Seite 2
Politik
Freitag, 3. Januar 1969
Die arme Insel
(Fortsetzung von Seite 1)
se seinen Widerstand gegen den Beitritt Großbritanniens in die EWG mindere, sind noch zu wenig deutlich, als daß sie wirkliche Hoffnung brächten. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß Paris seine Absichten vor allem aus der Überzeugung nährt, daß das britische Pfund in Wahrheit kränker sei als der Franc und man sich allmählich beeilen müsse, die wirtschaftliche Hege- monialgefahr der Deutschen gemeinsam abzuwehren. Diese Begründung sieht auch nicht eben nach Zukunftschancen aus, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.
Die Engländer sind gewissen Kritiken an ihrer Politik mit Härte und Verbitterung entgegengetreten. Das Verhältnis zu Deutschland hat dabei ein wenig gelitten. Aber die Briten sind im letzten nüchterne Leute. Und sie sind dabei, ihre eigenen Fehler sorgsamer als bisher zu analysieren. „Der Regierung haftet der Geruch von Weimar an“, schrieb die Times. Man weiß also, wohin es gehen kann. Die Öffentlichkeit ist hellwach. Was England brauchte, wäre eine Potenz vom Schlage Wilsons, die Wilsons Fehler gutmachte. Woher einen solchen Wilson nehmen?
Müller ohne Gegenkandidat?
Stuttgart (dpa). Mit ihrem Landesparteitag am Sonntag und ihrem Dreikönigstreffen am Montag werden die südwestdeutschen Liberalen am kommenden Wochenende in Stuttgart nach nunmehr hundertjähriger Tradition den ersten politischen Akzent im neuen Jahr setzen. Der FDP-Bundesvor- sitzende und Bundestagsvizepräsident Walter Scheel will in einer öffentlichen Kundgebung am Dreikönigstag auch den Bundestagswahlkampf der Liberalen eröffnen. Für die FDP/DVP Baden-Württembergs gilt es, einen neuen Landesvorstand zu wählen. Bisher scheint es für den jetzigen Landesvorsitzenden und früheren Finanzminister Dr. Hermann Müller keinen Gegenkandidaten zu geben.
SDS-Aktion ohne Erfolg
Frankfurt (AP). Angehörige des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und eine Gruppe von Wehrdienstverweigerern haben gestern in Frankfurt vergeblich versucht, auf etwa 2000 Rekruten einzuwirken, die mit fünf Reisezügen zur Abfahrt in ihre Standorte bereitstanden. Einheiten der Frankfurter Polizei, Bahnpolizisten und Feldjäger der Bundeswehr riegelten die Bahnsteige ab, auf denen die Züge abgefertigt wurden. Dennoch gelang es Unbekannten, einen der fünf Züge durch Ziehen der Notbremse am Abfahren zu hindern. Die Demonstranten versuchten, mit Knallfröschen und anderen Feuerwerkskörpem die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Rekruten zeigten jedoch nur geringes Interesse für Diskussionen und lehnten auch Flugblätter ab, auf denen die Wehrpflichtigen zur Wehrdienstverweigerung auf gerufen wurden.
Die am Donnerstag unter verbreiteten und heftigen Schnee- und Regenfällen aus Nordwesten eingeflossene mildere Meeresluft bleibt zunächst wetterbestimmend. Erst im weiteren Verlauf kann am Ostrand des ortsfesten Hochs bei Irland wieder frischere Polarluft nachstoßen.
Freitag überwiegend stark bewölkt bis bedeckt. Stellenweise noch geringer Niederschlag, meist als Regen oder Sprühregen. Milder als seither. Tageshöchsttemperaturen in den Nierungen bis fünf Grad. Auch in den Hochlagen vorübergehend leichtes Tauwetter. Schwacher bis mäßiger Wind aus West bis Nordwest. Nachts in den Niederungen frostfrei. Auch am Samstag noch ziemlich mild und bei wechselnder Bewölkung nur geringe Niederschlagsneigung. (Mitgeteilt vom Wetteramt Stuttgart.)
