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Donnerstag, den 4.Juni 1931
Jahrgang 104
Nr. 127
Die neue Notverordnung verabschiedet
Einschneidende Maßnahmen aus dem Gebiet der Finanz- Sozial- und Wirtschaftspolitik
TU. Berlin, 4. Juni. Das Retchskabinett schloß am Mttt- wochnachmittag seine Beratungen Wer die neuen Notverordnungen ab. Im Anschluß hieran begab sich der Reichskanzler Dr. Brüning zum Reichspräsidenten und hielt ihm einen längeren Bortraa über die geplanten Maßnahmen und die diesbezüglichen Beratungen des Rcichskabinetts. Der Reichspräsident wird nunmehr voraussichtlich am Freitag dieser Woche die Notverordnungen unterzeichnen, die dann frühestens am Samstag veröffentlicht werden dürsten.
Die neue Notverordnung wird etwa zivei Dutzend Einzelgesetze enthalten und gleichzeitig mit einer eingehenden Erklärung der Reichsregierung veröffentlicht werden, in der diese an den Opferdienst des deutschen Volkes appelliert, gleichzeitig aber auch die Versicherung ausspricht, daß die Reichsregierung die Revision der Tributlaste n in Angriff zu nehmen entschlossen sei.
Dem Inhalte nach wird die Notverordnung 5 Gruppen von Fragen umfassen: 1. Ersparnismaßnahmen, 2. neue Steuern, 8. Maßnahme» zur Sanierung der Arbeitslosenversicherung und der sonstigen Sozialversicherungen, 4. Maßnahmen zur Besserung des Arbeitsmarktes, 6. neue Mittel für die Länder.
Die Einsparungen am Reichshaushalt sollen etwa 220—230 Millionen Mark erbringen. Sie setzen sich zusammen aus Abstrichen bei den Sachausgaben, u. a. mit SO Millionen beim Reichsivehrhaushalt, ferner 60 Millionen durch den Fortfall der Rückzahlung von Lohnsteuern bei eintretender Arbeitslosigkeit, verschiedenen anderen kleineren Einsparungen, sowie endlich den Gehaltskürzungen bei den Beamten. Die Gehälter der Beamten werden um 4 bis 8 Prozent gekürzt. Weiter soll die Kinderrate für das erste Kind herabgesetzt werden. Auch die Renten der Kriegsbeschädigten werden um 4 Prozent gekürzt.
Die Steuererhöhungen sollen rund 700 Millionen erbringen. Hiervon entfallen auf die Erhöhung der Zucker st euer etwa 110 Millionen, Mineralölzölke etwa 78 Millionen, Tabaksteuer etwa 13 Millionen. Den größten Betrag soll die neu eingeführte Krisensteuer mit 440 Millionen erbringen. Sie soll nach zwei verschiedenen Steucrtarifen erhoben werden, und zwar a) als Krisenlohnsteuer von den Lohn- und Gehaltsempfängern (ohne Beamte) und b) als Kris enst euer der Veranlagten von den veranlagten Einkommens- > steuerpflichtigen. Die Kriscnlohnstcuer beträgt bei Monatseinkommen bis 300 Mark 1 Prozent, bet Monatseinkommen bis 700 Mark 1,5 Prozent, bei Monatseinkommen bis 1000 Mark 3,5 Prozent, bei Monatseinkommen bis 1600 Mark 4 Prozent, bei Monatseinkommen bis 3000 Mark 4,6 Prozent, bei Monatseinkommen über 3000 Mark 5 Prozent. Die Krisensteuer der Veranlagten soll betragen bis 8000 Mark Jahreseinkommen 1 Prozent, bis 20 000 Mark 1,5 Prozent, bis 100 000 Mark 2 Prozent, bis 250 000 Mark 2,5 Prozent, bis MOOOOMark 3 Prozent, bis 1 Million Mark LF Prozent, über 1 Million 4 Prozent.
