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Nr. 295

Gegründet 1827

Montag, don 16. Dezember 1929

Fernsprecher Nr. 29

19S. )ahrgantz

Die Regierung besitzt das Vertrauen

Die Parieierklärungen keine gemeinsame Erklärung

Berlin, 14. Dezember.

Zu Beginn der gestrigen Sitzung stellte Präsident Löbe unter großer Heiterkeit des Hauses fest, daß sich noch keim Partei zum Wort gemeldet habe. Die Parteien waren durch die Ereignisse so in Anspruch genommen, daß sie noch keine Zeit gefunden hatten, ihre Redner zu benennen. Außer der gewöhnlichen Reihenfolge meldet sich Abg. Neubauer (Komm.) zum Wort. Er erklärt, die Kommunisten lehnen den Uoung-Plan ab, weil er einen Markstein bilde in dem internationalen kapitalistischen Zusammenschluß gegen Sowjetrußland.

Abg. Etraßer (Nat.-Soz.): Die Erklärung des Reichs­kanzlers sei die glatte Konkurserklärung des Deut­schen Reichs. Sch a cht sei der Diktator des Reichstags und die Regierung eine Gesellschaft von Volksverräter n- (Ordnungsruf.)

Abg. Dr. Brüning erklärt namens des Zentrums, eine großzügige Reform des Steuersystems sei notwendig. Die gegenwärtige Krise gebe einen Vorgeschmack, was eine Daweskrise im Sinn Hugenbergs bedeuten würde. Der Kassenabmangel des Reichs müsse sofort beseitigt werden. Die Zentrumsfraktion habe alles getan, damit sich die Re­gierungsparteien gemäß der Aufforderung des Reichskanz­lers geschlossen auf den Boden des Finanzprogramms stellen sollten, obgleich auch das Zentrum in Einzelheiten starke Bedenken habe. Das Zentrum werde die Reichs­regierung in ihrem Willen, das Programm durchzufüh­ren, unterstützen und es hofft, daß die übrigen Regierungs­parteien dasselbe tun.

Von der deutschnationalen Fraktion sind inzwischen Mißtrauensanträge gegen die Reichsminister Curtius und Hilferding eingebracht worden.

Abg. Dr. Oberfohren (deutschnat.): Wir stellen fest, daß bei dieser wichtigen Beratung die Regierung abwesendist und daß die größte Regierungspartei (Soz.) keinen Rednervorschickt. Angesichts dieses völligen Durch­einanders beantragen wir den Abbruch der Ver­handlungen. Der Antrag wird abgelehnt.

Abg. Dr. Ouaatz (deutschnat.): Die jetzige katastrophale Lage beweise die Unzulänglichkeit des Systems und der lei­tenden Personen dieser Regierung. Noch vor einem Jahr habe Hilferding jeden, der von Staatsbankerott spricht, als wirtschaftlichen Landesverräter" bezeichnet. Es handle sich nicht nur um ein Kassendefizit, sondern um ein organi­sches Defizit. Die Schätzungen des Reichskanzlers seien noch zu optimistisch, wie auch Dr. Schacht erklärte. Die Steuererträge seien im Rückgang. Die Regierung verleugne ihren eigenen Sachverständigen Dr. S ch a ch t, der ein euro­päisches Ansehen genieße, dessen sich nicht viele Reichs­minister erfreuen können. Von Dr. Schacht hänge es ab. ob die Regierung am 1. Januar die Gehälter und den Arbeitern die Löhne zahlen kann. Bei den Pariser Ver­handlungen habe Reichskanzler Müller an Dr. Schacht geschrieben, es müsse angenommen werden, auch wenn sich daraus Schädigungen der deutschen Wirtschaft ergeben. Dr. Breitscheid sei gleichzeitig Schacht durch einen Artikel in den Rücken gefallen. Millionen sind von dem früheren Wirtschafts­minister, dem jetzigen Außenminister Dr. Curtius, an England und Belgien ausgeliefert worden. Curtius hofft auch, die Freundschaft Polens zu er­reichen durch das Abkommen, das sorgfältig geheim gehalten wird.Was Sie, Herr Dr. Curtius, aus Liebe für Polen an dem deutschen Osten gesündigt haben, das werden noch später Geschlechter empfinden!" (Präsident Löbe erteilt Dr. Ouaatz einen Ordnungsruf.) Stresemanns Freund, der englische Botschafter d'Abernon, hat von einem System der Haltlosigkeit und Schwäche in Deutschland gesprochen. Unter diesem System haben wir seit Jahren gelitten."