Die FDP will den Verkehr mit der DDR normalisieren
Entwurf eines „Generalvertrags“ wird beraten
Von unserer Bonner Redaktion
Bonn. Die FDP will spätestens im Februar den Entwurf für einen „Generalvertrag“ vorlegen, den die Regierungen in Bonn und Ostberlin nach einer Volksabstimmung in beiden Teilen Deutschlands abschließen sollen. Der FDP-Entwurf, über den die Bundestagsfraktion der Freien Demokraten in den nächsten Wodien abschließend beraten will, sieht weder eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR noch einen Austausch von Botschaftern vor. Statt dessen sollen „ständige Beauftragte“ der beiden Regierungen ernannt werden, ln Bonn soll es einen Vertreter des SED-Regimes geben, in Ostberlin einen Vertreter der Bundesregierung.
Der „Generalvertrag“, der von führenden FDP-Politikern schon mehrmals angekündigt worden ist, stützt sich weitgehend auf einen Entwurf des Berliner Landesverbandes. Bisher sind die Vorstellungen des Berliner Papiers in ihren Grundzügen weder bei der Parteiführung noch bei der Bundestagsfraktion auf größere Kritik gestoßen. In politischen Kreisen nimmt man daher an, daß die sechs Artikel des Berliner Vertragsentwurfs kaum noch verändert werden.
In der „vertraglichen Übergangsregelung für die Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen“ — so ist das Berliner Papier überschrieben — würden sich beide Seiten verpflichten, die Wiedervereinigung niemals mit gewaltsamen Mitteln anzustreben. Auch die Androhung von Gewalt soll untersagt sein. Mit dem „Ziel der Herbeiführung eines geregelten friedlichen Nebeneinanders“ werden in dem Vertrag Vereinbarungen zum Beispiel auf den Gebieten Wirtschaft, Post, Verkehr, Handel und Kultur empfohlen. Einzelheiten sollen Verhandlungen zwischen
den beiderseitigen Beauftragten überlassen bleiben.
Besondere Schwierigkeiten bereitet bei der Abfassung eines derartigen Vertrags zwischen Bonn und Ostberlin offenbar die Stellung Westberlins, da hierüber keine Übereinstimmung besteht. Während das SED-Regime darauf besteht, Westberlin müsse eine „besondere politische Einheit“,
völlig losgelöst von der Bundesrepublik, bilden, wird in Bonn und Westberlin die Zugehörigkeit des Landes Berlin zur Bundesrepublik betont. Die Verfasser des FDP-Ent- wurfs wollen diese Kluft überbrücken, indem sie davon ausgehen, daß die drei Westmächte auch nach dem Abschluß des Vertrags in Westberlin die „oberste Gewalt“ innehaben würden. Nach dem Vertrag sollen aber beide Seiten „die reale Lage, wie sie sich nach dem Kriege entwickelt hat“, respektieren, und Ostberlin soll damit auch anerkennen, daß Westberlin zum Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem der Bundesrepublik gehört.
Im einzelnen wird der FDP-Entwurf noch folgende Punkte enthalten:
1. Alle Häftlinge, deren „Taten“ mit der Teilung Deutschlands Zusammenhängen, sollen freigelassen werden.
2. Die Bevölkerung beider Teilstaaten soll Besuchsreisen in das Gebiet der anderen Seite mindestens zu den gleichen Bedingungen unternehmen können, die für Reisen in das ihr benachbarte Ausland gelten.
3. Ausländische Staaten sollen nach Möglichkeit, wenn sie bisher nur zu einem deutschen Staat diplomatische Beziehungen unterhalten, den anderen aber auch anerkennen wollen, nur mit einem einzigen Botschafter in Bonn und Ostberlin vertreten sein.
Keine Einigung über Linienführung
Bonn dementiert einen Bericht der National- und Soldaten-Zeitung
Bonn (dpa). Das Auswärtige Amt hat gestern einen Zeitungsbericht dementiert, nach dem die deutsche Seite bei den Verhandlungen über eine direkte Fluglinie Frankfurt — Moskau sowohl für die Lufthansa wie für die Aeroflot die Streckenführung über den Ostberliner Flughafen Schönefeld zugesagt haben soll. Ein Sprecher des Auswärtigen
Brandts Ziele der Außenpolitik
Der Außenminister will die deutschen Positionen stärken
Bonn (AP). Die politische Position der Bundesrepublik auf internationaler Ebene soll nach dem Willen von Bundesaußenminister Willy Brandt (SPD) in diesem Jahr gestärkt werden. Als drei wesentliche Aufgaben der deutschen Außenpolitik nannte Brandt: 1. Zur Sicherung und Festigung des Friedens beizutragen. 2. Die deutschen Interessen als Industriestaat und Handelsmacht von Rang fest zu vertreten und 3. Die Stellung der Bundesrepublik als Kulturnation und als Partner des kulturellen Austausches auszubauen.