Die Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitslosenversicherung sehen keine Beitragserhöhungen vor. Man will vielmehr die Sanierung öurch innere Reformen erzielen, die Einsparungen im Betrage von etwa 300 Mill. NM. ergeben. So sind u. a. vorgesehen eine Verlängerung der Wartezeit, besondere Maßnahmen hinsichtlich -er landwirtschaftlichen Saisonarbeiter und anderes mehr. Sämtliche Leistungen aus der Versicherung werden um 5 Prozent gekürzt. Die Trennung von Krisenfürsorge und Wohlsahrtssürsorge bleibt vorderhand bestehen. Allem Anschein nach soll bei der Krisenfürsorge jedoch in Zukunft der Bedürftigkeits nach weis erbracht werden, da erwiesenermaßen ein großer Prozentsatz Fürsorgebcrech- tigtcr keinen Antrag ans Unterstützung stellt, sondern die Mitteilungen der Aemter abwartet. In den übrigen Sozialversicherungen werden Reformen nur in geringem Umfange erfolgen. Bei der Unfallversicherung sollen die kleineren Renten in stärkerem Umfange gänzlich verschwinden.
Die Maßnahmen zur Ankurbelung des Arbeitsmarktes bestehen in der Schaffung eines Ankurbelungs- fonds für die Wirtschaft aus den übcrschießenden Beträgen sowie in der Ermächtigung zurKürzung derArbeitszeit. Das Retchskabinett erhält die Ermächtigung, die gesetzliche Arbeitszeit in besonderen Fällen aus dem Verordnungswege für bestimmte Wirtschaftszweige auf 40 Stunden wöchentlich zu verkürzen. Die Ersparnisse und die Mehrerträgnisse der indirekten Steuern sollen für die Deckung des Etatdefiztts verwandt werden. Für die Deckung eines etwaigen Restbefizits und des Restdefizits bei der Arbeitslosenversicherung sowie für den sonstigen Bedarf bei der Krisenfürsorge wird in erster Linie das Aufkommen aus der Krisensteuer sowie der etwaige Mehrertrag aus der monat- licheu Erhebung der Umsatzsteuer verwandt.
Die Kürzungen der Veamtengehälter in den Ländern und Gemeinden fließen den Ländern und Gemeinden zu, die des weiteren auch die Mittel aus der bisherigen Rückerstattung der Lohnsteuer erhalten. Ferner erhalten Länder nnd Gemeinden Mittel aus dem Ausgleichsfond bei der Hauszinssteuer, der etiva 110 Mill. enthält, so daß Länder und Gemeinden rund 400 Mill. NM. erhalten.
Einzelheiten aus dem Inhalt der Notverordnung Der Berliner „Lokalanzeiger" bringt aus dem Inhalt der Notverordnung folgende Einzelheiten: Darnach soll die Kind erzu läge für das erste Beamtepkind auf die Hälfte ermäßigt werden, was eine Ersparnis von 28 Mill. Reichsmark einbringen dürfte. Dagegen sollen die Zulagen bei Familien mit über 4 Kindern erhöht werden. Die Umsatz st e u e r soll in Zukunft nicht mehr wie bisher vierteljährlich, sondern monatlich eingezogen werden, was 80 Mill. einbringen dürfte. Bei der Arbeitslosenversicherung sollen die Landarbeiter und Jugendlichen bis 21 Jahre ausgeschiedcn und arbeitslose Ehefrauen der Veöürf- tigkcitsprüfung unterzogen werden. Auch sonst soll namentlich in der Krisenfürsorge die Bedürftigkeitsprü- sung erheblich verschärft und im übrigen eine allgemeine Kürzung aller Leistungen um 6 v. H. eingeführt werden. — Das „Berliner Tageblatt" bringt Einzelheiten über die in der Notverordnung vorgesehenen Aenderungen im Versorgungsrccht der K r i eg s o p f e r. Die geltenden Ortszulagen sollen vermindert werden. Bet der Zusatzrente soll eine recht erhebliche Einschränkung des Personenkreises vorgenommen werden. Die Einkommensgrenzen, die für die Bewilligung der halben Zusatzrente bisher maßgebend ivaren, sollen beseitigt und die bestehenden Grenzen für die volle Zufatzrente niedriger gestaffelr sein. Im Rahmen -er formell nicht zur Notverordnung gehörenden Ersparnisse im ReichsZaushalt sollen Leichtbeschädigte und Kriegerwikwen unter 46 Jahren keine Zusatzrente mehr erhalten. Die Zu- satzrentcn der Schwerkriegsbeschädigten sollen gleichfalls neu gestaltet werden.