Abg. von Sybel (Chr.-Nat.) spricht der Regierung das Mißtrauen seiner Freunde aus. Der Redner greift besonders die polnischen Verträge an.

Abg. Dr. Hoff (DVP.) verliest eine Erklärung seiner Fraktion, di« begrüßt, daß die Regierung jetzt den Entschluß bekunde, eine durchgreifende Finanzreform durchzuführen. Die Erklärung schließt mit dem Satz: Wir sind bereit, das Programm der Reichsregierung zur Durchführung a l s Ganzes anzunehmen, unter der Voraussetzung, daß die übrigen Regierungsparteien die gleiche Bereitschaft be­kunden.

Abg. Dr. Reinhold (Dem.): Das Programm der Regierung bedeute, daß die Regierung in dieser Schicksals­frage die Führung übernehme. Die Demokraten seien be­reit, sich hinter dieses Programm zu stellen und auch das Sofort-Programm durchzuführen.

Abg. Dr. Breitscheid (Soz): Es sei unerträglich, wenn der Reichsbankpräsident den Eindruck zu erwecken

I jucye, als könne er die Richtlinien der Politik'bestimmen.

! Die Sozialdemokratische Partei habe zur Regierung das l Vertrauen, daß sie die Haager Verhandlungen zu Ende führen werde. Die Sozialdemokratie sei bereit, an einer Finanzreform mitzuwirken. Wenn sie zu den Grundzügen j der Finanzreform nicht abschließend Stellung ^ nehme, so vor allem deswegen, weil die ungünstige Ent- i Wicklung der Finanzverhältnisse des Reiches es fraglich er- ! scheinen lasse, ob die Voraussetzungen für eine so umfang- ! reiche Steuersenkung gegeben seien, j Abg. Leicht (Bay.VP.): Die Bayerische Volkspariei s begrüße es, daß die Regierung an einer Gesundung der < Finanzen arbeiten wolle. Sie sei auch bereit, sich für das ! sogenannte Sofortprogramm einzusetzen. Das Gesamtpro- - gramm könne sie nicht annehmen, j Abg. v. Lindeiner-Wildau (Dt. Arbeitsgemein- ! schajt) begrüßt das Vorgehen des Reichsbankpräsidenten.'

i Die Denkschrift Schachts könne nur den Sinn haben, diel

> veränderten Grundlagen seit Paris festzu- zustellen und daraus den Anspruch der Revision des

! Young-Plans herzuleiten. Die Arbeitsgemeinschaft versage der Regierung das Vertrauen, weil sie nicht glaube, daß die heutigen Jnhabe-- der Regierungsgewatt die notwendigen Forderungen für Staat und Wirtschaft erfüllen, j Reichskanzler Müller: In seinem Brief an Dr. Schacht ! nach Paris habe er geschrieben:Die Reichsregierung hat ! unter Beteiligung sämtlicher Kabinettsmitglieder von dem f neuen Vorschlag des Vorsitzenden der Pariser Konferenz (der f Deutschland eine Reihe neuer Lasten auferlegte) Kennt-- j nis genommen und ist zu der Ueberzeugung gelangt, daß j seine Ablehnung das Scheitern der Konferenz zur Folge j hätte. Die Reichsregierung sieht darin

> schwere wirtschaftliche und politische Ge- ! fahren und glaubt deshalb einstimmig, daß i die Annahme des Aoung-Vorschlags unver- i meid bar geworden ist." Dieser Brief, fährt der ! Reichskanzler fort, habe die Handlungsfreiheit der deutschen ! Sachverständigen in keiner Weise beschränkt. (Starker Wider- ! spruch rechts.) Die Regierung stehe auf dem Standpunkt,

! daß die Verhandlungen im Haag im Sinn Stresemanns ^ weitergeführt werden müssen. Die Deutschnationalen hätten ' wiederholt die Politik Stresemanns gebilligt.