Wie Brandt in seiner im „Bonner Alma- nach“ veröffentlichten Betrachtung zur Außenpolitik ferner betonte, hat die Bundesregierung ihre Möglichkeiten überprüft,
die Positionen geklärt und ihre Interessen formuliert.
In der Europa-Politik bedarf es nach Ansicht Brandts der Selbständigkeit und Unbefangenheit. Das deutsch-französische Verhältnis behalte seine große Bedeutung auch in Zeiten, in denen die Auffassungen beider Regierungen in manchen Fragen nicht übereinstimmten. Zur Frage der Ostbeziehungen meinte Brandt, daß die „aktive Friedenspolitik“ der Koalitionsregierung gegenüber dem kommunistisch regierten Osten durch die Vorgänge um die Tschechoslowakei einen Rückschlag erfahren habe. Ausblickend auf 1969 betonte Brandt, daß die Bundesregierung dabei sei, ihre Rolle und ihre Interessen in der weltweiten Zusammenarbeit klarer zu definieren.
Rohstoffversorgung gefährdet?
Burgbacher sieht Gefahr durch Sowjet-Anwesenheit im Mittelmeer
Bonn (dpa). Die Versorgung mit Rohstoffen, Energie und Nahrungsmitteln in Westeuropa sieht der CDU-Bundestagsabgeord- nete Prof. Dr. Fritz Burgbacher durch die militärische Anwesenheit Moskaus im Mittelmeerraum gefährdet. In der „politisch-sozialen Korrespondenz“, die der CDU nahesteht, forderte der Kölner Wirtschaftsprofessor Sicherungsmaßnahmen. Er schrieb: „Diese Vorsorgepolitik ist um so notwendiger, als sich die militärische Macht der Sowjetunion im Mittelmeerraum erweitert hat, so daß dadurch eine Gefährdung der Zufahrtswege von Afrika, vom Vorderen Orient und von Asien nach Westeuropa immer größer wird.“
Burgbacher glaubt, daß im Jahre 1969 mit großer Wahrscheinlichkeit eine internatio
nale Währungskonferenz zusammentreten müsse, „um in solidarer Gesinnung sicherzustellen, welche Beiträge jedes Land zur Stabilität der Währungen zu leisten bereit ist“. Dabei würde eine Golddeckung das Problem nicht lösen können, meinte er, weil das Gold mit der Aufgabe der wirtschaftlichen Autarkie und seit dem Übergang zum freien Welthandel seine frühere Währungsdeckungsfunktion verloren habe.
Gegen eine große internationale Währungskonferenz in diesem Jahr hatten sich in den letzten Tagen Bundeswirtschaftsminister Schiller und Bundesbankpräsident Blessing ausgesprochen. Eine Stärkung der Funktion des Goldes im internationalen Währungssystem ist in den letzten Monaten nur von Frankreich befürwortet worden.
Amtes erklärte auf Anfrage, an der Behauptung der „Deutschen Nationalzeitung und Soldatenzeitung“, daß „der sowjetischen Verhandlungsdelegation im ausdrücklichen Einverständnis und auf Wunsch von Bundesaußenminister Brandt“ eine derartige verbinc/iche Zusage gemacht worden sei. „ist kein wahres Wort“.
Die erste Runde der deutsch-sowjetischen Verhandlungen war am 17. Dezember vertagt worden, ohne daß feste Absprachen über Ort und Zeit für die Fortsetzung der Gespräche getroffen wurden. Die Moskauer Abordnung hatte den Entwurf eines Luft- verkehrsabkommens vorgelegt, in dem jedoch nach deutscher Ansicht einzelne Artikel noch der Abstimmung bedürfen. Als Hauptproblem der Gespräche gilt die Streckenführung: Während die deutsche Seite für die Route Frankfurt — Eger — Moskau eingetreten war, wünschen die Sowjets dem Vernehmen nach die Linienführung Frankfurt — Ostberlin — Moskau.