Reichskanzler «nd Außenminister nach Chequers avgereist.
Reichskanzler Brüning und Außenminister Dr. Cur - tius haben am Mittwoch abend vom Lehrter Bahnhof aus die Reise nach England angetreten. Sie werden begleitet von Oberregicrungsrat Dr. Planck von der Reichskanzlei und von den Lcgationsxäten von Plessen und Dr. Schmidt vom Auswärtigen Amt.
TU. Duisburg-Hamborn, 4. Juni. Im Anschluß an einen Prozeß gegen kommunistische Erwerbslose, die bet Unruhen in das Rathaus gestürmt waren und zu erheblichen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, kam es in den Straßen Hamborns zu ernsten Unruhen. In der Schillerstrabe bauten Demonstranten aus Tonnen der Müllabfuhr und Pflastersteinen Barrikaden, hinter denen sie die Polizei mit Hohngcschret, Pfeifen und Steinwürfen empfingen. Es fielen auch mehrere Schüsse. Nur mit Mühe konnten die Hindernisse entfernt und die Straße von den Demonstranten gesäubert werden. Da auch in den Nebenstraßen Schüsse fielen, mußte die Polizei schließlich das ganze Viertel säubern. Hierbei wurden von seiten der Polizei mehrmals Schreckschüsse abgegeben. Insgesamt sind bis gegen Abend 80 Personen scstgenvmmen worden. Bis jetzt haben die Tumulte vier Verletzte gefordert. Wieder sind es Unbeteiligte. Eine Frau und ein Mädchen erlitten schwere Kopfschüsse. Zwei Männer wurden ebenfalls durch Schüsse erheblich verletzt. Die Polizei ist Herr der Lage.
Wie das Polizeipräsidium Bochum mittetlt, kam es in Wanne-Eikelzu Zusammenstößen. Polizeibeamte wurden mit Steinen beworfen. Aus den Reihen der Demonstranten fielen mehrere Schüsse. Nach Abgabe von Schreckschüssen zerstreute sich die Menge. Bisher wurden 9 Verletzte festgestellt. Die Polizei nahm 6 Personen fest. — In Essen kam es in den späten Abendstunden des Mittwoch in der Altendorfer Straße zu Ansammlungen. Die Menge warf einen Gerätewagen der Feuerwehr quer über die Straße, um dem Ueberfallkommando den Weg zu versperren. Gegen die Polizeibeamten und Feuerwehrleute wurden Steine geschleudert. Die Polizei, die sofort eingriff, konnte überall die Ruhe wieder Herstellen.
An verschiedenen Stellen Berlins kam eS Mittwoch mittag zu Plünderungen von Lebensmittelgeschäften. In eine Butterverkaufssiliale der Firma Nordstern in der Prin- zen-Allee drangen etwa 12 junge Leute ein, rissen für 200 Mark Lebensmittel an sich und verschwanden damit. Das
Tages-Spiegel
Die Reichsrcgierung hat gestern die nene Notverordnung verabschiedet «nd dem Reichspräsidenten znr Unterzeichnung zngestellt.
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Durch die nene Rotverordnnng erfolge« einschneidend« Maßnahme« auf dem Gebiet der Finanz-, Sozial- «nd Wirtschaftspolitik, die die Grenze des Erträglichen erreiche«. Die erhoffte Entlastung für Länder «nd Gemeinde» bringt sie nicht.
