür auch die unmittelbaren Erben der Hitlerschen Hinterlassenschaft. Das wollen wir nie vergessen, wenn wir klagen und an- klagen.

Die Menschheit, die den grauenhaftesten aller Kriege überlebt hat, ringt unter Schmerzen und mit noch zweifelhaftem Er­folg um eine glücklichere Zukunft und um eine neue menschliche Gemeinschaft im nationalen wie im internationalen Leben, Sie begreift mehr und mehr, daß die Not ge­meinsam und weltumspannend ist und nur in Zusammenarbeit überwunden werden kann. Daß ein einzelnes Volk ohnmächtig sein kann, ist eine bittere Erfahrung. Aber die Menschheit kann sich nicht aus dem Elend erheben, solange ganze Völker in Not ver­kommen. Not und Friede sind unteilbar.

Wir Deutschen befinden uns in einem sol­chen Zustand der Macht- und Hilflosigkeit, daß wir ohne fremde Hilfe nicht mehr empor­kommen können. Diese Ohnmacht zehrt an unserem Mark. Wir sind im politischen Ge­schehen nur noch lästige Objekte, nicht mehr freie Subjekte, und stehen überall am Ende der Schlange. Dennoch oder gerade deswegen horchen wir angstvoll, was über uns beschlos­sen wird und freuen uns über jeden noch so kleinen Fortschritt in der Richtung eines ehrlichen Friedens, der ja auch uns einmal zugutekommen muß. Wir registrieren mit Freuden jede wirtschaftliche Besserung bei unseren Nachbarn, weil wir wissen, daß es uns erst besser gehen wird, wenn es den an­deren besser geht. Unser Schicksal hängt von dem allgemeinen Schicksal ab. Niederlage und Not haben uns endlich doch gelehrt, europäisch zu denken und als Weltbürger zu fühlen.

Menschen aber, die hungern, frieren und verzweifeln, sind unfähig zu hoffen und mit Freude an ihre Arbeit zu gehen. Friede, Freude, Humanität und Demokratie finden eine Heimat nur in der Seele von Menschen, die den primitivsten und elementarsten Sor­gen des Lebens enthoben sind. Man sieht mehr und mehr ein, daß der wirklichen und aufrichtigen Demokratisierung des deutschen Volkes normale Wirtschaftsverhältnisse und ein, wenn auch bescheidenes Existenzmini­

mum förderlicher und dienlicher sind, als eine schematische und kleinliche politische Säuberung. Wen der Hunger quält und der Frost peinigt, der steht politischen Maßnah­men und insbesondere der politischen Er­ziehung gleichgültig und apathisch, oft direkt feindlich gegenüber. Er verfällt der Radi­kalisierung.

Auf die Dauer kann der Mensch guten Willen nur aufbringen, wenn er auf ein Echo stößt. Dieses Echo ist da und wird immer anhaltender. Daß das Echo des Krieges da und dort noch stärker ist als das Echo auf unseren guten Willen, wird niemand wun­dern. Je grausamer das Kriegsgeschehen ein Land traf, desto lauter dort der Ruf nach Strafe und Gerechtigkeit. Dem guten Willen auf der anderen Seite fehlt wohl auch viel­fach die Kenntnis unserer tatsächlichen Lage. Das ist verständlich, weil die Siegervölker die deutschen Verhältnisse unter dem Ge­sichtswinkel ihrer eigenen unmittelbaren und nächstliegenden Sofortinteressen sehen müs­sen.

Niederlage und Not haben uns zu Bettlern gemacht, die auf Almosen angewiesen sind. Wir wolllen arbeiten und produzieren. Die dringendste Hilfe, die wir brauchen, ist dar­um die Selbsthilfe. Dazu muß man uns wie­der auf eigene Füße stellen. Es ist selbstver­ständlich, daß wir an der raschen Behebung unserer Not unmittelbarer interessiert sind, als es andere Völker sein können. Unserem Wollen, zu leben, zu arbeiten und zu produ­zieren, stehen noch Hindernisse im Wege. Es unterliegt keinem Zweifel, daß unsere Pro­duktion bisher nicht steigt, sondern sinkt. Es fehlt an Maschinen, an Rohstoffen, Koh­len und Transportmitteln, es fehlt auch an Arbeitskräften. Der Mangel an Arbeitskräf­ten könnte behoben werden, wenn sie einen Lohn erhielten, der höher wäre als das Exi­stenzminimum, das sie sich ohne Arbeit sichern können. Die Frage des Reallohns ist so das dringendste Problem geworden. So­lange der Arbeiter für seine harte Arbeit und für seinen persönlichen und sachlichen Verbrauch während der Arbeit nicht einmal kaufen kann, was er zur Arbeit selbst braucht, kann man nicht erwarten, daß die Arbeitsfreudigkeit zunimmt. Wenn die Wirt­schaftsverwaltung den allerdringendsten Be­darf an Kleidung und Schuhen befriedigen kann, Wenn die Lebensmittelrationen erhöht und durchgehalten werden können, darf man überzeugt sein, daß die Arbeitswilligkeit bald quantitativ und qualitativ steigen wird und damit neue Möglichkeiten entstehen werden, den Lebensstandard zu erhöhen. Die Hebung der Arbeitsmoral und Arbeitsfreudigkeit wird zahllose günstige Wirkungen und Begleit­erscheinungen haben: rationelleres Arbeiten, größere Produktion, mehr Rentabilität, weni­ger Diebstähle, höheres Steueraufkommen, Zurückdrängung des Schwarzen Marktes. Di» Wirtschaftsverwaltung soll und darf ihr» Aufgabe daher nicht darin sehen, Polizisten zur Ueberwachung von Menschen und Be­trieben auszubilden, sondern sie muß de» Initiative und dem guten Willen eine Chane» geben. Dr. Franz Mußler.