Deutsche Mao-KP
Hamburg (AP). Die Bundesrepublik verfügt seit Silvester über zwei kommunistische Parteien. Wie gestern in Hamburg mitgeteilt wurde, hat sich am letzten Tag des Jahres 1968 (dem 50. Jahrestag der Gründung der alten KPD) die „Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ ML)“ in Hamburg konstituiert.
Im Gegensatz zu der im Herbst vergangenen Jahres gegründeten DKP gehört die neue KPD/ML zu den 26 Mao-Parteien in der Welt, die nach einem bereits im November verbreiteten Programm als Mao-KP den „räuberischen US-Imperialismus als Hauptfeind aller Völker“ bekämpfen will. An der Gründungsversammlung nahmen nach Angaben der neuen Partei Delegierte aus „allen Teilen Deutschlands“ teil.
Kurz gestreift
11 275 Übersiedler, vor allem aus Ost- und Südost-Europa, haben 1968 das Grenzdurchgangslager Friedland passiert.
Bundesaußenminister Brandt unternimmt die erste große Auslandsreise im neuen Jahr nach Asien; er wird am 19. Januar zuerst nach Pakistan fliegen, anschließend Indonesien, Singapur, Malaysia und Indien besuchen.
Irische Nationalisten haben in TommebriSge in Nordirland ein Denkmal gesprengt.
Der Schah von Persien ist in Begleitung von Kaiserin Farah zu einem zehntägigen Staatsbesuch in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi eingetroffen.
Das Wahljahr ist da
Das Wahljahr ist da. Fair sein heißt die Parole, fair und sachlich. Eine Parole, die sich von selber versteht — noch dazu zwischen Partnern, die seit Ende 1966 gemeinsam in der Bonner Regierungsverantwortung sitzen. Doch es hieße die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, wollte man nicht sehen, daß zumindest aus der zeitlichen Begrenzung des Wahlkampfes nichts werden kann. Er hat ja schon begonnen.
Wie war doch Wehners Weihnachtswunsch etwa: In Bonn müssen wir Sozialdemokraten am Drücker sein, damit die Dinge nicht wieder in Unordnung kommen, sondern in bessere Ordnung. Die innerpolitischen CDU-At- tacken seit dem Berliner Parteitag, der immer wieder betonte Wille, die absolute Mehrheit zu gewinnen — was ist das anderes als der Anfang des Kampfes um den neuen Bundestag? Und wenn schließlich Sprecher der FDP der Großen Koalition pauschal bescheinigen, im Grunde genommen versagt zu haben, so hat das weniger mit Opposition als vielmehr mit Wahlkampf zu tun. Anders ist es kaum zu erklären, daß die Opposition in letzter Zeit mit einer geradezu traumwandlerischen Automatik fast alles ablehnt, was die andern beiden Parteien vertreten.
Sind wir aber schon auf der schiefen Bahn? Nein. Eine Demokratie ist kein Sanatorium zur Schonung der Nerven. Im Gegenteil: Kampf ist ihr Lebenselement, das Ringen mit Argumenten, Plänen und Programmen um die Stimmen der Bürger macht den Unterschied aus zwischen demokratischen Staaten und Diktaturen. Es muß heiß hergehen in diesem Ringen, soll es den Kern der Dinge treffen und nicht nur an der Oberfläche plätschern. Es ist, genau besehen, ein immerwährender Kampf. Entgleisungen kommen zwangsläufig vor, sie werden geahndet nicht vom Schiedsrichter, sondern von seiner Majestät dem Wähler. Die Quittungen für den Stil des Kampfes und die Qualität der Argumente liegen in den Stimmzettel-Urnen.