Reichskanzler Brüning «nd Außenminister Curtins find gestern abend nach England abgercift. Sie treffe» voraussichtlich am Mittwoch nachmittag wieder in Berlin ein.
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Ruf einer Tagung -er westdeutschen Wirtschaftsverbände wurde eine entschiedene Abkehr von der seitherige« Reparationspolitik gefordert.
Der frühere Reichsbankprästdcnt Dr. Schacht hat sich ans de« Tagung des Arbeitsausschusses Dentscher Verbände erneut für die Einstellung -er Tribntzahluuge« ans» gesprochen.
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Ein französisches Mariueflngzeuggeschwader hat gestern die befestigten deutschen Nordfeeinseln Borkum und Norderney überflogen. In -er Pfalz mutzte wieder«« ein französisches Militärflugzeug landen.
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I« den Städte« des Rnhrgcbiets kam es gestern z« schwere» Straßenkrawallen. I« Berlin wnrde« mehrere Lebens» mittelgeschäste geplündert.
Die Minister werden sich heute vormittag an Bord der „Hamburg" nach Southampton einschiffen, wo sie morgen um 12 Uhr eintreffen werden. Die Ankunft in London erfolgt morgen nachmittag um 16 Uhr. In London nehmen die Deutschen abends an einem Essen im Foreign Office teil. Am Samstag vormittag findet ein Empfang der deutschen Kolonie in London statt. Am Samstag mittag reisen die Minister nach Chequers ab. Der Reichskanzler und Reichsaußenminister werben am Sonntag nach London zurückkehren, wo sie am Abend die deutschen und englischen Pressevertreter empfangen werden. Am Montag mittag findet eine Audienz beim König statt. Mittwoch nachmittag treffen die Minister wieder in Berlin ein.
herbeigerufene Ueberfallkommando konnte nur einen der Täter festnehmen. Eine ebenfalls aus etwa 12 Mann bestehende Bande raubte in einem Geschäft in der Ostender Straße größere Mengen Wurst und andere Lebensmittel. Eine sechsköpfige Bande schließlich entwendete in einem Geschäft in der Neuen Fricdrichstraße Fett, Würste und andere Lebensmittel. In den beiden letzten Fällen konnte niemand festgenommen werden. Alle drei Ueberfälle ereigneten sich innerhalb einer Stunde.
Vor Beginn der Mittwochsttzung der Stadtverordnetenversammlung versuchten zahlreiche Erwerbslose zum Rathause zu gelangen, wobei es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Im Verlauf der Krawalle wurden von fliegenden Kolonnen auf Fahrrädern in der Königstraße und in der Alexanderstratze fünf große Schaufensterscheiben verschiedener Geschäfte zertrümmert.
Französische Luftspionage
TU. Emde«, 4. Juni. Am Mittwochvormittag wurden über den Nordfceinseln Borkum und Norderney 3 französische Marineslugbootdoppeldecker gesichtet. Nach einer Meldung der auf Borkum stationierten Marinenachrichtenstelle wurde das Ueberfliegen der Inseln durch einen Wachtposten in den Dünen gemeldet, der die französische Kokarde auf den Tragflächen der Flugboote erkannt hat. Das Geschwader setzte seinen Weiterflug in südwestlicher Richtung fort. Die Inseln Borkum und Norderney sind befestigt.
Anscheinend handelt es sich bei dem Flug deS französischen Marinefluggeschwaders um eine planmäßige Erkundung deutscher militärischer Küstenanlagen.
Wieder ei« franzöfisches Militärflugzeug in der Pfalz gelandet
TU. Kaiserslautern, 4. Juni. Am Mittwochmittag ging in der Nähe von Enkenbach auf freiem Feld ein französisches Militärflugzeug nieder. Die Gendarmerie von Enkenbach nahm die beiden Insassen, einen Sergeanten und einen Unteroffizier, fest, die nach Kaiserslautern überführt wurden,
Ernste Straßenunruhen im Ruhrgebiet
Barrikadenkämpfe in Hamborn — Lebensmittelgeschäfte in Berlin geplündert