Der Vertrauensantrag

Die Samstag-Sitzung wurde um 11 Uhr eröffnet.

Abg. Dr. Oberfohren (Dntl.): Die gestrigen Er­klärungen mehrerer Regierungsparteien bedeuten eine glatte ! Ablehnung des Finanzprogramms. Darin liege ein Mih - ! trauen, wie es stärker sachlich nicht zum Ausdruck ge- s bracht werdeu könne. Insbesondere habe die größte Regie- i rungspartei, die Sozialdemokratie, offene Revolte an- ! gekündigt. Praktisch sei der Zusammenbruch des Kabi- ! netts Müller da. Selbst wenn jetzt ein kümmerlicher Aus- ! weg gefunden werde, sei das Kabinett moralisch erledigt.

! Dieoffene Feldschlacht", in der die Regierung siegen wollte,

! sei von der Regierung verloren worden. Der einzige Fi- ! nanzminister, der eine vorsorgliche Finanzgebarung ! übte, war der deutschnationale Minister von Schlieben. s Der von ihm angehäufte Schatz ist von seinen Nach- i folgern vertan worden, vor allem durch den demokrati- ! scheu Minister Reinhold. Wir haben jetzt keine Staats- j führung, sondern eine Methode, die das Volk mit verbunde­nen Augen in den Abgrund führt. Wir haben einen un­ehrlichen Etat. Von einer umfassenden Finanz- und ! Steuerreform ist keine Rede. Die deutschnationale Reichs- ! tagsfraktion lehne die Verantwortung für jede Neu- belastung der deutschen Wirtschaft ab. Wenn , diese Regierung die Vollmacht für die Haager Kon­ferenz erhalte, so wäre das ein Verrat nationaler Inter­essen, für den das Volk die Quittung geben werde. (Beifall rechts, lachen links).

Abg. Drewitz (Wirtschaftsp.) gab seiner Verwunderung Ausdruck, daß die jetzige Regierung den Mut habe, noch Vertrauen von den Parteien zu fordern. Eine Voraus­setzung für Steuersenkungen sei allein die Herabsetzung derAusgaben für Reich, Länder und Gemeinden. Bis- her merke man davon aber noch nicht viel. Die ungedeckten Mehrausgaben für Beamte und Abgeordnete haben in den letzten 2 Jahren zu dem Kassendefizit von 1700 Millionen geführt. Der eigentliche Verantwortliche sei der Staats- serketär Popitz.

Abg. Dr. Best (Volksrechtsp.) lehnte das Regierungs­programm ab.

Inzwischen war von der neuen Fraktion der Christlich- Nationalen Arbeitsgemeinschaft ein Mißtrauens- ! antrag gegen die Reichsregierung eingegangen.

Abg. Torgler (Komm.) warf den Sozialdemokraten j Schaumschlägerei vor.

' Der Vertrauensantrag hat folgenden Wortlaut:

! .Der Reichstag billigt die vorgestrige Erklärung der t Reichsregierung und vertraut darauf, daß das Finanz­reformprogramm der Regierung vorbehaltlich der endgül­

tigen Gestaltung der Gesetze im einzelnen in Wahrungcher von der Regierung bekanntgegebenen Grundzüge durch­geführt wird. Der Reichstag spricht der Reichsregierung für ihre Gesamtpolitik das Vertrauen aus."

Reichsfinanzminister Hilferding:

Er sei einigermaßen erstaunt, daß der Kassenfehlbetrag von 1700 Millionen alsU e b e r r a sch u n g" bezeichnst worden sei. Als die jetzige Regierung ihr Amt antrat, habe sie ein Kassendefizit von mehr als einer Milliarde über­nehmen müssen. In den Jahren 1926 und 1927 seien (unter Reinhold) alle früheren Ersparungen (Schliebens) aufgezehrt worden. Wenn die Zündholzanleihe eingegangen sein werde, werde der Kassenfehlbetrag am 1. April noch 900 Millionen ausmachen, denen 400 Millionen an Deckungsmitteln gegenüberstehen. Um den Fehlbetrag zu beseitigen, brauche man die schleunige Durchführung der Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung. Von einer katastrophalen Finanzlage Deutschlands könne man nicht sprechen. Er habe für den letzten Etat Steuererhöhun- gen vorgeschlagen, der Reichstag sei dagegen gewesen; er babe die Einnahmen zu hoch, die Ausgaben zu nieder an­gesetzt.