Nixons Mann bei den UN
Sargent Shriver, der bisherige US-Bot- schafter in Paris, hat das Angebot Nixons angenommen und wird Chefdelegierter der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen. Damit hat das Rätselraten um Nixons Einstellung zu dieser Weltorganisation ein Ende gefunden und damit wurde auch die weitverbreitete Ansicht widerlegt, der neugewählte Präsident der Vereinigten Staaten habe für die UN nicht viel übrig. Es ist eine Tatsache, daß Nixon in keiner seiner Wahlkampfreden diese Organisation auch nur mit einem Wort erwähnt hat. Er hatte außer zwei weit zurückliegenden unpolitischen Besuchen bei den Vereinten Nationen keinerlei Kontakt zu diesen, wogegen andere amerikanische Politiker und Generalsekretär U Thant immer wieder gute Kontakte miteinander hatten.
Daß Nixon nicht UN-unfreundlich eingestellt ist; merkte man erst, als er 1 nach seiner Wahl auf die Suche nach einem geeigneten Nachfolger für den ausscheidenden UN-Chefdelegierten Arthur Goldberg ging. Er hatte zunächst wenig Glück: Hubert Humphrey, sein unterlegener Gegenkandidat und einer der UN-freundlichsten der amerikanischen Politiker, winkte ab, als ihm das Amt angeboten wurde. Nelson Rockefeller, Nixons Gegner als Präsidentschaftskandidat auf dem republikanischen Parteikonvent, lehnte ebenfalls ab. Der dritte in Betracht gezogene Mann, William Scranton, gegenwärtig Nixons Sonderbotschafter für den Nahen Osten, schien damit gute Chancen zu haben, wenn ihn auch amerikanische Politiker nicht als die ausgesprochen starke Persönlichkeit ansehen.
Es war deshalb eine Überraschung, als Nixons Wahl auf Shriver fiel. Es dürfte aber eine gute Wahl gewesen sein. mi.
FEUILLETON:
Entlarvte Degenhelden
„Die drei Musketiere“ am Tübinger Landestheater uraufgeführt
Eine Uraufführung des Alexander-Du- mas-Stoffes „Die drei Musketiere“ brachte das Landestheater Württemberg-Hohenzol- lern am Silvesterabend in Tübingen heraus. Dramaturg Axel Plogstedt und Oberspielleiter Wolfgang Müller haben den Roman mit viel Distanz und Ironie für das Theater bearbeitet Das Ergebnis ist ein szenischer Bilderbogen, kokett und keß, voller Abenteuer und amourösen und rätselhaften Ereignissen. Aber es ist keine vordergründige Mantel- und Degen-Story. Die drei Musketiere werden in einen größeren Rahmen gestellt und so wird ihr Draufgängertum, ihr Ehrbegriff, ihre Fechtlust entlarvt. Sie sind eben nicht nur unpolitische Helden, sondern auch Dummköpfe und skrupellose Totschläger. Die Spannung zwischen funkelndem Witz und dunklem Hintergrund zeichnet das Stück aus und stellt es über ähnliche Dramatisierungsversuche.
Die Handlung ist obskur — aber ihr wird auch nicht viel Bedeutung zugemessen. Die Autoren wollten eben kein naives Musketierstück, sondern die Klischees, Vorurteile und den Idolcharakter der Degenhelden durchsichtig machen. Die Dialoge sind amüsant, die Szenen wirkungsvoll gebaut, kurz-
•iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiniiiiitiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiii
Nicht in Stimmung
Beethoven wurde in Gesellschaft oft aufgefordert, sich ans Klavier zu setzen. Er ärgerte sich darüber, vor allem dann, wenn er nicht in Stimmung war. Als man ihn bei einer privaten Festlichkeit wieder einmal bat, seine Kunst zu zeigen, setzte er sich mißmutig ans Klavier, schlug einen Akkord an, sprang auf und erklärte: „Das Instrument muß erst gestimmt werden!“ Dann zog er ein Etui mit den Utensilien eines Klavierstimmers aus der Tasche und begann Saite für Saite zu stimmen. Er wurde damit erst fertig, als sich die meisten Gäste schon verabschiedet hatten. Dann ging auch er, ohne einen Ton gespielt zu haben, nach Hause.