Damals hätte er (Hilferding) allerdings zurücktre­ten müssen. Bei der Aufstellung des nächsten Plans müsse man mit aller Sparsamkeit und Sorgfalt Vorgehen. Die Steuersenkung werde auch eine Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung ermöglichen. Die Beseitigung der in der Kommunalverwaltung vorhandenen Schäden müsse im Einverständnis mit den Kommunen möglich sein. Die Finanzen der Länder und des Reichs werden von un­abhängigen Instanzen geprüft. Das müffe sich auch für die Städte erreichen lassen. Das Programm sei wirtschaftlich und finanziell lragbar.

Der Reichstag unterbrach seine Sitzung bis 3 Uhr.

Vollkommene Einigung

Zwischen 1 und 2 Uhr nachmittags am SamS- tag haben Reichsregierung -und Fraktion s- führ er noch einmal eine Besprechung abgehalten. Di« Sozialdemokraten hatten die Forderung der Deutschen Volks­partei auf Einbeziehung der Senkung der Einkom­mensteuer in das Sofortprogramm abgelehnt, und das Zentrum hatte die Frage aufgeworfen, ob es tragbar sei, daß eine Anzahl Abgeordnete der Deutschen Volkspartei sind dann in der letzten Besprechung mit den Fraktionsführern aus der Welt geschafft worden.

Die Deutsche Volkspartei hatte in der Mittagspause den Rückzugsantrag eingebracht, daß mit dem Sofortpro­gramm wenigstens die Senkung der Einkommen­steuer in Form eines Initiativ-Antrags der Parteien ver­bunden werde. Zentrum und Sozialdemokraten lehnten den Vorschlag aber unbedingt ab. Die Beitragserhöhung ur Arbeitslosenversicherung, die ursprünglich is zum Jahr 1931 geplant war, soll vorläufig bis 1. April 1930 begrenzt werden.

Die Vertrauenserklärung angenommen

Bei der Abstimmung wurde der Vertrauens­antrag der Reichsregierung mit 222 gegen 15L Stimme« bei 22 Enthaltungen der Bayerischen Volksparkei ange­nommen. Dafür stimmten die Sozialdemokraten, Demo­kraten. das Zentrum und der größte Teil der Deutsche« Volkspartei.

Für und gegen die Vertrauenserklärung

' Berlin, 15. Dez. Für die Vertrauenserklärung haben im Reichstag geschloffen gestimmt die Sozialdemokraten, das Zentrum und die Demokraten, sowie von der Deutschen Dolkspartei 24 Mitglieder.

Dagegen haben geschloffen gestimmt die Deukschnationa- len, die Kommunisten, die Wirlschaftspartei, die Deutsch- nalionake Arbeitsgemeinschaft, die Christliche Bauernpartei, die Nationalsozialisten, von der Deutschen Volkspartei 14 Mitglieder, von den vier Mitgliedern der Deutsch-Hanno­veraner drei, ferner die beiden Mitglieder der Voksrechts- partei Best und Lobe, hie keiner Partei ungehörigen Ab­geordneten Brun und Frölich.

Der Stimme enthielten sich 22 Abgeordnete, nämlich die anwesenden 12 Mitglieder der Bayerischen Volkspartei, drei Mitglieder der (Deutschen Volkspartei, sechs Mitglieder der Deuschen Bauernpartei und der Deutsch-Hannoveraner A l p e r s.

Da über den Vertrauensantrag zuerst abgestimmt wurde, entfielen die Abstimmungen über die verschiedenen Miß- trauensanträge.

Die Formel des Vertrauensantrags ist dehnbar und entspricht nicht den Wünschen, die an eine wirkliche Lasten- senkung und Finanzreform zu stellen sind. Es kommt nun