um ein Unterhaltungsstück mit Niveau, was in Deutschland relativ selten ist Die Inszenierung von Plogstedt und Ernst Seiltgen führte die Ansätze des Stücks konsequent weiter, benützte filmische Mittel wie Vorspann und Zeitlupe, um sich vom Schlachtengetümmel zu distanzieren. Die Fechtszenen waren meisterhaft. Man bangte geradezu um die guten Schauspieler, die das Landestheater derzeit hat und die dieser Aufführung Leben und Farbe gaben. (dpa)
Elisabeth Flickenschildt, eine der stärksten schauspielerischen Potenzen des deutschen Theaters, tritt seit dem Zerfall des Hamburger Gründgens-Ensembles selten mehr auf der Bühne auf. Jetzt spielt sie in der Inszenierung von Franz Peter Wirth an den Frankfurter Städtischen Bühnen in der Tragikomödie „Celestina“ von Fernando de Rojas die Titelrolle.
Frankfurt hat als Grundlage die sozialkritisch angespitzte Bearbeitung von Carlo Ter- ron gewählt, die vor zwei Jahren in Köln so viel Erfolg hatte. Bearbeitet werden muß die „Celestina“, die zwischen 1492 und 1499 entstanden und ein Grundmuster des europäischen Theaters ist. Voll ausgespielt würde dieses dramatische Monstrum mit seinen einundzwanzig Akten eine Spieldauer von über acht Stunden erfordern. In der Fassung von Axel Plogstedt und Ernst Seiltgen, die das Landestheater Württemberg-Hohenzol- lem im September in Tübingen herausbrachte, bleibt Celestina länger im Spiel. Elisabeth Flickenschildt hätte sich breiter und stärker entfalten können, wenn diese Fassung gewählt worden wäre.
Der Regisseur Franz Peter Wirth, unvergessener Avantgardist des Schauspiels in
„Theater an der Grenze "
In der Konstanzer Nachbarstadt, dem schweizerischen Kreuzlingen (Kanton Thurgau), wurde gestern eine neue Kleinbühne, das „Theater an der Grenze“, in unmittelbarer Grenznähe eröffnet. Eine ehemalige Scheune wurde zu einem Theaterraum umgebaut, der etwa fünfzig Besucher faßt. Träger des „Theaters an der Grenze“ ist ein Verein, dem derzeit rund 250 Mitglieder angehören. Die kleine Bühne begann mit einer Uraufführung von Edgar Allan Poe „Das ovale Porträt“. Das Stück wird in der Version von Frederik Ribell gezeigt und von diesem selbst inszeniert Ribell war mehrere Jahre am Stadttheater Konstanz tätig, (dpa)
den frühen fünfziger Jahren am Pforzhei- mer Stadttheater, der zum Beispiel als erster Arthur Adamov auf der deutschen Bühne inszenierte, heute ein bekannter Regisseur des Femsehspiels, hatte „Celestina“ merkwürdig abstrahiert und skelettiert. Dabei braucht doch gerade dieses Stüde, das davon handelt, wie eine Kuppelmutter einem jungen Liebespaar ungewollt den Tod bringt und daran selber stirbt, die saftige Fülle, die wehende Leidenschaft Wirth hatte sich von Peter Heyduck ein Bühnenbild bauen lassen, das aus nichts als einem Gestänge mit vielen Treppen und einigen Etagen bestand und häufig rotierte, so daß die Figuren schon deshalb darstellerisch gar nicht aufgebaut werden konnten. Ein Spielgerüst für Kafkas „Prozeß“ etwa, aber nicht für die sinnenhafte „Celestina“. Mit dem Bühnenbild begann also bereits das Mißverständnis dieser Aufführung.
Nach der Pause wurde es besser, setzte sich die Drastik der Raufhändel und der erotischen Szenen von sich aus durch. Susanne Barth und vor allem Jörg Bendict demonstrierten als Melibea und Calisto, die Heinz Kindermann in seiner „Theatergeschichte Europas“ das erste groß und leidenschaftlich gezeichnete Liebespaar des euro
päischen Theaters nennt, wieder einmal mehr, daß unsere jungen Schauspieler nur schwer das große Gefühl bringen können. Elisabeth Flickenschildt aber hat der Referent noch nie so blaß gesehen. Dabei hat er ihren Weg seit ihrer Zeit bei Otto Falcken- berg mit Anteilnahme und mit Bewunderung verfolgt. Hermann Dannecker
Sawallisch nach München
Generalmusikdirektor Wolfgang Sawallisch aus Hamburg wird im September 1971 das Amt des Generalmusikdirektors der Bayerischen Staatsoper übernehmen. Eine entsprechende Vereinbarung wurde jetzt zwischen Sawallisch, dem bayerischen Staatsintendanten Rennert und dem bayerischen Kultusminister Dr. Ludwig Huber in München getroffen. Wie vom bayerischen Kultusministerium mitgeteilt wurde, wird Sawallisch jedoch schon von jetzt an planend und beratend bis zum Zeitpunkt seiner Amtsübernahme an der Bayerischen Staatsoper tätig sein. Die Ernennung von Prof. Sawallisch zum Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper München wird sich nicht auf seine Arbeit als Chef des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg auswirken. Nach Angaben des Hamburger Senats hat der Präses der Kulturbehörde der Hansestadt, Senator Gerhard Kramer, dieser Regelung in einem Gespräch mit dem bayerischen Kultusminister, Dr. Ludwig Huber, zugestimmt. Auf Wunsch von Sawallisch werden seine Hamburger Verpflichtungen in den 1971 anlaufenden Münchner Vertrag mit einbezogen. (AP/dpa)
50 Jahre Forkel-Verlag
Der Forkel-Verlag in Stuttgart-Degerloch kann zum Jahresbeginn 1969 sein fünfzigjähriges Bestehen feiern. Im Auf und Ab eines halben Jahrhunderts ist es dem Unternehmen gelungen, sich einen festen Platz in der Reihe der Fachverlage zu sichern. Zu seinen Kunden zählen außer den Unternehmungen der Industrie, des Handels und des Handwerks auch die Wirtschaftsverbände, die Berater, die Industrie- und Handelskammern, die Gewerkschaften sowie die Dienststellen von Bund, Ländern und Gemeinden.
Unter dem in vielen Titeln immer wiederkehrenden Leitmotiv „Praxis“ entwickelte Julius Hans Forkel, der 1953 mit 61 Jahren starb, ein weitgespanntes Programm von Loseblattwerken („Blattei-Handbüchem“), Fachbüchern und Schriftenreihen. Neben das Steuer-, Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht als Hauptgebiete treten die Themenbereiche Rechnungswesen, Betriebsorganisation, maschinelle Datenverarbeitung, Marktforschung, Werbung, Vertrieb und Verkauf sowie Chefprobleme und Erfolgsmethoden.
Unbekanntes Werk Schuberts
Eine bisher unbekannte „Fantasie für Pianoforte“ von Franz Schubert wurde von Dr. Walter Dürr, Tübingen, in Graz entdeckt. Das Klavierstück, das sich im Nachlaß der Witwe des Professors Rudolf Weiß-Osborn befand, soll bald in der steirischen Hauptstadt urgespielt werden. (AR)
K ulturnachrichten
Die deutsche Bibliothek ln Frankfurt wird vom 1. Januar 1969 an als Bundesanstalt geführt. Die 1947 gegründete Bibliothek war seit 1952 eine Stiftung des öffentlichen Rechts, an welcher der Bund, das Land Hessen, die Stadt Frankfurt und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels beteiligt waren. ^
Die erste umfassende Biographie in englischer Sprache über den deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der kurz vor Ende des Krieges hingerichtet worden war, ist in London veröffentlicht worden. Das Buch mit dem Titel „The life ond death of Dietrich Bonhoeffer“ wurde von der namhaften Autorin Mary Bosanquet geschrieben und findet jetzt schon starke Beachtung.
Der Bremer Generalintendant Kurt Hübner — Begründer des „Bremer Stils“ — bleibt in Bremen. In einem Brief an Bildungssenator Moritz Thape hat der 52 Jahre alte Theatermann die ihm vom Aufsichtsrat der Theater-GmbH angebotene Vertragsverlängerung um drei Jahre angenommen. Sein bisheriger Vertrag galt bis 1970. Hübner war im Sommer 1962 nach Bremen gekommen.
Blasse Elisabeth Flickenschildt
„Celestina“ in der Inszenierung von Franz Peter Wirth in Frankfurt